Hidetoshi Nishijima und Toko Miura im Film „Drive My Car“
Viennale
„Drive My Car“

Wie Liebesleid auf Japanisch heißt

Nicht nur in Japan gilt Ryusuke Hamaguchi als Regiestar. Nun hat er sich an der Kurzgeschichte „Drive My Car“ von Haruki Murakami bedient. Mit Kurzgeschichte hat die Adaption freilich nichts mehr zu tun: Knapp drei Stunden braucht der Regisseur, greift aber mit Berechtigung zur Überlänge. Für das Drehbuch (gemeinsam mit Takamasa Oe) wurde Hamaguchi in Cannes ausgezeichnet.

Die Anfangscredits werden bei „Drive My Car“ erst nach – rekordverdächtigen – vierzig Minuten gezeigt. Zu dem Zeitpunkt hat man schon viel vom Leben des Protagonisten erfahren: Yusuke (Hidetoshi Nishijima) arbeitet als Theaterregisseur und Schauspieler, seine Frau Oto (Reika Kirishima) als Drehbuchautorin.

Fragt man sich zunächst noch, wie das Sexualleben des Paares mit der Kreativität von Oto zusammenhängt, wird die Lösung dazu im Laufe des Films präsentiert und hat mit einer gemeinsam erlebten Tragödie der beiden zu tun. Die Plots für ihre Drehbücher gehen Oto jedenfalls während und nach des Akts leicht von den Lippen, ihr Mann ist erster Zuhörer und stellt wie ein Dramaturg die Fragen, die sie in der Entwicklung der Geschichten weiter bringen.

Oto wiederum spricht ihrem Mann die Texte für seine Rollen auf die gute alte Audiokassette. Er hört sie, ganz bevorzugte meditative Routine, während der Fahrt in seinem gepflegt-kultigen Saab 900, dessen knallroter Lack einerseits erfrischend gesund wirkt, andererseits wohl nicht unbewusst in der Farbe der Liebe gehalten ist.

Ein Gentleman leidet und schweigt

Es ist der „Klassiker des unvorhergesehenen Nachhausekommens“, der Yusukes Welt zerbrechen lässt: Liebevoll von seiner Frau verabschiedet, um in der Jury eines Festivals zu wirken, erfährt er erst am Flughafen via Smartphone, dass sein Flug verschoben wurde. Es wird ihm zwar die Möglichkeit gegeben, im vor Ort gelegenen Hotel einzuchecken, doch Yusuke entscheidet sich dafür, die Wartezeit lieber zu Hause zu verbringen.

Fatal, denn die Laute beim Eintritt in seine für japanische Verhältnisse luxuriös große Wohnung lassen erahnen, was er nicht glauben möchte: Seine Frau befindet sich rittlings auf einem jungen Mann, bemerkt den Ehemann nicht, der kurz die Szene mit versteinerter Miene beobachtet und sich dann leise zurückzieht. Als sie am Abend skypen, denkt Oto, die sich sorgsam nach seinem Befinden und dem Verlauf der Reise erkundigt, dass Yusuke bereits beim Festival in Russland eingetroffen ist, tatsächlich sitzt er nun doch im Flughafenhotel und lässt sich so gar nichts von dem Gesehenen anmerken.

Zwar baut Yusuke eine Woche später bei der Heimkehr vom Festival einen Autounfall, er kommt ohne körperliche Versehrtheit davon, aber bei der Nachuntersuchung stellt sich heraus, dass er an einem Glaukom leidet und ab nun täglich Augentropfen nehmen muss. Oto eilt sofort zu ihm ins Krankenhaus, alles deutet darauf hin, wie sehr sie ihren Mann liebt.

Gesprächsvermeidung und bittere Vorwürfe

Und wahrscheinlich wäre das Leben der beiden trotz der Affäre nach außen hin glücklich weitergegangen, würde nicht eine Kleinigkeit Yusuke stutzig machen: Nämlich der eines Morgens von Oto getätigte Hinweis, dass sie nach der Rückkehr von seinem Tagewerk miteinander sprechen sollten.

Yusuke lächelt zustimmend und kommt viel später als erwartet nach Hause, in seinem Saab umherfahrend, er will diesem Gespräch aus dem Weg gehen. Diesbezüglich wird er sich noch Vorwürfe machen, denn als er schließlich die Wohnung betritt, findet er Oto am Boden liegend. Er ruft sofort die Rettung, aber eine Hirnblutung hat Otos Leben ausgelöscht.

Die Zeit heilt keine Wunden

Zwei Jahre später nimmt Yusuke die Regie von Tschechows „Onkel Wanja“ am Theater in Hiroshima an. Er möchte für diesen Aufenthalt außerhalb wohnen, mit wunderbarem Ausblick und eine Stunde Fahrt zur Arbeitsstätte tut ihm gut, denn die Gewohnheit des Hörens der Theatertexte während der Fahrt hat er nicht aufgegeben.

