Filmstill aus „First Cow“
Viennale
„First Cow“

Außenseiter als Westernhelden

Zwei unwahrscheinliche Helden finden Freundschaft und Heidelbeernachtisch: „First Cow“ ist ein zärtlicher, kluger Frontierfilm von Kelly Reichardt, der das Siedlermotiv aus dem Western auf ganz neue Beine stellt.

Der Western gilt als amerikanischer Heimatfilm, so lautet eine cineastische Binsenweisheit. Die idealisierte Reise in den Westen, das Eroberungsmotiv, die Arbeit mit Tieren, die Angst vor feindlicher Natur oder ihre Ausbeutung, das Treffen auf Indigene, ihre Unterwerfung oder aufrichtiges Interesse aneinander, die Raffgier der Eisenbahngesellschafter und die zivilisatorische Leistung der Technik – je nach politischer Ausrichtung lassen sich in diesem bekannten Setting die unterschiedlichsten Geschichten erzählen.

In Reichardts Filmen finden solche uramerikanischem Motive immer wieder in neuem Kontext zueinander, egal ob es sich um historische Sujets handelt oder um Gegenwartserzählungen. In „First Cow“, ihrem siebten Spielfilm, tun sie das auf eine Reichardt-typisch verschmitzte, dabei aber nie weggewitzelte Weise. Der Film beruht auf einem Segment des Romans „The Half-Life“ von Jon Raymond, Reichardts langjährigem Schreibpartner, der auch die Vorlagen zu ihren Filmen „Old Joy“ und „Wendy und Lucy“ geschrieben hat und das Drehbuch zu ihrem Nichtwestern „Meek’s Cutoff“.

Eine Kuh im Land ohne Milch

Was den Western sonst oft ausmacht, ist hier nur als Kulisse relevant. In „First Cow“ ist der Held ein sanftmütiger beerensammelnder Koch mit osteuropäischen Wurzeln, der eine enge Freundschaft mit einem chinesischen Glücksritter knüpft. Nach einem zufälligen Zusammentreffen im Wald – der eine, Cookie Figowitz (John Magaro), als gemobbter Nahrungsbeschaffer einer Gruppe Pelztierjäger, der andere, King-Lu (Orion Lee), als Gefangener – finden sie einander wieder in einer primitiven Ansiedlung von Abenteurern und Glücksrittern.

Filmstill aus „First Cow“
Viennale
Die Kuh als Statussymbol

Die europäische Hierarchie ist hier erst rudimentär angekommen, wenn der wichtigste Grundbesitzer im Ort, ein reicher Engländer (Toby Jones), sein Personal weiße Häubchen anziehen lässt. Das Personal allerdings, teilweise rekrutiert aus indigenen Leuten aus der Gegend, findet das Gehabe der Weißen eher albern – dabei ist der Engländer aufgeklärt und friedlich, ein liberaler Kapitalist gewissermaßen, und hat eine indigene Frau geheiratet (gespielt von „Certain Women“-Star Lily Gladstone).

Filmhinweis

„First Cow“ läuft auf der Viennale noch am 31. Oktober um 18.00 Uhr im Filmcasino.

Was jedoch in diesem Kaff neu, aufregend und langersehnt ist: Der Engländer hat sich eine Kuh bestellt. Diese Kuh, der letzter Schrei im Oregon Territory, soll ihm britische Eleganz bescheren, indem sie Milch für seinen Tee gibt, also seinen Status bestätigt. Nur aus diesem Grund ist diese Kuh hier, vielleicht auch ein wenig, um das Heimweh nach London zu besänftigen. Doch lass einen leidenschaftlichen Koch und Bäcker wie Cookie träumen von den Möglichkeiten, die Butter und Obers ihm bieten könnten, und stell ihm einen begabten Tagedieb wie King-Lu an die Seite – und das kulinarisch motivierte Verbrechen ist beinah schon geschehen.

Von denen, die keine Helden sind

Ein Western ist „First Cow“ also nur insofern, als er dort spielt, wo es „Wilder Westen“ heißt – dass das hier aber kein unbesiedeltes, jungfräuliches Land ist, das der Eroberung harrt, wie es der eurozentristischen Konvention entspricht, macht Reichardt sehr rasch klar. Bei ihr ist der Western kein Heimat-, sondern ein Einwandererfilm, zugleich ein hinreißendes Heist-Movie, und ein zärtlicher Film, der vor allem von einer Männerfreundschaft handelt – und Maskulinität auf eine Weise erkundet, wie es der Western üblicherweise nur selten wagt.

Dass die Immigranten, egal ob aus Europa oder aus China, sich in diesem Land erst neu einrichten, und das zumindest nicht ausschließlich mit breitbeiniger Totschieß-Ausbeut-Abholz-Mentalität, ist die andere ungewöhnliche Erzählung, dass auch die weichen, nachdenklichen, etwas patscherten, aber einfallsreichen Menschen ihren Platz suchen, Handwerker, keine Revolverhelden. Leute wie Cookie und King-Lu sind die ideellen Vorfahren jener, von denen Reichardt schon in früheren Filmen erzählt hat.

Nebenfiguren in der ersten Reihe

Für die Viennale ist Reichardt, nach Angela Schanelec im Vorjahr, das zweite Mal ein Anlass für eine eigene Publikation: „Textur #2 Kelly Reichardt“ versammelt Setfotos, Filmkritiken, Essays und Texte von Reichardt ebenso wie von Raymond, Gedichte und Zeichnungen zu einem lose zusammenhängenden Werkporträt und schafft damit reizvollen Kontext für „First Cow“, dieser Erzählung von zwei Außenseitern.

Im amerikanischen Heimatfilm haben Figuren wie sie typischerweise nur eine Existenzberechtigung als Nebenfiguren, Reichardt stellt sie in ihren Filmen immer wieder in die erste Reihe. In dem Umweltthriller „Night Moves“ (2013) etwa waren das Ökofarmer und Aktivisten, die einen Staudamm sprengen wollten, in „Certain Women“ eine Rancharbeiterin, die sich in eine junge Anwältin verliebt.

Diese Leute bekommen hier eine Geschichte, sie sind nicht einfach immer schon dagewesen. Und wenn man ein wenig an der Oberfläche kratzt, liegen darunter die Skelette aus einer Zeit, die davon erzählen kann.