Jasna Duricic als Aida
Viennale
„Quo vadis, Aida?“

Srebrenica-Zeugin ohne jede Macht

„Quo Vadis, Aida?“ handelt von einem existenziellen Moment in der europäischen Geschichte: Mit den Werkzeugen des Spannungskinos schildert Jasmila Zbanic die Ereignisse rund um den Genozid von Srebrenica – aus der Sicht einer bosnischen Übersetzerin, die innerhalb der UNO-Schutzzone arbeitet.

Was würde man selbst tun? Das ist es, was Erzählkino kann: Empathie erzeugen. Was würde man tun, wenn die eigene Familie in unmittelbarer tödlicher Gefahr wäre? Wenn niemand um einen bzw. eine herum die Dringlichkeit erfassen will, mit der es um Leben und Tod geht? Wenn man sich fühlt, als würde man gegen Wände schreien? Würde man die Hoffnung aufgeben? Würde man verzweifeln?

Aida (gespielt von Jasna Djuricic), eigentlich Lehrerin in Srebrenica, arbeitet in der UNO-Schutzzone als Übersetzerin. Das Lager ist voll, die hygienischen Zustände untragbar, und der Druck wächst: Zehntausende Menschen haben sich vor der Schutzzone versammelt in der Hoffnung auf Aufnahme, die Verzweiflung ist groß. Unter denen draußen, jenseits des Zaunes, sind auch Aidas Söhne und ihr Mann.

So beginnt „Quo vadis, Aida?“, der jüngste Film von Jasmila Zbanic: Aida soll die irrealen Anweisungen der Blauhelme an ihre eigenen Leute übersetzen, sie ist Zeugin ohne jede Macht, wenn auch mit Privilegien. Es ist der Juli 1995, die Tage sind heiß, die bosnischen Serben werden immer aggressiver, verlangen, schwer bewaffnet ins Lager zu dürfen, um die Menschen zu kontrollieren. Als frühere Lehrerin wird Aida von ehemaligen Schülern auch unter den Soldaten wiedererkannt, was die Absurdität dieses Konflikts zwischen Nachbarn verdeutlicht.

Unausweichliches Entsetzen

Zbanic inszeniert diese Situation nicht als Drama, vielmehr als hochintelligenten Thriller, der durch die Perspektive der Übersetzerin große Klarheit erlangt. In dieser Funktion bekommt Aida auch die Verhandlungen mit Oberbefehlshaber Ratko Mladic mit, sie weiß, dass sich die Lage seit Wochen zuspitzt und ahnt, dass die Armee zu allem imstande ist.

Szene aus „Quo vadis, Aida?“
Viennale
Trügerische Sicherheit: Wer es ins UNO-Lager geschafft hat, glaubt sich sicher – doch dann kommt der Abtransport

Doch falls auch die Vereinten Nationen es wissen, geben sie es nicht zu: Der Film erzählt mit mörderischer Konsequenz die Tage vor dem Massaker von Srebrenica nach, bei dem 8.000 Buben und Männer ermordet wurden, die fatale Mischung aus Zögerlichkeit und Ignoranz aufseiten der Blauhelme, die perfide Treibjagd der bosnischen Serben auf ihre muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, und die Verzweiflung dieser einen Übersetzerin, die alles mitbekommt und nichts tun kann.

Das Drehbuch beruht lose auf dem Buch „Unter der Flagge der Vereinten Nationen. Die Staatengemeinschaft und der Völkermord von Srebrenica“ von Hasan Nuhanovic, der seinerseits als Übersetzer in der Schutzzone gearbeitet hatte. Nuhanovic verlor seinen Vater und seinen Bruder bei dem Massaker, weil die beiden an Mladics Leute ausgeliefert wurden; er erstattete später wegen „Völkermord und Kriegsverbrechen“ Anzeige gegen Oberstleutnant Thomas Karremans, den Befehlshaber der Schutztruppe.

