Filmzszene aus Annette
Viennale
„Annette“

Leos Carax rockt das Musical-Format

Leos Carax, hochgeschätzt und gleichzeitig Enfant terrible der französischen Filmlandschaft, hat sich an ein Musical gewagt. „Annette“ eröffnete die heurigen Filmfestspiele in Cannes, brachte Carax den Regiepreis und ist nun bei der Viennale zu sehen. Die Ausgangsbasis ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Idee und auch das Drehbuch (gemeinsam mit Carax) stammen vom Pop/Rock-Duo Sparks, die starke Besetzung mit Marion Cotillard und Adam Driver wird durch Simon Helberg ergänzt, den Sitcom-Star aus „The Big Bang Theory“. Es geht um Liebe. Und damit um Verhängnis.

Während ganz zu Beginn des Films noch die Produktionslogos das Bild füllen, weist eine sonore Off-Stimme darauf hin, dass das Atmen während der Show nicht gestattet ist, und man möge deshalb noch einmal tief Luft holen. Was auch lautstark passiert. In der Folge klickt das Feuerzeug des Meisters persönlich, Leos Carax bleibt auch vor den unzähligen Reglern eines Tonstudios nicht ohne seine Zigarette. Er holt Nastya zu sich, das Mädchen, dem der Film gewidmet ist, auch im echten Leben steht er ihr nahe, denn sie ist seine Tochter. Und dann löst Carax’ Frage „So, may we start?“ eine fulminante Eröffnung aus: Russell Mael, zuständig für den Gesang bei der Formation Sparks, wiederholt den Satz singend, und die Band im Tonstudio entwickelt mit ihm daraus den ersten Ohrwurm.

Nicht lange bleiben sie an den Instrumenten, singend setzen sich alle in Bewegung, begeben sich in einer Plansequenz hinaus aus dem Gebäude in die Nacht von Santa Monica, Background-Sängerinnen gesellen sich dazu, ebenso das Protagonistentrio. Driver steigt schließlich auf ein Motorrad, fährt in die eine Richtung davon, während Cotillard in einem dunklen SUV in die andere chauffiert wird. Helberg bleibt zurück, genau wie der Rest der singenden Truppe, die das Paar Ann/Henry mit besten Wünschen in den Film entlassen.

Wo die Liebe hinfällt, nimmt das Drama seinen Lauf

Cotillard, als Opernsängerin Ann Desfranoux erfolgreich, sucht ihren Arbeitsplatz auf, Driver, als ebenso erfolgreicher Comedian Henry McHenry, düst mit dem Motorrad zu dem seinen. Wie er offen auf der Bühne sagt, hat er in Ann seine große Liebe gefunden. Die beiden gelten als Traumpaar, und immer wieder wird gleichsam leitmotivisch mittels Promi-News über ihre Beziehung berichtet, die in der Geburt der Tochter Annette gipfelt. Doch dann bröckelt Henrys Status, das ausgestellte Desinteresse an der eigenen Show wird immer größer und Vorwürfe von sechs Frauen im #MeToo-Stil werden ruchbar.

Ann ist weiterhin erfolgreich, aber im Privatleben ob der Vorfälle und Henrys Alkoholkonsum verunsichert, auch das Filmpublikum muss mit Anforderungen zurechtkommen, zum Beispiel, dass Baby Annette als Marionette animiert ist. Als lanciert wird, dass das Künstlerpaar gemeinsam mit Annette ein Wochenende auf ihrer Yacht verbringt, um die Beziehung wieder zu kitten, erwartet man Harmonie, blauen Himmel und ruhiges Meer. Das Gegenteil ist der Fall: Bei heftigstem Seegang findet der Ausflug statt, mittels klassischer Rückprojektion werden brechende Wellen ins Bild gebracht, die an alles andere als einen Walzer denken lassen, doch genau den will der betrunkene Henry mit seiner Frau tanzen – mitten hinein ins Unglück.

Filmzszene aus Annette
Viennale
Wo die Liebe hinfällt, blüht die Musik. Und wächst das Drama. C’est la vie.

Henry ist nun mit Töchterchen Annette allein, die eine unfassbare stimmliche Gabe entwickelt. Hier kommt nun Simon Helberg in seiner Rolle als Dirigent ins Spiel, der leider den Fehler macht, Henry gegenüber ein früheres Verhältnis mit Ann einzugestehen.

