Szene aus „Atlantique“
© Les Films du Bal
„Atlantique“

Eine Geistergeschichte aus dem Meer

Von der Liebe, vom Meer und vom Tod: Mati Diops kühnes Debüt „Atlantique“ verbindet Sozialdrama, Krimi und Geisterfilm zu einer übernatürlichen Erzählung über die raue Wirklichkeit Jugendlicher im Senegal. Im Gespräch mit ORF.at erklärt die Regisseurin, warum sie den Film genau so erzählen musste. In Cannes wurde sie dafür mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet.

Ada liebt Souleiman, Souleiman liebt Ada. Adas Familie will aber, dass sie den wohlhabenden Omar heiratet, schon demnächst. Souleiman ist nicht gut genug, denn er hat kein Geld – und da der Bauherr jenes Wolkenkratzers, auf dessen Baustelle Souleiman seit Monaten schuftet, alle Bauarbeiter kurzerhand um ihren Lohn betrogen hat, wird sich das in naher Zukunft auch nicht ändern.

Eigentlich kann diese Beziehung nur an die Wand fahren, aber die Liebe glaubt halt manchmal, dass sie gescheiter ist als alle Wahrscheinlichkeiten. Adas Hochzeit mit Omar steht bevor, ein letztes Mal geht sie in die Bar, wo sich immer alle getroffen haben, wo getanzt wurde, wo es so war, als gäbe es kein Morgen, keine betrügerischen Bauherren und als wären Klassenunterschiede egal. Doch an diesem Abend taucht Souleiman nicht auf, und auch die anderen Burschen sind verschollen. Die Bar bleibt leer.

Keine Nachricht von den Abgereisten

Irgendwer erzählt, die Freunde hätten einen aberwitzigen Plan geschmiedet: Sie hätten sich mit dem Boot auf die Fahrt nach Spanien gewagt. Die Verzweiflung war so groß, dass diese selbstmörderische Reise als einziger Ausweg schien. In Dakar wissen alle: Wer auf diese Reise geht, muss sich nach spätestens drei Tagen melden. Sonst ist etwas passiert.

Filmhinweis

„Atlantique" wird auf der Viennale am 5.11. um 20.30 Uhr im Gartenbaukino und am 6.11. im Stadtkino im Künstlerhaus gezeigt, in Anwesenheit von Regisseurin Mati Diop.

Der Film wird ab 29.11. auf Netflix gestreamt.

Die Tage verstreichen jedoch ohne Nachricht, und Ada, die Verlassene, muss sich ihrer Hochzeit stellen. Während sie weinend die Feierlichkeiten über sich ergehen lässt, und ihre Freundinnen ihr pragmatisch gut zureden, fängt plötzlich das neue Ehebett Feuer. Jemand, der gegen diese Heirat etwas einzuwenden hat, muss das Feuer gelegt haben. Das Gerücht kommt auf, Souleiman sei wieder in der Stadt. Das kann doch nicht stimmen? Ein junger Inspektor kommt und beginnt Ermittlungen wegen Brandstiftung, hat aber auf einmal seltsame Bewusstseinsausfälle. Die Wirklichkeit gerät allmählich aus den Fugen.

Geistergeschichte oder Sozialdrama

Wie Kino die Welt widerspiegelt, kann ganz unterschiedlich aussehen. Im Fall des Debüts der senegalesisch-französischen Regisseurin Diop wandelt sich das innerhalb des Filmes immer wieder: „Atlantique“ beginnt als sozialrealistisches Drama über Jugendliche in Dakar, die sich unter wirtschaftlich tristen Umständen verlieben. Doch als eine Gruppe von Burschen beschließt, ihr Glück per Boot in Spanien zu suchen, und vom Atlantik verschlungen wird, wird der Film zum Krimi, schließlich zum kraftvollen Geisterfilm, in dem die Liebe eine ganz andere Form annehmen muss, um weiterexistieren zu können.

Szene aus „Atlantique“
© Les Films du Bal
Laiendarstellerin Mame Bineta Sane spielt Ada mit stiller Wehmut

„Ich habe von dieser Tragödie nicht anders erzählen können“, sagt Diop, die die Verzweiflung der verlorenen Generation in Dakar miterlebt hat: „Diese jungen Burschen haben daheim so wenig Hoffnung, dass es schon vor ihrer Abreise ist, als wären sie Geister.“ Diop, die Nichte des senegalesischen Regisseurs Djibril Diop-Mambéty („Touki Bouki“), ist in Frankreich aufgewachsen, über ihren Onkel drehte sie auch ihr Kurzfilmdebüt „Mille Soleils“, als Schauspielerin ist sie unter anderem in Claire Denis’ „35 Rum“ zu sehen.

Kollektiver Selbstmord

In ihrer Kindheit hatte sie viel Zeit in Dakar verbracht, 2009 kehrte sie als Filmemacherin wieder zurück – mitten in eine Krise: „In diesem Jahr sind viele junge Burschen aus wirtschaftlicher Aussichtslosigkeit aus dem Land geflüchtet und versuchten, das Meer zu überqueren, um sich in Spanien eine Zukunft aufzubauen. Das Meer war also im Wortsinn der Ort, wo diese jungen Leute verschwunden sind – auch wenn sie es geschafft haben, ihr Ziel Spanien zu erreichen“, beschreibt Diop gegenüber ORF.at die metaphorische Bedeutung des Atlantiks in ihrem Film

„Das Meer wurde zu einer Projektionsfläche für Zukünftiges, für Mögliches, aber auch eine Macht, die die Jugendlichen geisterhaft verschluckt.“ Es sei ihr unmöglich, dieses Meer anzuschauen, ohne an die jungen Männer zu denken, die beim Versuch einer Überquerung ertrunken sind, sagt Diop: „Mir steht völlig das Hirn, wenn ich mir vorstelle, mich tatsächlich dem Meer entgegenzustellen. Das sagt viel über die Realität aus, der diese jungen Männer zu entkommen versuchen.“ Selbstmord sei im Senegal tabu, wie generell im Islam, „doch je mehr ich darüber nachdenke, habe ich den Eindruck: Was hier geschieht, ist kollektiver Selbstmord.“

Das Meer, ein Massengrab

Zugleich schwingt im Bild des Atlantiks als Menschengrab die Geschichte der Sklaverei mit, sagt Diop: „Es ist es kaum möglich, den Sklavenhandel nicht mitzudenken, auch die Kolonialisierung. Die Boote von der Küste Frankreichs kamen über genau dieselbe Route.“ Vor allem aber gehe es in „Atlantique“ über die zurückgelassene Geliebte: „Ich hatte da die Figuren von Odysseus und Penelope als Bezugspunkte im Kopf.“ Die Geschichte der Mädchen beginnt erst wirklich mit dem Verschwinden der Burschen: „Da entwickelt sich allmählich eine Freiheit – und die hat mich interessiert.“