„Mutzenbacher“

Auf der Couch mit einer Pornolegende

Beischlaf auf Wienerisch: In „Mutzenbacher“ nutzt Regisseurin Ruth Beckermann den legendären Pornoklassiker aus dem Jahr 1906 für ein Panorama der Männlichkeiten. Bei der Berlinale gab es dafür den Preis als bester Film der Sektion „Encounters“.

Bis 1968 war der Roman in Österreich verboten, in Deutschland stand er gar bis 2017 auf dem Index. Das kam nicht von ungefähr: „Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt“ aus dem Jahr 1906 schildert aus der fiktiven Ich-Perspektive einer alternden Sexarbeiterin, wie sie als kleines Mädchen erste sexuelle Erfahrungen im Spiel mit anderen Kindern hat. Sie wird von einem Geistlichen missbraucht, hat Dutzende weitere sexuelle Erlebnisse mit Erwachsenen, alles lustvoll pornografisch beschrieben, bis hin zu ihrem Debüt als Prostituierte mit 14 Jahren.

Das bis heute irritierende und provokante Buch war Ausgangspunkt für Beckermanns Film „Mutzenbacher“, der mit einem Casting-Aufruf begann: „Wien, 25. April 2021. Casting-Aufruf für einen Film über Josefine Mutzenbacher. Gesucht werden männliche Mitglieder zwischen 16 und 99 Jahren. Dreherfahrung nicht vorausgesetzt“, steht am Anfang des Films. Auf den Aufruf meldeten sich etwa 150 Männer, ungefähr die Hälfte lud Beckermann ein ins Kulturzentrum F23, eine ehemalige Sargfabrik, in der sie eine klassische Casting-Situation inszenierte.

Couchgeflüster

Die Männer, von jungen Burschen bis zu alten Herren, wurden auf eine dort vorgefundene rosarote Couch gebeten, „herrlich, ein ehemaliges Erotiksofa“ kommentiert einer. „Dieses kitschige Sofa ist sehr wichtig für den Film, weil es diverse Assoziationen hervorruft, von der Erotikcouch über die Freud’sche Couch bis zur Casting-Couch“, so Beckermann im Videointerview. Wer mag, fühlt sich auch ein wenig an die Seidentapete beim pointierten Finale von „Waldheims Walzer“ erinnert, Beckermanns Vorgängerfilm.

„Mutzenbacher“ besteht über weite Strecken darin, dass die Regisseurin ihre Kandidaten, darunter einzelne bekannte Gesichter wie der Schriftsteller Robert Schindel und der ehemalige Filmmuseum-Direktor Alexander Horwath, bittet, einen Ausschnitt aus dem Roman vorzulesen. Beckermann befragt sie anschließend zu Assoziationen, Erlebnissen, ethischen Vorbehalten. Manche Männer kennen den Text gut, andere haben nur vage Ahnung vom Entstehungskontext. Dann wieder arrangiert die Regisseurin ihre Casting-Kandidaten zu Chören, die der Kamera etwa idiosynkratisch wienerische Ausdrücke für Sex entgegenrufen.

Szene aus dem Film Mutzenbacher zeigt vier Männer, die neben einander auf einer Couch sitzen mit einem Blattpapier in der Hand
Viennale
Das pornografische Kuscheln ist nicht allen Mitwirkenden gleich angenehm

In den Gesprächen blättert sich ein Kaleidoskop von Männlichkeiten, von unterschiedlichen moralischen Bedenken und Formen des Begehrens auf, und zugleich eine Metabetrachtung dessen, wie Literatur funktioniert: Manche Männer fassen den Text als rein literarisches, andere wieder als pornografisches Material auf. Viele erläutern ihren eigenen Beziehungsstatus und ihre sexuellen Vorlieben. Manche erinnern sich an eigene Übergrifferfahrungen, und andere wiederum reagieren entsetzt und nehmen die geschilderten sexuellen Handlungen einer Minderjährigen für bare Münze.