Die Theaterleitung kommt seinem Wunsch nach, besteht aber darauf, dass er nicht selbst fährt. Offiziell wird das mit einem in der Vergangenheit passierten Unfall begründet. Anfänglich wehrt sich der Regisseur gegen diesen Vorschlag.

Für europäische Verhältnisse sind die japanischen Höflichkeitserfordernisse interessant zu beobachten, die Verantwortliche am Theater gibt Yusuke einerseits devot recht, andererseits besteht sie auf das Chauffieren des Gastes. Der ist noch irritierter, als die junge Misaki (Toko Miura) ihn fahren soll, doch es wird sich herausstellen, dass beide ein gehörig Maß an Leid zu überwinden haben und einander dadurch nahe kommen.

Hidetoshi Nishijima und Toko Miura im Film „Drive My Car“
Viennale
Oto ist ihrem Mann für die Ideen ihrer Drehbücher im wahren Sinne des Wortes verbunden: Beim Beischlaf sprudelt die Kreativität.

Ex-Liebhaber und Koreanische Gebärdensprache

Teil von Yusukes Inszenierungskonzepts ist das Einbinden verschiedener Sprachen. Als ihm beim Vorsprechen der Ex-Liebhaber seiner Frau unterkommt, Kôji Takatsuki, gespielt von Masaki Okada, besetzt er diesen als Wanja. Nicht nur Takatsuki ist verwundert, passt doch der Part so gar nicht zu seinem Alter. Wenn man dann noch bedenkt, dass Yusuke selbst schon den Wanja gespielt hat, ist die Symbolkraft nicht mehr von der Hand zu weisen.

Dabei könnten die beiden Männer unterschiedlicher nicht sein: Der besonnene, immer gut vorbereitete Regisseur Yusuke trifft auf den Heißsporn Takatsuki, der nicht weiß, ob Yusuke über sein Verhältnis mit Oto Bescheid wusste. Takatsukis oft unreflektiertes Reagieren wird noch Konsequenzen haben: Im Sinne eines „planting and pay off“ werden wir darauf vorbereitet, als er einem Barbesucher gegenüber gewalttätig wird, nur weil dieser ein Foto von ihm gemacht hat.

Und eine weitere Besetzungsentscheidung sprengt den gewohnten Rahmen: Yusuke lässt die Rolle der Sonja von der stummen Schauspielerin Lee Yon-A übernehmen (Yoo rim-Park). Der dem Regisseur zur Seite stehende Dramaturg ist dann auch noch „zufällig“ der koreanischen Gebärdensprache mächtig und kann daher beim Casting übersetzen, was das Filmpublikum wohl ebenso verwundert wie Yusuke selbst.

Er wird seinen Mut zu dieser Ensemblewahl nicht bereuen, die Aufklärung, warum Dramaturg Yoon-su (Dae Young Jin) koreanische Gebärdensprache beherrscht, folgt bei einer Abendesseneinladung und reiht sich nahtlos in die höfliche Korrektheit ein, die Japans Bevölkerung zu eigen ist. Im sich dabei entwickelnden Gespräch kommt es zu einer wunderbaren Liebeserklärung des Dramaturgen an die stumme Kollegin – und die steht ihm näher, als man ahnen konnte.

Das Innerste kommt zum Vorschein

„Tschechow ist gefährlich. Wenn du seine Texte sprichst, kommt dein Innerstes zum Vorschein. Das kann ich nicht aushalten.“ Dieses Zitat aus „Drive My Car“ kann als signifikant für den gesamten Film gesehen werden, ebenso wie für die Regiearbeiten von Hamaguchi.

Ganz japanischer Mentalität gemäß halten zwar die von ihm inszenierten Charaktere Form und Förmlichkeit ein, dennoch aber wird dem Publikum tiefer Einblick in die Seelenzustände und Beweggründe der handelnden Personen gewährt. Zugegeben, für nicht an den Schaffensprozessen in der darstellenden Kunst interessierte Zuseher mögen die Theaterszenen und die Proben dazu den Film „unnötig verlängern“, andererseits kann man viel Faszination daran finden, verstärkt dadurch, nicht nur Tschechow, sondern auch eine Szene aus Becketts „Warten auf Godot“ auf Japanisch erleben zu können.

Es zeigt sich wieder einmal, dass ein wesentliches Kriterium für starke schauspielerische Leistung nicht unmittelbar darin liegt, was gesprochen wird, sondern wie gesprochen wird – so auch in der eindringlichen „Onkel Wanja“-Szene in koreanischer Gebärdensprache. Wer es zur Viennale nicht mehr in „Drive My Car“ schafft: Im Dezember kommt dieser wunderbare Film in die heimischen Kinos.