Tilda Swinton in The Eternal Daughter, Joanna Hogg, Großbritannien/USA 2022
Sandro Kopp/Eternal Daughter Productions Limited/British Broadcasting Corporation
Rückblick

Vielfalt und Diskurs im Mittelpunkt

Es war ein buntes, aufregendes und nachwirkendes Programm, das die Viennale zu ihrem 60. Geburtstag präsentiert hat. Das Festival feierte sich selbst – mit so vielen österreichischen Beiträgen wie noch nie, einem strahlenden Jubilar und viel Platz für lebhafte Diskussionen und Gespräche.

„Diese 60. Ausgabe war eine Feier des Kinos und des Zusammenseins“, freute sich Festivaldirektorin Eva Sangiorgi am Abschlussabend der fünften Viennale unter ihrer Leitung. „Wir alle haben es gespürt, in der Energie der vollen Kinosäle, in den eindringlichen Gesprächen zwischen Autor:innen und Publikum, in den Äußerungen all jener Menschen, mit denen wir durch die Filme so viele Erfahrungen geteilt haben.“ Denn es sei eine der Aufgaben, denen sich das Festival seit jeher verpflichtet fühlt, Filme nicht „nur“ zu zeigen, sondern sie auch zu kontextualisieren und sie im Rahmen eines aktuellen Diskurses zugänglich zu machen.

Und so zeigte das Regieduo Tizza Covi und Rainer Frimmel bereits mit dem Eröffnungsfilm am 20. Oktober das Porträt einer durchaus streitbaren und faszinierenden Persönlichkeit. „Vera“ war gleichzeitig die erste von insgesamt zwanzig österreichischen Produktionen und Koproduktionen – mehr dazu in „Eröffnung mit Heldin in High Heels“.

Vera Gemma und Asia Argento in „Vera“
Viennale
Die Viennale startete mit einer starken Frauenfigur

So viel Österreich wie noch nie

Der im Vorfeld am heftigsten diskutierte Film war sicher Ulrich Seidls „Sparta“, der – im Gegensatz zu anderen Festivals – mit zwei Vorstellungen ins Programm genommen wurde. Das soll nicht „Ausdruck einer Entlastung“ sein, wie es von Festivalseite hieß, „aber ebenso wenig will die Viennale Teil einer Vorverurteilung von Regisseur oder Film sein“ – mehr dazu in „Umstrittener ‚Sparta‘ zeigt Fantasie statt Taten“.

Ebenfalls für großes Publikumsinteresse sorgten zwei weitere österreichische Filme. In „Mutzenbacher“ nutzt Regisseurin Ruth Beckermann den legendären Pornoklassiker aus dem Jahr 1906 für ein Panorama der Männlichkeiten. Und „Eismayer“ zeigt die wahre Geschichte eines Ausbilders beim österreichischen Bundesheer, dessen Leben erst nach seinem Outing so richtig beginnt – mehr dazu in „Auf der Couch mit einer Pornolegende“ und „Die zärtliche Seite des Vizeleutnants“.

Szene aus dem Film „Mutzenbacher“ zeigt Jugendliche auf einer Couch sitzend und Tonassistenten mit Mikrofon daneben stehend
Viennale
„Mutzenbacher“ bringt verschiedene Generationen von Männern auf die Couch

Nicht nur die Viennale feierte Geburtstag, auch ein besonderer Jubilar wurde im Rahmen des diesjährigen Festivals geehrt. Ehrengast Werner Herzog, der im September seinen 80. Geburtstag beging, hat das Publikum sowohl bei der Gala im Gartenbaukino als auch bei den Vorführungen seines Films „Theater of Thought“ und der Dokumentation über ihn „Werner Herzog – Radical Dreamer“ von Thomas von Steinaecker begeistert – mehr dazu in „‚Guter Soldat‘ des Kinos“.