Gewaltiger Bilderreigen

Carax greift in die Kiste klassischer filmischer Inszenierungsmittel, und die für die Kamera verantwortliche Caroline Champetier liefert hervorragende Arbeit ab. An etlichen Stellen möchte man den Film anhalten, um einzelne Kader auf sich wirken lassen zu können. Wie große Gemälde hat Champetier viele Einstellungen komponiert. Carax zeigt in der digitalen Zeit seine Begeisterung für Doppelbelichtungen, Rückprojektionen und knackige Farben im Stile einer längst vergangenen Ära. Nichts davon wirkt aufgesetzt, sondern fügt sich in die Erzählung ein, in der mehr gesungen als gesprochen wird.

Schauspieler-Kapazunder

Marion Cotillard in der Rolle der Ann Desfranoux beweist eindrücklich, warum sie Oscar-Preisträgerin ist. Wenn auch quantitativ die meiste Aufmerksamkeit auf ihrem nicht minder brillanten Kollegen liegt, so hat man das Gefühl, in den von ihr verkörperten Charakter hineinsehen zu können. Kein Filter, kein Druck in ihrem Spiel, man ist mit ihr verliebt, in Freude und im „Alltagstrott“ einer Opernsängerin, von der ihr Mann sagt, „dass sie das Sterben liebt“, so gut macht sie es jeden Abend auf der Bühne. Und man kann ihren brodelnden Absturz in Kleinigkeiten bereits erahnen, wenn sie selbst noch nach außen alles aufrechterhält.

Ihre Stimme als Opernsängerin wurde ihr aus der Profi-Ecke geliehen, die Musical-Parts übernimmt sie selbst und beeindruckend, während Adam Driver diesbezüglich dünn bleibt. Aber das ist zweitrangig, denn seine schauspielerische Performance zählt zur allerersten Kategorie. Allein, was er als Comedian Henry McHenry auf die Bühne stellt, ist von beängstigender Echtheit. Als er da das Geständnis macht, seine Frau getötet zu haben und die Szene mittels eines Mikrofonständers nachstellt, hält das Filmpublikum wie auch das im Saal tatsächlich den Atem an – Henry McHenry kann sich aus der Situation retten, indem er behauptet, dass der Tod durch Kitzeln eintrat. Dennoch, ein schaler Nachgeschmack bleibt.

Filmhinweis

„Annette“ wird im Rahmen der Viennale im Gartenbaukino am 23.10. um 17.30 Uhr und am 29.10. um 23.00 Uhr gezeigt. Österreichweit startet der Film am 16. Dezember.
 


Der Comedian im ewig grünen Bademantel und Unterhose, der sich schattenboxend und seilspringend für seine Programme aufwärmt, greift auch dabei ständig zur Zigarette, dann gleich darauf zur gesunden Banane – schließlich heißt sein Programm ja auch „The Ape Of God“.

Weniger ist mehr

Simon Helberg schlägt sich wacker. Gegen Kaliber wie Cotillard und Driver anzutreten ist keine leichte Aufgabe. Wenn dann noch dazu die – eigentlich angenehme – Bürde auf einem Schauspielerleben lastet, Teil eines der erfolgreichsten Sitcom-Formate zu sein, ist es doppelt schwer. Dem „Big Bang Theory“-Star haftet eine gewisse Grundkomik an, von der er sich hier in seiner seriös-tragischen Rolle zumeist gut lösen kann. Beeindruckend ist sein Monolog, als er als frischgebackener Leiter das „most famous orchestra in town“ dirigiert. Dabei sinniert er über die Karriere, seine ehemalige Beziehung zu Ann und die Zukunft von Baby Annette. Währenddessen rotiert der Kamerablick um ihn, ein filmtechnisch wunderbar eingesetztes Mittel, um die aufgewühlte Befindlichkeit zu unterstreichen.

Helberg berührt mit dem Monolog, es drückt ihm eine Träne aus dem Augenwinkel, und doch sticht dann wieder sein bekannter Sitcom-Spielstil hervor, wenn er die ohnehin glaubwürdig gespielte Emotion mimisch verstärken will. Schade, dass er sein Spiel nicht noch mehr reduziert hat, weniger ist im Brennglas der Kinoleinwand eindeutig mehr. Stark auch die erst siebenjährige Devyn McDowell, sie übernimmt die Darstellung der Annette aus Fleisch und Blut, als die Marionette plötzlich zu Ende des Films ausgedient hat: Einerseits traurig darüber, dass sich ihr Vater im Gefängnis befindet, glaubt man ihr jedes Wort, wenn sie über den Vorteil spricht, dass er hier ja zumindest nicht rauchen und trinken darf.

Musical meets großes Kino

Egal, wie man zu den Arbeiten von Carax steht: Dass hier ein eindrückliches filmisches Gesamtkunstwerk geschaffen wurde, lässt sich nicht bestreiten. Am besten, man wartet nicht auf das Streaming, sondern lässt diese außergewöhnliche Art von Musical auf der großen Leinwand auf sich einwirken.