Hoffnung bis zuletzt

Zbanic hat sich als Hauptfigur für eine fiktive Übersetzerin entschieden, und konzentriert sich auf die zwei Tage vor dem 11. Juli, dem Tag des Massakers. „Srebrenica hatte auch schon eine sehr interessante Geschichte vor dem 11. Juli, im Belagerungszustand“, sagt sie gegenüber ORF.at. „Aber ich hab mich entschieden, nur von diesem Zeitpunkt zu erzählen und das Publikum Sekunde für Sekunde mitfiebern zu lassen. Ich will den Zuschauerinnen und Zuschauern helfen, an dieser Geschichte wirklich teilzunehmen.“

Doch die Frage bleibt: Warum waren Niederländer nicht imstande, ihre Schutzbefohlenen gegen die bosnisch-serbische Armee zu verteidigen? Zum einen, sagt Zbanic, seien sie überfordert gewesen: viel zu junge, unerfahrene Soldaten, monatelang abgeschnitten von der Versorgung etwa mit Treibstoff. „Und es fehlte auch sehr an Empathie. Ich habe das im Film nicht weiter verfolgt, weil die Erklärung in meinen Augen zu kurz greift, aber es gab viele Vorurteile gegenüber Muslimen unter den niederländischen Blauhelmen.“

So unvermeidlich der Ausgang des Films ist, lässt Zbanic Aida doch bis zuletzt kämpfen: „Im Gesicht von Johan Heldenbergh, der Karremans darstellt, ist etwas, das uns bis zuletzt hoffen lässt, dass er etwas tut, um das Entsetzliche aufzuhalten. Ich wollte diese Hoffnung aufrechterhalten.“ Diese Hoffnung, berichten Überlebende des Massakers, sei immer geblieben, „dass das doch nicht möglich ist, dass ich das doch nicht verdient habe, dass die das doch nicht tun können – bis zur allerletzten Sekunde. Ich wollte aus dramatischen Gründen genau diese Hoffnung im Film haben.“

Chronistin und Überlebende

Zbanic hofft, mit ihrem Film ein möglichst großes Publikum zu erreichen, denn die Realität des Genozids sei heute in Bosnien kaum noch ein Thema: In Schulen werde nichts über den Krieg gelehrt, und wenn, dann nur ideologisch gefärbt. „Es ist ein politisches Programm zu sagen, dass das nie passiert ist, genau wie nach dem Zweiten Weltkrieg, als vieles unter den Teppich gekehrt wurde – vorgeblich, damit eine bessere Zukunft möglich sei.“

Die Wunden von damals seien aber nicht verschwunden: „Für mich ist der einzige Weg zusammenzuleben, indem alle Massengräber geöffnet, alle Fakten richtiggestellt und Kriegsverbrecher dorthin geschickt werden, wo sie hingehören. Dann erst ist eine tragfähige gemeinsame Zukunft möglich.“

Szene aus „Quo Vadis, Aida?“
Viennale
Aida (Jasna Duricic) kann nur zusehen, wie die Blauhelme die Aggressoren gewähren lassen

Chronistin der Geschichte Bosniens

Zbanic, geboren 1974, überlebte den Krieg 1992 bis 1995 im belagerten Sarajewo. Mit ihrer Filmografie hat sie sich einen Ruf als Chronistin der jüngeren Geschichte Bosniens erarbeitet: Als junge Filmemacherin drehte sie Dokumentarfilme über die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen im Bosnien-Krieg, „Red Rubber Boots“ (2000) etwa begleitet eine Überlebende, die in Massengräbern nach den Überresten ihrer von der serbischen Armee entführten Kinder sucht.

2006 gewann Zbanic für „Grbavica – Esmas Geheimnis“ den Goldenen Bären in Berlin; ein zwölfjähriges Mädchen entdeckt da, dass ihr Vater kein verstorbener Kriegsheld ist, sondern sie bei einer Vergewaltigung in einem Gefangenenlager gezeugt wurde. „Quo Vadis, Aida?“ ist der vielleicht konventionellste ihrer Filme, dabei einer, der ganz grundlegende Dinge über die unerbittlichen Mechanismen von Entmenschlichung offenlegt – und damit weit über die Erinnerung an den 11. Juli 1995 hinausweist.