Frauen, Leben, Freiheit

Die preisgekrönte Doku „All the Beauty and the Bloodshed“ widmete sich der Fotografin Nan Goldin, die die Kunst- und LGBTQ-Szene New Yorks von den 70ern an dokumentiert hat wie keine Zweite. Der Film ließ ihr Leben Revue passieren, das neben der Kunst vor allem von ihrer Opiatabhängigkeit und ihrem Kampf gegen die Auslöser der Opioidkrise in den USA geprägt ist – mehr dazu in „Eine Fotolovestory für Nan Goldin“.

Um starke Frauen ging es auch in Sarah Polleys Drama „Women Talking“. Hier wird – ausgehend von einer wahren Geschichte und einem internationalen Bestseller – eine Gruppe von Frauen gezeigt, die sich gegen jahrelangen Missbrauch und Unterdrückung durch ihre Männer zur Wehr setzen wollen – mehr dazu in „Die letzten Tage des Patriarchats“.

Ben Whishaw stars as August, Rooney Mara as Ona and Claire Foy as Salome
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In „Women Talking“ werden die Themen Liebe, Heimat, Familie, Freiheit, Schuld und Vergebung verhandelt

Aficionados und altgediente Cineastinnen widmen sich bei der Viennale gern den Spezialprogrammen abseits der großen Filme der Saison. Die „Historiografie“ rund um den argentinischen Film Noir versprach heuer Bildungslücken zu schließen. Sei es der Chauffeur als Serienkiller oder der nach Rache sinnende Krimiautor: Toxische Männlichkeit war während der Peron-Ära ein kinematografisches Spezialgebiet am Rio del la Plata – mehr dazu in „Düstere Männlichkeit in Buenos Aires“.

Ein bisschen Spaß muss sein

Der legendären US-amerkanischen Regisseurin Elaine May widmete die Viennale eine Monografie und zeigte alle vier Spielfilme, die wahre Kleinode des Komischen sind – mehr dazu in „Vom Geheimtipp zur Komik-Ikone“.

Eine schwarze Komödie stand mit „The Banshees of Inisherin“ auf dem Programm, wo die Frage behandelt wird, was es bedeutet, wenn einem der beste Freund von einem Tag auf den anderen die Freundschaft kündigt. Ein Film über männlichen Schmerz mit einem großartigen Colin Farrell in der Hauptrolle – mehr dazu in „Eine Männerfreundschaft auf Abwegen“.

Martin McDonagh und Colin Farrell auf dem Filmset zu THE BANSHEES OF INISHERIN
Jonathan Hession/Searchlight Pictures/20th Century Studios
„The Banshees of Inisherin“ wurde vor einer atemberaubenden Kulisse gedreht

Zu den kleinen, schönen Filmen dieses Festivals gehörte eine der raren Kinoregiearbeiten des US-Schauspielers Steve Buscemi. In „The Listener“ folgt er einer Telefonistin, die Menschen in der Krise ein offenes Ohr, Rat und Mitgefühl spendet. Entlang dieser Telefonate wird in knappen 96 Minuten ein Gegenwartspanorama der US-Gesellschaft mitsamt Krisen, Konflikten, Träumen und Hoffnungen gezeichnet – mehr dazu in „Am anderen Ende der Hotline“.

Preisverleihung

Im Rahmen der Abschlussgala wurden wieder die Filmpreise der Viennale vergeben – mehr dazu in wien.ORF.at.

Ihren Abschluss feierte die Viennale heuer mit dem bittersüßen Liebesdrama „Un beau matin“ („An einem schönen Morgen“). Im neuen Spielfilm der französischen Regisseurin Mia Hansen-Love spielt Lea Seydoux eine alleinerziehende Mutter in Paris, die ihren kranken Vater und ihren neuen Liebhaber unter einen Hut bringen muss – mehr dazu in „Liebeswirren in Paris zum Abschluss“.

Und indem die 60. Ausgabe des Wiener Filmfestivals begangen wurde, wurde auch eine Form der Kulturgeschichte gefeiert: eine Öffnung Wiens und Österreichs hin zum internationalen Filmterrain sowie zu einem neuen Selbstverständnis des Landes. Und somit feierte man eigentlich auch große Kultureinrichtungen, die teils vom Boden der Stadt verschwunden sind – mehr dazu in „Als Wien von der Welt träumte“.