Szene aus The Listener, Frau sitzt auf Stufen, die in ein Haus führen
Viennale/Tiffany Roohani
„The Listener“

Am anderen Ende der Hotline

In einer seiner raren Kinoregiearbeiten folgt Steve Buscemi in „The Listener“ einer Telefonistin, die Menschen in der Krise ein offenes Ohr, Rat und Mitgefühl spendet, durch einen Nachtdienst. Entlang dieser Telefonate schildert der kleine, schöne Film in knappen 96 Minuten ein Gegenwartspanorama der US-Gesellschaft mitsamt Krisen, Konflikten, Träumen und Hoffnungen.

„Hello, I’m Beth!“ Immer freundlich bleiben, neutral zuhören, innerhalb der ersten Sekunden versuchen, das Anliegen des Anrufers oder der Anruferin herauszufinden. Keine Emotionen zeigen, mitfühlend, aber nicht mitleidig reagieren. Nichts von sich selbst erzählen. Für Beth (gespielt von „Westworld“-Star Tessa Thompson), Telefonistin einer nächtlichen Kummernummer, hat jeder Dienst etwas von einem Drahtseilakt, doch genau dafür wurde sie ausgebildet.

Da ruft ein Mann an, dem sein Leben entgleitet, sie schlägt ihm eine Berufsberatung vor, doch er möchte nur reden. Er leidet seit Jahren, die Dinge, die er im Krieg erlebt hat, quälen ihn. Als Veteran behandelt ihn die Gesellschaft wie Abfall, er fühlt sich beschädigt und kann nirgends hin mit seinen Erlebnissen. Ist er suizidgefährdet? Oder einfach nur alleine? Seine Stimme verrät es dann doch.

Dienstbeginn in Pyjama und Morgenrock

In „The Listener“, Buscemis erster Kinoregie seit 15 Jahren, ist Beth die einzige Person, die auf der Leinwand zu sehen ist. Mitten in der Nacht läutet ihr Wecker, sie putzt sich die Zähne, reibt sich den Schlaf aus den Augen, setzt ihr Headset auf und tritt ihren Dienst an. Die Pandemie – obwohl nur einmal nebenbei erwähnt, als Beth einer Anruferin erzählt, dass seit Corona viel mehr Anrufe kommen – ist die ständige Begleiterin des Films, durch den vertrauten Home-Office-Kontext, die fehlende Trennung zwischen Privatsphäre und Beruf.

Eine Frau ruft an, einsam mitten in der Nacht, bei dieser freundlichen Stimme, die jeden und jede demokratisch mit „Hello, I’m Beth“ begrüßt. Die Frau ist offenbar in einer schweren psychischen Krise, hat ihre Medikamente abgesetzt, schildert Irreales. Beth gelingt es, Poesie in dem Redeschwall zu finden. Eine andere ruft an, jung, verzagt. Nach und nach schält Beth aus dem Erzählten heraus: Offenbar ist die Frau obdachlos, in einer Missbrauchsbeziehung. Beth ermutigt sie, zu gehen. Doch ist das Risiko nicht größer, als zu bleiben?

Szene aus The Listener, Frau schreibt etwas auf ein Papier
Viennale/Tiffany Roohani
Telefonkritzeleien helfen Beth beim Zuhören

Als Telefonistin bei einer sogenannten „Warm Line“, im Gegensatz zu einer echten Hotline eine Nummer, bei der Menschen mit Redebedürfnis auch ohne Notfall anrufen können, bekommt Beth Nacht für Nacht, Dienst für Dienst bestürzende Lebensgeschichten erzählt. Da ist der Computerexperte, der sich hauptberuflich mit Rachepornos auseinandersetzen muss. Da ist die Frau, die ihr sachlich und mit sehr guten Argumenten darlegt, dass sie eigentlich nicht weiterleben will.

„Es hat mich überrascht, wie sehr mich das Gespräch berührt hat“, so Buscemi gegenüber ORF.at über seine Recherche bei einer solchen Kummernummer. „Ich hab danach wirklich verstanden, warum Menschen mitten in der Nacht anrufen. Wenn man das Glück hat, sich Therapie leisten zu können, dann hat man einen wöchentlichen Gesprächstermin. Aber was machen andere Menschen, wenn sie mitten in der Nacht von finsteren Gedanken gequält werden?“

Filmhinweis

„The Listener " wird im Rahmen der Viennale im Stadtkino im Künstlerhaus noch am 30.10. um 20.45 Uhr gezeigt.
 

Sechs Tage, eine Nacht

Gedreht haben Buscemi und sein Team, darunter die Kamerafrau Anka Malatynska („Pretty Little Liars“), den 96 Minuten schlanken Film an gerade einmal sechs Tagen. „Tessa hatte sieben Tage Drehpause bei Westworld, einen Tag konnte sie sich ausruhen“, so Buscemi. Die gesamte Handlung findet in Beths Zuhause statt, einem Bungalow irgendwo am Rande einer anonymen Großstadt, die nie genannt wird, aber wahrscheinlich Los Angeles ist.

Einer, der anruft, ist Polizist, wo genau, wagt er nicht zu sagen. Er hat einen Kollegen beobachtet, der einen schwarzen Verdächtigen brutal misshandelt hat, dabei hatte der sich nicht gewehrt. Der Anrufer hat Angst, den Vorfall zu melden. Was rät Beth? Die Sorge, nicht adäquat zu reagieren, spiegelt sich nur in Mikroregungen auf Thompsons Gesicht wieder. Ihre Stimme darf nichts verraten.

Die Zuhörerin

So weit das Panorama der menschlichen Verzweiflungen und Abgründe im Film ist, thesenhaft wird das Drehbuch dennoch nie. Geschrieben hat es Alessandro Camon, unter anderem Autor von Walter Hills Sylvester-Stallone-Vehikel „The Shootout“. „Nach jedem Anruf macht sie sich Gedanken, ob alles gut gegangen ist, sammelt sich, und nimmt das nächste Gespräch entgegen“, so Buscemi. „Mit jedem neuen Anruf ist da ein Neuanfang, das Skript hat etwas von einer Serie von Kurzfilmen, aber natürlich musste es ein Ganzes werden.“

Obwohl der Film nie das Haus ganz verlässt, und all die Anruferinnen und Anrufer (darunter Rebecca Hall und Margaret Cho) nur durch ihre körperlosen Stimmen anwesend sind, ist „The Listener“ doch kein Kammerspiel, sondern ein weites Porträt der amerikanischen Gesellschaft in all ihrer Brüchigkeit, ihren Verletzungen, Traumata, Hoffnungen und Verwerfungen,. Beth beginnt erst am Ende über sich selbst zu reden, und auf einmal wird aus der Funktion der Zuhörerin eine greifbare Person. Ohne Gegenüber, das zuhört, ist alles nichts.