Amos und Marcia Vogel 1955 im Cinema 16
The Estate of Amos Vogel
Amos Vogel

Film als subversive Kunst

Das Film-Jahr 2021 steht ganz im Zeichen des 100. Geburtstages von Amos Vogel. Der als Amos Vogelbaum in Wien geborene legendäre Filmkurator und -kritiker wurde im US-Exil berühmt. Parallel zur Reihe „Amos-Vogel-Atlas“ des Österreichischen Filmmuseums und zur Retrospektive des New York Film Festivals zeigt die Viennale neue Zusammenstellungen im Geiste des 2012 verstorbenen Vermittlers.

Unter dem Titel „Film as a Subversive Art 2021“ sind sechs Kuratorinnen und Kuratoren (Nicole Brenez, Go Hirasawa, Kim Knowles, Birgit Kohler, Roger Koza, Nour Ouayda) eingeladen, Programme für die Viennale zu gestalten, die die Frage nach kuratorischer Verantwortung aus heutiger Sicht zur Diskussion stellen.

Die Kuratorinnen und Kuratoren treffen ihre Auswahl anhand von Vogels Theorien zum Film als subversiver Kunst im Sinne der Erforschung einer kinematographischen Gegenwart. „Filme sehen ist eine Art zu denken“, betonte Vogel, der 1921 in Wien als Amos Vogelbaum geboren wurde. Seine Mutter Mathilde Vogelbaum war Lehrerin und wirkte an den pädagogischen Unternehmungen des Individualpsychologen Alfred Adler mit.

Ihre fortschrittlichen Erziehungsmethoden, die Begegnung mit zionistischen Jugendverbänden und die Kino-Besuche in der Urania prägten Vogels Arbeit maßgeblich. Mit seinen jüdischen und sozialistisch geprägten Eltern gelang ihm im Jahr 1938 die Flucht in die USA. Zunächst studierte er Landwirtschaft in Georgia, ging aber dann nach New York an die New School für Social Research. Im Jahr 1946 gründete er zusammen mit seiner Frau Marcia den erfolg- und einflussreichen Filmclub „Cinema 16“.

Cinema 16
The Estate of Amos Vogel
Mit seinem einflussreichen Filmclub „Cinema 16“ entdeckte Vogel beispielsweise Polanski

Ein Filmklub für Hitchcock und Sontag

Die nach dem 16-Millimeter-Filmformat benannte Initiative sollte die bedeutendste Filmgesellschaft ihrer Zeit werden. Der Club – der 16 Jahre existierte – versammelte in seiner besten Zeit bis zu 7.000 Mitglieder, dazu zählten Stars wie Alfred Hitchcock oder die Kulturtheoretikerin Susan Sontag.

Vogels Talent bestand darin, neue und unkonventionelle Programme für sein Publikum zusammenzustellen. Er zeigte Avantgardefilme neben Dokumentarfilmen, wissenschaftliche Studien neben politischen Propagandafilmen, präsentierte als erster Filme von John Cassavetes, Jacques Rivette und Alain Resnais und entdeckte Roman Polanski, als dieser noch in Polen studierte.

Wiener Filmclub als Vorbild

Amos Vogel folgte dem Beispiel des Wiener Filmclubs in der Urania, dessen Mitglied er bereits mit zwölf Jahren war. Seit 1898 führte die Urania Filme für Bildungs- und Kulturzwecke vor und war die führende Einrichtung Mitteleuropas für die damals neue Gattung des Kulturfilms. Als Schüler sah Vogel Basil Wrights „Night Mail“ (1936), einen epischen Dokumentarfilm über das britische Postwesen, das sein Verständnis von Kinokultur und Kuratieren maßgeblich beeinflussen sollte.

„Ich habe erkannt, dass man Dokumentarfilme mit poetischem Filmemachen kombinieren kann. Das hat dann den weiteren Verlauf meines Lebens geprägt,“ resümierte er seine frühe diesbezügliche Wahrnehmung. Vogel hatte stets den Anspruch, Grenzen zu überwinden, Sehgewohnheiten auf die Probe zu stellen und den Blick für Neues zu öffnen und zu schärfen. „Wenn du einen Film siehst, ist er dann gut, wenn er dich verändert hat, also deine Erfahrungswelt aufgebrochen hat und Neues hervorruft“, so fasst es Christoph Huber, Kurator des „Amos-Vogel-Atlas“, treffend zusammen.

Auf der Suche nach dem „neuen Sehen“

Um diesem Impetus des „neuen Sehens“ folgen zu können, ließ sich Vogel aus der ganzen Welt Filme auf dem Postweg zuschicken, die er sichtete und deren jeweilige Position er in seinen Zusammenstellungen akribisch durchdachte. Dafür legte er einen Katalog mit über 30.000 Karteikarten an. Heute befindet sich seine Privatbibliothek mit über 8.000 Büchern im Österreichischen Filmmuseum.

Cover des Buches „Film as a subversive Art“ von Amos Vogel
The Estate of Amos Vogel
Vogels Filmtheoretischer Klassiker: „Film as a Subversive Art“ (1974)

„Zahlreiche persönliche Anmerkungen geben Aufschluss über Vogels vielseitige Interessen. Seine Lesewut bildete einen zentralen Teil seines kuratorischen Wissens ab“, so Elisabeth Streit, Leiterin der dortigen Bibliothek. Lesen war für Vogel das zentrale Element seiner Arbeit, dabei interessierte er sich vor allem für Literatur, die schockiert, Ungewöhnliches vermittelt oder Wissen in einer vollkommen neuen Sichtweise präsentiert.

Das vorurteilsfreie Betrachten, das Aufbrechen von Erfahrungswelten war schließlich Vogels Hauptkriterium bei der Konzeption seiner Programme, wie er auch in seinem Buch „Film as a Subversive Art“ (1974) schreibt. Auf die Frage, was Subversion für ihn bedeutet, antwortet er in Paul Cronins Dokumentarfilm aus dem Jahr 2004: „It destroys and builds up new realities“.

„Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt“

Cronin zeigt Vogel in dessen Arbeitszimmer, an der Wand hängt ein Auszug aus Günter Eichs Gedicht „Wacht auf“, nämlich: „Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt“. Die Konfrontation mit unbequemen Fragen war grundlegendes Merkmal des Filmclubs. So zeigte Vogel, der selbst gerade noch den Nazis entkommen war, Fritz Hipplers NS-Propaganda-Film „Der ewige Jude“ (1940), dessen Vorführung für einen Skandal sorgte.

Hinweise zu Amos Vogel

Für alle Interessierten bieten Paul Cronins Dokumentation „Film as a Subversive Art. Amos Vogel and Cinema 16“ sowie das im Österreichischen Filmmuseum erschienene Buch „Be Sand, Not Oil. The Life and Work of Amos Vogel“ (2014) eine gute Einführung in Vogels Leben und Schaffen.

Doch Vogel ging es um die Entlarvung der Machart, der Aufhetzung durch antisemitische Film-Propaganda. So stellte er mit seinen Programmen sowohl ästhetisch als auch ideologisch-politisch heikle Fragen fernab von Kommerzialisierung.

Während heute oftmals Algorithmen die kuratorische Auswahl übernehmen, nach „Bestenlisten“ oder willkürlichen Kriterien Programme gestalten, war für Vogel das Erstellen einer Filmschau eine Kunst für sich. Zu seinem 100. Geburtstag sowohl in Wien als auch in New York präsent zu sein, das hätte Vogel – den Martin Scorsese in der „New York Times“ als Giganten bezeichnete – vermutlich gefallen.