Die unterschätzte Republik

Als „Rest, der vom alten Reich übrig geblieben ist“, als „Rumpfstaat“ und „Staat, den keiner wollte“ hat man die Erste Republik bezeichnet. Was vor hundert Jahren auf den Trümmern der Habsburgermonarchie entstand, war umstritten, wurde oft bekrittelt. Bedenkt man den Zeitdruck, unter dem sich das neue Österreich finden musste, und die Umstände einer großen Hungersnot nach dem Krieg, dann wurde in den Tagen und Monaten seit dem Herbst 1918 Erstaunliches zuwege gebracht - mit Lehren für die Gegenwart.
„Die unterschätzte Republik“, so nennt der Historiker Oliver Rathkolb (wie einst auch Hugo Portisch und Sepp Riff) das Projekt des jungen Staates Österreich, an den viele nicht glauben konnten. Dennoch hat diese zunächst wackelige Republik Bedeutendes und auch sehr Modernes geschaffen, denkt man etwa an die erste Verfassung des Landes oder auch die Sozialgesetzgebung.
Dass auf den Resten der Monarchie zunächst ein über weite Strecken friedlich gebildetes Staatswerk entstehen konnte, war keineswegs selbstverständlich. „Im Drange der Not“, wie es der Sozialdemokrat Karl Renner und erste Kanzler der Republik in den Novembertagen 1918 notierte, war vieles, so auch die Gesetzesvorlage „über die Staatsform von Deutschösterreich“, entstanden. Und auch die christlich-soziale Seite gab sich in der Stunde null der neuen Republik durchaus pragmatisch, so etwa der noch für die Monarchie tätige Politiker und Prälat Ignaz Seipel: Die Katholiken Österreichs sollten helfen, appellierte er, „den freien, wahrhaft demokratischen Staat zu bilden“ - alles Weitere werde „sich finden“. „Der ganze Zusammenbruch hätte vermieden werden können, wenn in unserer Politik ein wahrhaft demokratischer Geist geweht hätte“, so der Politiker, der später in der Republik noch Bundeskanzler werden sollte. Für Seipel war die Erinnerung (wohl auch an die alte Größe) „das Einzige“, was Deutschösterreich zusammenhielt.

Zeitzeugen: Der 12. November 1918

Junge Schauspielerinnen und Schauspieler lesen Zeitzeugenberichte aus dem Oktober und November 1918
„Die erste Republik war geprägt davon, was sie von der Monarchie geerbt hatte, vielleicht mehr noch, was sie durch ihren Zerfall verloren hatte“, konstatiert der Historiker Lothar Höbelt in seinem neuen Buch zum „Provisorium“ Erste Republik. Bei allen ideologischen Gegensätzen der drei größeren politischen Lager, Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Deutschnationalen, setzten sich in den ersten Monaten der Republik jene Kräfte durch, die einen Kompromiss in der Mitte anstrebten und die extremen Ränder ihrer Partei (etwa die Sozialdemokratie mit ihrem linksrevolutionären Flügel) auszubremsen wussten. Das war keineswegs selbstverständlich. Doch die Zeit drängte.
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Kollabierende Systeme, beschleunigter Zerfall

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Die Monarchie löste sich, gerade auch vom Hass der einzelnen Nationen auf das Habsburgerregime getrieben, in gespenstischer Eile auf. Und auch im Nachbarstaat Deutschland kollabierte die alte politische Ordnung.
„Dem deutschen Teil des alten Österreichs war zunächst gewiss am wenigsten an einer Auflösung der Donaumonarchie gelegen“, konstatiert der Historiker Walter Rauscher in seiner Geschichte der Ersten Republik: „Binnen weniger Tage musste man jedoch erkennen, dass in den anderssprachigen Gebieten des Doppelstaats die zentrifugalen Kräfte eindeutig die Oberhand gewonnen hatten und die Richtung vorgaben.“
„Logisch“, so auch ein Kommentar aus dem „Prager Tagblatt“ am Tag der Republiksausrufung 1918, werde man ohnedies nicht erklären können, was sich im November 1918 „in der Kaiserstadt“ abgespielt habe: Wie es sein konnte, dass „der alte Glanz des Wiener Hofes in wenigen Tagen erlosch und alles in Vergessenheit (geriet), was vor noch gar nicht so langer Zeit die breiten Massen der Wiener gefangen“ gehalten habe. Auf deutschösterreichischem Boden sei eine Bevölkerung zurückgeblieben, „die, politisch sehr konservativ und mit den monarchischen Einrichtungen eng verwachsen, republikanischen Gedanken fast unzugänglich erschien“, so der Kommentar aus Prag.
Wie aber konnte sich dann doch ein Gemeinwesen finden, das, so Hans Kelsen, immerhin Motor hinter der österreichischen Bundesverfassung, „jeden inneren Sinns, jeder politischen Idee“ entbehrte? Die Tage im Oktober und November 1918 besiegeln auf teils dramatische und beschleunigte Weise das Ende der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, das sich rudimentär seit den Unruhen im Jänner 1918 abgezeichnet hatte. Die Nationalitäten des Vielvölkerstaates strebten, gerade auch auf der Grundlage des von US-Präsident Woodrow Wilson ebenfalls im Jänner 1918 proklamierten Selbstbestimmungsrechts der Völker, im Habsburgerreich auseinander.

