*** Local Caption *** Miss Marx, Susanna Nicchiarelli, Italien/Belgien, 2020, V’20, Spielfilme
Viennale/Emanuela Scarpa
Eleanor Marx

Die Bürde einer radikalen Tochter

Wenn das Ideal der Wirklichkeit nicht standhält, ist es dann weniger wert? Der Viennale-Eröffnungsfilm „Miss Marx“ stellt die Frage am Beispiel des Lebens der Sozialistin Eleanor Marx – der Tochter des Urvaters der Kommunisten, deren Leben voller Widersprüche steckte.

Eine Tochter steht am Grab ihres Vaters und schildert die Liebe ihrer Eltern, die Innigkeit und Treue, neben der alles andere zweitrangig schien – ein Ideal von Partnerschaft und Zugewandtheit: So beginnt „Miss Marx“ von Susanna Nicchiarelli, mit dem die diesjährige Viennale startet. Zum zweiten Mal hat Festivalchefin Eva Sangiorgi den Film einer italienischen Regisseurin gewählt, nach Alice Rohrwachers kommunistischer Heiligenlegende „Lazzaro Felice“ im Jahr 2018 – doch damit sind die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Eröffnungsfilmen auch schon wieder vorbei.

„Miss Marx“ ist das Porträt einer tragischen Figur: Eleanor Marx (gespielt von Romola Garai), die jüngste Tochter von Karl Marx, erinnert am Filmanfang sich und die Trauergemeinde an die Ehe der Eltern, die alles teilten – Exil, den Verlust von Kindern, Hunger, Armut, Anfeindungen, vor allem aber Liebe, Familienglück und Erfolg. Es ist ein schwermütiger Beginn, denn mit einer so idealen Beziehung kann die bemühteste Tochter nicht mithalten.

Die perfekte Welle

Doch Obacht, so signalisiert die Musik der jungen amerikanischen Punkband Downtown Boys, die programmatisch singen: „Riding in on a wave … a wave of history“: Das hier ist kein Kostümdrama-Biopic wie jedes andere, das hier ist wild – oder, wie Nicchiarelli gegenüber ORF.at sagt: „Natürlich ist Punkmusik irritierend und vielleicht mühsam anzuhören, aber ich wollte dieses Irritationsmoment auf der Leinwand.“

Die Welle der Geschichte, auf der „Miss Marx reitet“, brandet nur kurz wild auf, um dann vorerst zahm zu werden: Eleanor versucht, als Sozialistin im Einklang mit der Partei die Ideen ihres Vaters umzusetzen. Sie engagiert sich gegen Kinderarbeit, sie fährt in die USA, um dort das Elend in den Fabriken und die Bedürfnisse der Arbeiterschaft zu dokumentieren, und sie ist später die Erste, die sozialistische und feministische Ideen in Zusammenhang setzt.

 *** Local Caption *** Miss Marx, Susanna Nicchiarelli, Italien/Belgien, 2020, V’20, Spielfilme
Viennale/Emanuela Scarpa
Eleanor (Romola Garai) versucht, die Ideen ihres Vaters umzusetzen

Doch beim Begräbnis ihres Vaters ist ihr der Schriftsteller Edward Aveling (Patrick Kennedy) begegnet, in dem sie ein beglückendes intellektuelles, politisches und romantisches Gegenüber zu erkennen meint. Damit beginnt die eigentliche Tragödie ihres Lebens.

Die Ironie der Wirklichkeit

„Miss Marx“ ist der zweite Film, in dem Nicchiarelli englischsprachigen historischen Stoff verarbeitet, nach „Nico, 1988“ vor drei Jahren: dort das deutsche Model, das seine Vergangenheit mit Velvet Underground hinter sich lassen und als eigenständige Sängerin wahrgenommen werden will, hier die Tochter eines übermächtigen Vaters, die darunter jedoch nicht leidet, so Nicchiarelli, „im Gegenteil, es war immer sie, die ihren Vater und seine Bücher ins Gespräch brachte. Sie hatte damit kein Problem, weil sie eine sehr starke Frau war und ihr Leben und ihre Politik unter Kontrolle hatte.“

Filmhinweis

„Miss Marx“ eröffnet die Viennale am 22. Oktober um 20.00 Uhr im Gartenbaukino, um 20.30 Uhr im Stadtkino im Künstlerhaus sowie parallel in der Urania um 20.30 Uhr, im Metro (Historischer Saal), im Filmcasino, im Votiv, im Le Studio, im Blickle Kino und im Admiralkino, um 23.00 Uhr im Filmmuseum und wird dann noch am 24. Oktober um 11.00 Uhr im Gartenbaukino gezeigt.

Miss Marx (Viennale)

Wenn es eine Parallele zwischen den beiden Protagonistinnen gebe, sei es eher „die Ironie, wie sehr beide historische Figuren Erwartungen unterlaufen“, so Nicchiarelli. „Nico war berühmt für ihre Schönheit und ihre Liebesgeschichten, und es ist für viele überraschend, dass sie überhaupt einen sehr starken Charakter hatte, den kannte niemand. Eleanor wiederum war bekannt für ihren starken Charakter, und es ist eine Überraschung, dass sie eine so fragile emotionale Seite hatte.“

Sangiorgi erläutert ihre Entscheidung für diesen Eröffnungsfilm gegenüber ORF.at so: „Ich interessiere mich für Porträts starker politischer Charaktere besonders dann, wenn ihre Komplexitäten, Kämpfe und vielen verschiedenen Seiten offenbar werden. Nicchiarelli gelingt es, nicht nur die Kraft, sondern auch die Zerbrechlichkeit ihrer Hauptfigur einzufangen, und holt sie mit gewagten musikalischen und filmischen Elementen in die Gegenwart.“

Nichts Menschliches ist fremd

Diese Gleichzeitigkeit macht die enorme Spannung von „Miss Marx“ aus, viel mehr noch als die stilistischen Brüche auf der Tonspur, wo die italienische Post-Rock-Band „Gatto Ciliegia contro il Grande Freddo“ Chopin und Liszt neu arrangiert hat: Die Geschichte der Eleanor Marx ist die einer Frau, die mit ihrer Überzeugungskraft und ihrem Intellekt viele im politischen Kampf mitreißen kann. Doch mit welcher Sturheit sie sich dann in eine destruktive Liebe zu einem Mann stürzt, der sie wieder und wieder hintergeht, ist schwer zu ertragen.

Genau das ist der komplizierte Kern des Films – wie wenig das Leben mit dem übereinstimmt, was von Heldinnen zu erwarten ist: „Wir haben hier eine Geschichte verfilmt, die niemand von uns je so schreiben würde. Natürlich sagt jeder: ‚Aber warum verlässt sie ihn nicht?‘ Weil das Leben eben so ist! Leute verlassen die Menschen nicht, die ihr Leben ruinieren, sie bleiben bei ihnen“, so Nicchiarelli. Und weil das Leben eben so ist, muss auch Eleanor Marx feststellen, dass die idealisierte Liebe ihrer Eltern nicht ganz so makellos war, wie sie selbst immer dachte.

„Miss Marx“ handelt vom Konflikt zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, und davon, wie eben doch beides nebeneinander existieren kann, das idealisierte Politische und das komplizierte Intime – und dass die Abweichung vom angestrebten Ideal das Menschsein ausmacht. Genau das ist es dann wohl, was Eleanor tatsächlich in die Gegenwart holt: der Anspruch, den eigenen politischen ebenso wie den romantischen Vorstellungen gleichermaßen gerecht zu werden – und die viel zu späte Erkenntnis, dass das noch niemandem je gelungen ist.