Filmstill aus „Jetzt Oder Morgen“
© Viennale
„Jetzt oder Morgen“

Wiener „Reality-TV“ auf der Leinwand

Eine auf den ersten Blick unscheinbare, aber kostbare Perle bei dieser Viennale ist „Jetzt oder Morgen“ der jungen Regisseurin Lisa Weber, die den Alltag einer Familie im transdanubischen Wien zeigt. Die „bildungsfernen Schichten“, wer ist das? So machtvoll kann „Reality-TV“ (oder eben „Reality-Kino“) sein – und so wertschätzend.

Weber, geboren 1990, ist eine Dokumentaristin des Alltags. Schon früh hat sie mit ihren Filmen an Festivals teilgenommen. „Jetzt oder Morgen“ wurde bei der Berlinale im Programm „Panorama“ gezeigt, bei den Vienna Shorts hatte sie für eine Kurzdoku bereits zuvor einen Preis erhalten.

Man kennt das: „Frauentausch“, „Super Nanny“ oder „Teenager werden Mütter“. Menschen aus oft prekären Lebensverhältnissen werden in ihrem vermeintlichen Alltag dargestellt. Die TV-Regie skriptet Eskalationen. Alles muss zugespitzt werden. Viele Menschen kennen solche Milieus nur aus diesem Blickwinkel – oder aus dem nicht minder realitätsfernen Politsprech über „Modernisierungsverlierer“, „bildungsferne Schichten“ oder ganz einfach „Milieus, die den Anschluss an die Gesellschaft verloren haben“.

Namen statt Schlagworte

Weber füllt mit „Jetzt oder morgen“ genau diese Lücke. Sie verfolgt das Leben von Claudia, die mit 15 Jahren Mutter wurde, rund ein, zwei Jahre mit der Kamera. Die Regisseurin war es bereits oder ist es geworden: eine Freundin, zumindest eine Vertrauensperson. Nur so kann es gelingen, dass Claudia, ihre Mutter, ihr Bruder, ihr Ex, ihr neuer Freund und auch Sohn Daniel sich vor der Kamera nicht produzieren, sondern sie vergessen. Es war offenbar „eh okay“, dass die Kamera dabei war, es war ja nur Lisa, die gehörte schon dazu wie das Mobiliar.

Schlagworte werden plötzlich greif- und fühlbar: Teenager-Schwangerschaften. Mindestsicherung. Langzeitarbeitslosigkeit. Jugendarbeitslosigkeit. Kinderarmut. Vorstadt-Tristesse. Sie werden der Distanz entrissen, die man als Medienkonsument automatisch zu den Protagonistinnen und Protagonisten der Berichterstattung einnimmt. Hier sind sie nicht mehr „die anderen“. Hier bekommen sie Namen.

Film ohne Message

Dieser Film ist Anti-TV. Seine Sensation entsteht durch die Sensationslosigkeit, ganz ohne geskriptete Höhepunkte. Klischees werden bestätigt: Ständiges Tschicken, Schulden durch Konsum, Kiffen untertags, Ausreden, warum es mit dem eigenen Leben eh nichts werden kann und warum man deshalb in der Opferrolle verharrt und nicht weitertut; den ganzen Tag Computerspielen. Aber auch: Diskussionen über Migration, die nicht eindimensional verläuft; die Sorge umeinander innerhalb der Familie; Momente der Nähe; und ganz viel ehrliche, unkomplizierte Liebe der Mutter für den Sohn. Eine eindeutige Message gibt es hier nicht.

Filmstill aus „Jetzt oder Morgen“
© Viennale
Claudia und Daniel. Sie sind ein gutes Team, trotz allem.

Experiment geglückt

Und das ist das Schöne, denn genau das wird hier zu einem entscheidenden Statement: Es sind Menschen, über die wir hier alle reden, die wir aber nicht kennen. Es ist kein entmenschlichtes „FPÖ-Subproletariat“. Dass die Regisseurin mitunter hinter der Kamera hervortritt und ihre Rolle offenlegt, indem sie die junge Mutter tröstet, ist wichtig. So wird der Vorführeffekt weiter entkräftet.

In solchen kleinen Vorstadt-Neubauwohnungen zu drehen ist eine Herausforderung an sich, die gut gelingt. Und langweilig wird der Film trotz längerer, ruhigerer Einstellungen nie. Im Schnitt wurde der richtige Rhythmus gefunden. „Jetzt oder Morgen“ ist ein filmisches Experiment, in dem viel Arbeit steckt. Die hat sich ausgezahlt. Das Experiment ist geglückt.