Letzter Rettungsversuch für die Monarchie

Am 16. Oktober 1918 unternahm Kaiser Karl eine Art letzten Anlauf für die Rettung einer Vielvölkerföderation auf mitteleuropäischem Boden. Mit dem „Völkermanifest“ sollte Österreich, „dem Willen seiner Völker gemäß“ zu einem Bundesstaat umfunktioniert werden. Jede Nation könne demnach auf ihrem „Siedlungsgebiet“ ihr eigenes staatliches Gemeinwesen umsetzen. Bis zur Umsetzung würden alle bisherigen Einrichtungen des Reiches „zur Wahrung der allgemeinen Interessen bestehen bleiben“. Die Völker, die Karl adressierte, waren nur noch jene der westlichen Reichshälfte, nicht mehr die Ungarn. Die Tschechen wiederum hatten zu diesem Zeitpunkt schon einen von den Alliierten akzeptierten tschechischen Nationalrat im Pariser Exil unter Thomas Masaryk und Edvard Benes.

Republik der verpassten Chancen

Der Historiker Oliver Rathkolb über den Transfer der Macht von der Monarchie zur jungen Republik und die Leistungen gerade in einem schwierigen Übergangsprozess.
„Als Völkerbund, dem die Völker fehlen“, bewertete „Die Neue Freie Presse“ dieses Unterfangen des Kaisers. Tatsächlich holten sich Karl und die von ihm noch im Amt gehaltene Regierung Hussarek nur Abfuhren für dieses Vorhaben. Die Vertreter der slawischen Völker lehnten Karls Plan einhellig ab. Schon zwei Tage später würde Thomas Masaryk die formelle Unabhängigkeit der tschechoslowakischen Nation erklären. Und in Lemberg (Lwiw) konstituierten die Ruthenen einen ukrainischen Nationalrat. In Agram (Zagreb) kam es zu einer großen Demonstration, bei der sich 50.000 Menschen für eine südslawische Republik aussprachen – der Nationalrat sei die einzige Autorität der Kroaten, so die Losung auf den Straßen.
Für das Habsburgerreich war dieser Exodus seiner Völker nicht nur von politischer Dimension. Bald schon sollten sich die Soldaten der einzelnen Nationen aus den Kampfverbänden an den verschiedenen Fronten lösen; und für die Versorgung der Hauptstadt Wien sollte die Loslösung Tschechiens verheerende Versorgungslücken mit Nahrungsmitteln mit sich bringen.

Der Hunger und die Armut nach dem Krieg - Österreich im Herbst 1918

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Kriegsküche in Wien-Penzing
Wien Museum
Ausspeisung in Wien
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Frauen und Kinder durchstöbern einen Mistplatz in Wien (1920)
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Anstellen um Kohlen
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Holzsammler im Wienerwald
Stadtarchiv Salzburg
Hungerdemonstration in Salzburg
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Kriegsheimkehrer
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Warteschlange vor einem Meinl-Geschäft in Wien
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Englische Hilfslieferung für Wien
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Warteschlange Am Hof
Wien Museum
Warteschlange in Wien

Eine Versammlung mit Folgen

Als sich die deutschsprachigen Abgeordneten Cisleithaniens (des westlichen und nördlichen Teils der Monarchie) entsprechend den Erwartungen des „Völkermanifests“ des Kaisers am 21. Oktober um fünf Uhr nachmittags im Sitzungssaal des niederösterreichischen Landhauses versammeln, ist rasches Handeln gefordert. Der Ort ist von Symbolkraft, haben doch von dieser Stelle aus die Geschehnisse des 1848er-Jahres ihren Ausgang genommen. Grundlage für die personelle Bestückung der Zusammenkunft ist das Ergebnis der Reichsratswahl von 1911. Nicht ganz den aktuellen politischen Realitäten entsprechend, haben die deutschnationalen und liberalen Abgeordneten das Übergewicht gegenüber den Christsozialen und Sozialdemokraten.
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Historische Zusammenkunft im niederösterreichischen Landhaus in Wien: die deutschösterreichischen Abgeordneten auf der Suche nach einer provisorischen Nationalversammlung
„Das deutsche Volk in Österreich ist entschlossen, seine künftige staatliche Ordnung selbst zu bestimmen, einen selbständigen deutschösterreichischen Staat zu bilden und seine Beziehungen zu den anderen Nationen durch freie Vereinbarungen mit ihnen zu regeln“, lautet der historische Beschluss der Versammlung. Einer Annexion von Gebieten, die von deutschen Bauern, Arbeitern oder Bürgern bewohnt würden, werde man sich „widersetzen“, so ein weiterer Beschluss, der schon bald an den politischen Gegebenheiten scheitern sollte. Drei Abgeordnete werden auf der Basis von Zurufen zu gleichberechtigten Präsidenten dieser „Provisorischen Nationalversammlung der Deutschen in Österreich“ gewählt: der Sozialdemokrat Karl Seitz, der christlichsoziale Jodok Fink und der deutschnationale Linzer Bürgermeister Franz Dinghofer.

