Filmstill aus „Das Ereignis“
Viennale
„L’evenement“

Abtreibungsdrama als Kinoereignis

Mit dem Siegerfilm der Filmfestspiele Venedig hat die Viennale hochaktuell und formal eindrucksvoll gestartet: „L’evenement“ („Das Ereignis“) schildert, wie eine junge französische Studentin Anfang der sechziger Jahre eine Möglichkeit zur legalen Abtreibung sucht. Mit klarem Bekenntnis zur politischen Dringlichkeit gelingt Regisseurin Audrey Diwan ein filmisches Meisterwerk.

Frankreich, 1963, in einer mittelgroßen Universitätsstadt. Die 19-jährige Anne (Anamaria Vartolomei) ist Literaturstudentin mit schnellem Kopf und großem Ehrgeiz. Sie ist die Erste ihrer Familie, die studieren darf, und sie will es unbedingt. Alle in ihrem Ort sind stolz auf sie, und wenn sie am Wochenende heimkommt, wird sie gutmütig geneckt. So liebevoll ihr Zuhause ist, Anne weiß auch die Freiheit an der Uni zu schätzen, das abendliche Ausgehen, das Flirten. Doch dann passiert etwas in „L’evenement“: Anne stellt fest, dass sie schwanger ist, nach erstem Zweifel mit niederschmetternder Sicherheit.

Ihr Arzt ist voller Mitgefühl. Auch er weiß: Eine Schwangerschaft kann das Ende ihres Studiums bedeuten. Anne wird womöglich nie der Provinz entkommen, wenn sie nicht abtreibt, doch legal gibt es dazu keine Möglichkeit. Mit diesem Film von Regisseurin Diwan wird die diesjährige Viennale eröffnet, einem Beitrag, der nicht nur gesellschaftspolitisch wichtig ist, wie Festivaldirektorin Eva Sangiorgi sagte: „Der Film ist viel offener als das, es geht um Freiheit, nämlich die Wahlfreiheit, das Leben so zu leben, wie man möchte.“

„Wir haben den Film nicht aufgrund des politischen Themas als Eröffnungsfilm gewählt, so unglaublich wichtig es auch ist, sondern weil er eine wunderschöne kinematografische Geste zu einem wichtigen Thema ist, so komplex und subtil wie das Leben – ein fantastisches, perfektes Beispiel für Kino“, so Sangiorgi, die die formalen Besonderheiten des Films heraushebt, etwa das enge 4:3-Format, das nah an die Protagonistin heranholt.

Wachsende Sorge, wachsender Bauch

So schmal wie das Format ist auch die Vorlage: „L’evenement“ ist die Verfilmung eines kurzen autobiografischen Romans der großen Schriftstellerin Annie Ernaux, im Original bereits 2000, auf Deutsch aber erst vor wenigen Wochen unter dem Titel „Das Ereignis“ erschienen. Darin erinnert sich Ernaux anlässlich eines Besuchs im Spital, den sie als erwachsene Frau absolvieren muss, an einen früheren Arztbesuch im Oktober 1963, als sie eine Woche lang vergebens auf ihre Regel wartete und schließlich von einem Gynäkologen ihre Schwangerschaft bestätigt bekam.

Filmhinweis

„L’evenement“ wird im Rahmen der Viennale zur Eröffnung im Gartenbaukino am 21.10. um 19.00 Uhr gezeigt, im Stadtkino im Künstlerhaus um 20.30 Uhr und in der Urania, im Metro Kino im Historischen Saal und im Filmmuseum um 21.00 Uhr, außerdem am 22.10. um 11.30 Uhr im Gartenbaukino.

Der Film verzichtet auf diese unterschiedlichen zeitlichen Ebenen und bleibt von Beginn an nah bei der jungen Anne. Der Gedanke, diese Schwangerschaft auszutragen, bedeutet eine Katastrophe für sie, das Ende aller ihrer Vorhaben. Doch selbst wenn sie jemanden findet für eine Abtreibung, riskiert sie eine Gefängnisstrafe. Mit wachsender Besorgnis und wachsendem Bauchumfang sucht Anne nach Optionen, vertraut sich einem anderen Arzt an, einer Freundin, die sie verurteilt, und beginnt, auf eigene Faust ihren Körper zu misshandeln, der da etwas tut, was er auf keinen Fall soll.

Im Dialog mit Annie Ernaux

Während all dieser Zeit soll sie weiterfunktionieren, zu Hause, an der Uni. Natürlich fällt ihrem Professor (Pio Marmai) auf, dass die brillante Studentin plötzlich nicht mehr mitdenkt in den Vorlesungen. Zuerst ist er ungehalten, dann fragt er nach. Und sie erklärt es ihm dann so: „Es ist die Krankheit, die nur Frauen erwischt und sie zu Hausfrauen macht.“

In nüchternen Bildern, immer nah an der Protagonistin, schildert Diwan die Schwierigkeiten, die sich Anne bei ihrer Suche nach einem sicheren Schwangerschaftsabbruch entgegenstellen: der vor juristischen Folgen zurückschreckende Gynäkologe, die Mauscheleien der Kolleginnen, die finanzielle Hürde, die Anne unbedingt ohne Hilfe bewältigen will.