„Wenigstens noch eine Freud’!“

„Manche haben geglaubt, das sei ein Dokumentarbericht von einer Frau“, so Beckermann. „Das fand ich sehr lustig. Meiner Meinung nach ist ganz klar, dass das Buch ein Mann geschrieben hat. Weil das eine männliche Wunschvorstellung ist, dass alle Frauen permanent Sex haben wollen. Das kann sich eigentlich nur ein Mann ausdenken!“ Dieser Aspekt war im Film offenkundig nicht allen klar. „Die Frauen in dem Buch haben wenigstens eine Freud’ am körperlichen Austausch, heutzutage will das ja keine mehr", glaubt da einer.

Filmhinweis

„Mutzenbacher“ wird im Gartenbaukino am 22.10. um 20.30 Uhr und in der Urania am 26.10. um 13.15 Uhr gezeigt.
 
Der im Rahmen des ORF-Film-/Fernsehabkommens geförderte Film startet am 4. November in den österreichischen Kinos.

Der Roman ist nicht nur als Klassiker der erotischen Literatur bis heute faszinierend, sondern vor allem aufgrund der immanenten Rechtfertigung sexueller Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen streckenweise schwer erträglich. Das ist auch an den Reaktionen vieler Männer in Beckermanns Film abzulesen. Darin ist die „Josefine Mutzenbacher“ allerdings auch Kind ihrer Zeit: Das männliche intellektuelle Wien im frühen 20. Jahrhundert rechtfertigte nicht selten sexuelles Interesse an Kindern, berühmteste Beispiele sind Peter Altenberg und Adolf Loos.

Auf der anderen Seite waren erst im Jahr zuvor, 1905, Sigmund Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ erschienen, in denen er sich auch mit infantiler Sexualität auseinandersetzte. „Es war die Zeit, in der man die Sexualität von Kindern auch entdeckt und darüber gesprochen hat, mehr als heute. Heute spricht man wirklich nur über Gefahren und Missbrauch“, so Beckermann. Dass die „Josefine Mutzenbacher“ trotz des problematischen soziokulturellen Kontexts als pornografisches Werk ungemein wirkungsvoll ist, macht das Unbehagen bei der lustvollen Lektüre nicht weniger groß.

Szene aus dem Film Mutzenbacher zeigt Jugendliche auf einer Couch mit Tonassistenten daneben, der ein Mikro hält
Viennale
Manche Generationen reagieren deutlich unbefangener als andere

Wer das Buch verfasst hat, das nach Erscheinen in unzähligen illegalen Nachdrucken sofort die Runde machte, ist übrigens nach wie vor unklar. Karl Kraus brachte damals das Gerücht in Umlauf, der Roman sei von „Bambi“-Autor Felix Salten verfasst. Das gilt heute zwar als widerlegt, hinderte Saltens Nachfahren allerdings nicht daran, in den 70er Jahren, nach dem ersten offiziellen Nachdruck, beim Verlag Tantiemen einzufordern.

Als sicher gilt nur, dass der Roman kein tatsächlicher autobiografischer Bericht ist, sondern frei erfunden. „Für mich war das nie relevant, wer es geschrieben hat. Natürlich nicht, als ich es als Kind gelesen hab, und heute auch nicht“, so Beckermann. „Es war sicher wer, der gut schreiben konnte und das Milieu sehr gut kannte. Und es war jemand, der einen wirklichen Roman konstruieren konnte und der die wienerische Sprache gut kannte.“

Beckermanns Film ist eine fantastische Relektüre des Pornoklassikers, der Lust auf weitere Beschäftigung zum Thema macht. Der Tagungsband einer literaturwissenschaftlichen Tagung im Jahr 2017 zur „Josefine Mutzenbacher“ und die kritische Neuherausgabe der „Josefine Mutzenbacher“, ergänzt um den umfassenden Anhang einschlägiger wienerischer Begrifflichkeiten von Oswald Wiener aus dem Jahr 1969, sind unbedingt empfehlenswert.