Die erste Regierung ohne kaiserliche Zustimmung  


Die Sozialdemokraten sprachen sich im Rahmen der Versammlung für eine Republik als Staatsform aus, alle anderen Parteien bevorzugten noch eine demokratische Verfassung im Rahmen monarchischer Strukturen. Ein eigener Vollzugsausschuss, der bald Staatsrat heißen würde, sollte das deutsche Volk in Österreich gegenüber den verbleibenden Habsburger-Kabinetten, aber auch gegenüber US-Präsident Wilson vertreten und auch die Position Deutschösterreichs in den Friedensverhandlungen vorbereiten.
Grafik zeigt Österreichs Staatsgebiet 1914 und 1919 Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA
Auf dem Ballhausplatz, wo noch die kaiserliche Regierung tagte, witterte man eine letzte Rettung der Monarchie: sich in der letzten Minute von der Bündnisverpflichtung gegenüber Deutschland, wo sich die Abdankung Wilhelms II. abzeichnete, abzusetzen. Außenminister Gyula Graf Andrassy akzeptierte die Forderungen Wilsons und ersuchte um die Herstellung von Waffenstillständen an allen Fronten der Donaumonarchie. Bei manchen Abgeordneten sorgte diese Haltung für Empörung: Dachten die einen, Österreich wollte sich erneut die Sympathie der slawischen Nationen im Reich sichern, so sahen etwa die Sozialdemokraten durch das Absetzen von Deutschland die republikanischen Anschlusspläne Österreichs an den großen Nachbarn in Gefahr.
Als die österreichische Nationalversammlung am 30. Oktober wieder im niederösterreichischen Landhaus zusammentrat, harrten bereits Tausende Wienerinnen und Wiener in der Herrengasse, um die Beschlüsse zu hören, die über einen offenen Balkon an die Menschenmenge gerichtet wurden. Gewählt wurde der 20-köpfige Staatsrat als Vollzugsorgan der Provisorischen Nationalversammlung, und mit dem Kabinett Karl Renner I wurde erstmals eine Regierung ohne Einbindung des Kaisers ernannt. Oberste Gewalt im neuen Staat war nun die Nationalversammlung, Deutschösterreich eigentlich ein originärer Staat. Allein, das Kabinett des Kaisers arbeitete immer noch - und auf den Straßen Wiens sorgten rückkehrende Soldaten für eine verbreitete Verunsicherung. „Die zurückströmenden Truppen überschwemmen ein Land, das selbst nichts hat“, notierte der Staatssekretär für Ernährungsfragen, Johann Löwenfeld-Russ, einigermaßen verzagt.

Das verstolperte Ende der Monarchie

Am 2. November treten der letzte Außenminister, Graf Gyula Andrassy, und der k. u. k. Finanzminister Freiherr von Spitzmüller zurück, am 3. November nimmt Kaiser Karl die Waffenstillstandsbedingungen in Baden bei Wien an, gibt zugleich aber in letzter Minute das Oberkommando für die Armee an Feldmarschall Hermann Kövess ab, der wiederum von dieser Maßnahme nichts wusste. Die entstandene Unsicherheit und die zu frühe Feuereinstellung durch das habsburgische Heer wird Hunderttausende Soldaten in Kriegsgefangenschaft bringen.
„Wir in Österreich sind in der traurigen Lage, nicht die Vormacher, sondern die Nachhinkenden zu sein“, notierte Victor Adler, Außenminister der Staatsregierung Renner I, wenige Tage vor seinem Tod in sein Tagebuch. Deutschland hatte zu diesem Zeitpunkt (wir schreiben den 8. auf 9. November) die Republik in Berlin ausgerufen. Und führende Sozialdemokraten hofften umso mehr auf ein Aufgehen in der neuen Deutschen Republik (was nicht nur diese ablehnt, sondern auch die Alliierten in den Verhandlungen von Saint-Germain unterbinden werden).