Filmstill aus „Das Ereignis“
Viennale
Ihrer Mutter (Sandrine Bonnaire) könnte Anne sich nie anvertrauen

Als Basis für das Drehbuch griff Diwan nicht nur auf Ernaux’ Roman zurück, die darin den entscheidenden Satz schreibt „In der Liebe und der Lust hatte ich nicht das Gefühl, mein Körper unterscheide sich grundsätzlich von dem eines Mannes.“ Diwan fragte die Schriftstellerin auch persönlich aus, wie sie gegenüber ORF.at sagt: „Ich habe sie gebeten, mir das zu erklären, was nicht im Buch vorkommt, etwa ihren Familienkontext und auch die Frage der sozialen Klasse, die eine große Rolle bei all dem spielt.“ Ernaux las auch mehrere Versionen des Drehbuchs und machte Anmerkungen, die Diwan einarbeitete.

„Sie weiß, was gut für sie ist“

„Ich wollte unbedingt einen Weg finden, nicht von außen auf Anne zu schauen, sondern sie zu sein und jede Tür mit ihr zu öffnen, ohne zu wissen, was dahinter wartet“, so Diwan. Das erreicht der Film durch das enge Format und eine Kamera, die immer nah an Anne bleibt und nie mehr weiß als sie. Wenn sie zu einem Freund geht, der ihr Rat verspricht, ist nicht vorhersehbar: Wird er versuchen, ihre verzweifelte Situation auszunützen, oder ihr wirklich helfen? Kann die Kommilitonin, die neulich noch lieb war, ihr einen Tipp geben? Und was, wenn der Arzt, der ihr helfen soll, sie verrät und sie ins Gefängnis muss?

Buchcover von „Das Ereignis“
Suhrkamp
Ammie Ernaux: Das Ereignis. Aus dem Französischen von Sonja Finck, Suhrkamp, 104 Seiten, 18,50 Euro.

Anne ist entschlossen in dem, was sie tun will, da ist kein Hauch eines Zweifels, erst recht kein Schuldgefühl, keine Reue. „Das ist das Wesentliche an ihr“, so Diwan. „Vielleicht würden manche gerne haben, dass sie sich schuldig fühlt. Aber können wir nicht die Idee akzeptieren, dass sie genau weiß, was gut für sie ist? Es gibt einen Moment in der Erzählung, in dem sie die ungewollte Schwangerschaft wie eine Krankheit betrachtet. Das ist eine heftige Formulierung, aber das ist es, wie sie empfindet.“

Gewalt und Einsamkeit

Eine große Rolle spielt Bildung im Film, schließlich ist es ihr Studium, für das Anne kämpft, nicht nur ihr Recht auf Autonomie. Vor allem aber, betont Diwan, wollte sie mit „L’evenement“ einen Film über den Körper machen. „Bevor ich das Buch gelesen hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, wie so eine heimliche Abtreibung in einem Hinterzimmer wirklich funktioniert, was das für eine Gewalt ist. Wir alle kennen die Wörter, die dafür benutzt werden, jede erzählt da von Nadeln. Aber was bedeutet das wirklich?“

Ernaux habe Diwan auch erzählt, wie lange die Prozedur braucht. „Für mich war es sehr wichtig, diese Sequenzen nicht theoretisch zu machen, sondern sehr genau. Das habe ich Ernaux zugesagt – es richtig zu machen.“ Wenn es also schockierende Szenen gibt in „L’evenement“, liegt das nicht daran, dass da künstlich überhöht oder provoziert worden ist, sondern daran, dass die Wirklichkeit schockiert. „Die Gewaltsamkeit und die Einsamkeit, diese beiden Dinge konnte ich mir vorher nicht vorstellen. Wir haben alle die Nachrichten aus Texas gelesen. Ich habe jetzt genau vor Augen, wie entsetzlich alleine diese Mädchen und Frauen sein werden, und es ist niederschmetternd.“

Goldene Löwin

Der Film, der im September bei den Filmfestspielen von Venedig lief, könnte kaum aktueller sein: „Am Tag vor unserer Premiere hat der amerikanische Oberste Gerichtshof das neue restriktive Abtreibungsgesetz in Texas bestätigt. Auch bei uns in Europa ist unser Recht auf legalen Abbruch nicht so sicher, wie wir es gerne möchten“, so Diwan.

Dem Film dieses politische Anliegen jedoch vorzuwerfen und im Umkehrschluss künstlerische Qualität abzusprechen, wie es nach der Verleihung des „Goldenen Löwen“ in Venedig geschehen ist, läuft ins Leere. Ganz im Gegenteil: Es ist eine enorme Leistung, ein so intimes literarisches Werk ohne jeden emotionalen Voyeurismus in glaubwürdige Bilder umzusetzen, und zugleich eine solche gesellschaftliche Relevanz zu erreichen.