Gina Rodriguez (left) stars as „Melanie“ and Evan Rachel Wood (right) stars as „Old Dolio Dyne“ in director Miranda July’s KAJILLIONAIRE, a Focus Features release. Credit : Matt Kennedy / Focus Features
Matt Kennedy/Focus Features
„Kajillionaire“

Miranda Julys schräge Robin Hoods

Mit ihrem dritten Spielfilm „Kajillionaire“ gelingt dem US-amerikanischen Multitalent Miranda July ein Familienporträt, das auf seine Weise so drastisch ist wie „Parasite“ – weniger gewaltsam, aber ungleich tiefer ins Herz des kapitalistischen Traumes treffend. Robin Hoods gibt es da wie dort.

Es gibt Filme, die die Realität ein wenig verschieben. Vielleicht ein paar Millimeter nur, aber es ist genug, um irgendwann den Unterschied zwischen gefühlter Normalität und totaler Katastrophe auszumachen. „Kajillionaire“ von July ist so ein Film, eine vordergründig schrullige Komödie über eine Familie herzzerreißend unprofessioneller Trickbetrüger. Das klingt vor allem nett und lustig, handelt aber in Wahrheit von den ganz großen Dingen – und destabilisiert die Wahrnehmung mit profunder Wirkung.

„Parasite“, der Vorjahressieger bei den Oscars, war auch so ein Film, wo eine Familie sich nach und nach – mit kleinen, verlogenen Aktionen und minimalen, verzeihlichen Betrügereien – in das Leben einer anderen Familie hineindrängt. Bong Joon Hos Film bezog daraus zunächst Spannung, indem er die himmelschreiende Diskrepanz zwischen ordentlicher, privilegierter Familie und unordentlicher, armer Familie offenlegte. Und dann war da die Eskalation, mit Verletzten, Toten und Traumatisierten – aber irgendwie ging es danach dann doch weiter.

(L to R) Richard Jenkins as „Robert Dyne“, Debra Winger as „Theresa Dyne“ and Evan Rachel Wood as „Old Dolio Dyne“ in director Miranda July’s KAJILLIONAIRE, a Focus Features release.  Credit : Matt Kennedy / Focus Features
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Achtung, gleich geschieht hier ein Verbrechen! Robert (Richard Jenkins), Theresa (Debra Winger) und Old Dolio (Evan Rachel Wood) planen einen Coup.

Die beiden Filme sind weit voneinander entfernt verortet, und doch verwandt in ihrer abgründigen Kapitalismuskritik: July, die „Kajillionaire“ geschrieben und inszeniert hat, lebt und arbeitet in Los Angeles. Entsprechend sonnig ist ihr Film, obwohl das Surreale bei July immer um die nächste Ecke lauert – doch wo das etwa in ihrem Film „The Future“ (2011) oft allzu schrullig-herzig war, ist das diesmal so treffsicher, dass es ans Unheimliche grenzt.

Filmhinweis

„Kajillionaire“ läuft auf der Viennale noch am 29.10. um 18.00 Uhr im Filmcasino, am 31.10. um 23.00 Uhr im Gartenbaukino und am 1.11. um 16.00 Uhr in der Urania. Der Kinostart ist für 5.11. geplant.

Kajllionaire (Viennale)

Los Angeles hat nicht nur notorisch viel Sonne, sondern ist auch seismologisch gebeutelt, immer wieder erschüttert ein Erdbeben das magische System, das sich die Protagonistenfamilie zusammengezimmert hat. „Is it the big one?“, fragt dann Robert (Richard Jenkins) mit alarmiertem Blick, wenn es grollt, aber „the big one“ kommt erst, metaphorisch ebenso wie tektonisch. Danach wird es nicht einfach weitergehen, das ist Robert bewusst.

Sollbruchstelle Lieblosigkeit

Robert und Theresa (Debra Winger) Dyne und ihre erwachsene Tochter Old Dolio (Evan Rachel Wood) sind schon immer ein eingeschworenes Team gewesen. Bei Old Dolio war sogar ihr komischer Name ein Versuch, auf unlautere Weise an Geld zu kommen, wie sich spät im Film aufklärt. Aber immer bleibt es beim Versuch, die Dynes sind nämlich ziemliche Versager in ihrem Metier, dabei von einem merkwürdigen Optimismus angetrieben, der fast religiöses Sendungsbewusstsein hat. Zumindest für Robert und Theresa gilt das.

Old Dolio hingegen wirkt auf eine seltsame Weise gefühllos, als habe sie sich den unvermeidlichen Enttäuschungen des Lebens gegenüber zu panzern versucht. Bei all den raffinierten Plänen, etwa aus Postfächern anderer Leute Bestellungen zu klauen und die Beute zu Geld zu machen, haben Theresa und Robert nämlich irgendwie darauf vergessen, zu ihrer Tochter jemals lieb zu sein. Und ausgerechnet dieses Detail wird zur Sollbruchstelle des Trios.

Erdbeben im Herzen

Als die drei im Rahmen eines weiteren Betrugsversuchs auf einem Flug nach New York – es geht um die schwindelerregende Summe von 1.575 Dollar, der ganz große Coup – eine junge Frau kennenlernen, die die armseligen Überlebensversuche des Trios als abenteuerlich auffasst, geschieht dann tatsächlich die ganz große Erschütterung, wenn auch anders als befürchtet: Ausgerechnet die hübsche Melanie (Gina Rodriquez) ist „the big one“, wer hätte das gedacht. Für diese Erschütterung braucht es keine Messer und keine zerschmetterten Hinterköpfe, keine Kellerstiege und keinen bösen Plan. Es reicht, einander in die Augen zu schauen, wenn man bisher den Blick immer gesenkt hatte.

„Kajillionaire“ ist eine große, bizarre Liebesgeschichte, aber das ist nur der rote Faden. Eigentlich handelt der Film davon, wie Waren zu einem Ersatz von Gefühlen werden, und hier wird der Vergleich mit „Parasite“ wieder spannend: Wie sieht ein Dasein innerhalb des Kapitalismus aus, das sich dem Konsumismus konsequent verweigert, das Whirlpool, Einfamilienhaus und neue Identität nur kurz anprobiert, um sie nach Benutzung wieder zurückzugeben?

In „Parasite“ muss das im Blutbad enden. In „Kajillionaire“ ist auf verquere Weise Zärtlichkeit die antikapitalistische Antwort auf alles: Eine junge Frau muss ihre innigsten Babybedürfnisse zu artikulieren lernen, um erwachsen zu werden, eine andere, deren ferne Mutter ihre Liebe nur durch bestellte Gegenstände ausdrücken kann, darf Rettung spenden und wird selber zum Zuhause. Der Rest ist Liebe.

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