Die Zeit läuft ab

Für Kaiser Karl, der für sein Umfeld an den letzten Tagen eine große „Unwirklichkeit“ und „Leere“ ausstrahlt, läuft die Zeit ab. Drei Minister, darunter Ignaz Seipel, werden an der Verzichtserklärung des Kaisers arbeiten, die dieser schließlich am 11. November 1918 widerwillig mit Bleistift unterzeichnet. „Nach wie vor von unwandelbarer Liebe für meine Völker erfüllt, will ich Ihrer freien Entfaltung Meine Person nicht als Hindernis entgegenstellen“, heißt es in der Erklärung des Kaisers.
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Ignaz Seipel, katholischer Theologe und Politiker: Er war Minister in den letzten Tagen der Monarchie und sollte in der Ersten Republik noch zweimal Bundeskanzler werden
„Nun ist das schwarz-gelbe Österreich für immer tot“, hält der allerletzte Finanzminister des Reiches, Josef Redlich, zum Akt der Unterzeichnung fest. Auf die Thronrechte verzichtet der Kaiser, der bald mit seiner Familie Wien Richtung Eckartsau verlassen wird, nicht.
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Widerwillig und mit Bleistift unterzeichnet der letzte Kaiser seine Verzichtserklärung
Menschenmenge vor dem österreichischen Parlament am 12.November 1918 OeNB

Der 12. November 1918

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Am 12. November kommen schließlich über hunderttausend Menschen auf der Wiener Ringstraße zusammen, um vor dem Parlament die Ausrufung der Republik zu erleben. Diese geschieht in einem Herbst, in dem Hunger und Desorientierung die Stimmung in der ehemaligen Kaiserstadt Wien bestimmen. In den Bundesländern bilden sich neue Landesregierungen. Wie es realpolitisch weitergeht, kann noch niemand abschätzen.
Wie die anderen neuen Staaten im Habsburgerreich will man sich eben als Nachfolgestaat und nicht als Rechtsnachfolger definieren - eine Haltung, die im kommenden Jahr bei den Verhandlungen von Saint-Germain drastisch enttäuscht werden soll. Auch dass man sich als neutraler Staat und mit anderen Staaten befreundet erklärt, lässt die Welt vergleichsweise gleichgültig. Karl Renner wird in der Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung erklären, dass Deutschösterreich ein „freier Volksstaat“ sei und alle politischen Kräfte beim Wiederaufbau des Staates zusammenarbeiten müssten. An der Behandlung Deutschösterreichs werde sich auch, so Renner, Wilsons Anspruch über die Selbstbestimmung der Völker, beweisen. Sobald das „wesentliche Gemeinschaftsleben“ gesichert sei, solle es Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung geben. Diese würde dann auch eine endgültige Verfassung Deutschösterreichs auf den Weg zu bringen haben.
Wien Museum/ÖNB (Montage)
Das Bild des früheren Kriegschronisten Rudolf Konopa zum 12. November 1918 im Wien Museum ist mittlerweile so etwas wie die bekannteste Farbdarstellung der Ereignisse vom Tag der Republiksausrufung. Zurzeit zu sehen in der Schau „Die erkämpfte Republik“ im Wien Museum.

Bekenntnis zur „deutschen Nation“

Eindeutig bekennt sich Renner zur „deutschen Nation“ und zur gemeinsamen „Schicksalsgemeinschaft“ mit Deutschland.  Seine Rede wird er unter allgemeinem Beifall mit den Worten „Heil unser deutsches Volk und Heil Deutschösterreich!“ schließen. Vor den Toren des Parlaments verkündet schließlich der Großdeutsche Franz Dinghofer als Präsident der vorläufigen Nationalversammlung die Gründung der deutschösterreichischen Republik. In den Jubel der Masse mischt sich von den Rändern auch Missstimmung. Kommunisten reißen von der Rampe des Parlaments die weißen Streifen aus den aufgehängten Fahnen, um mit rein roten Fahnen an die Räterepubliken der damaligen Zeit zu erinnern.
Die vom Literaten Egon Erwin Kisch angeführten Rotgardisten deuteten das ratternde Herunterlassen der Rollbalken an den Parlamentsfenstern als Maschinengewehrfeuer und gaben Schüsse ab. Eine Panik war die Folge, zwei Menschen fanden im Gedränge ihren Tod. Während man im Parlament die Sitzung wieder aufnahm, schossen Rotgardisten in die Säulenhalle des Parlaments und verletzten den Pressechef des Staatsrates, Ludwig Brügel, schwer. Am Ende konnte die Sitzung der Nationalversammlung positiv beschlossen werden. Man habe alle Tagesordnungspunkte zu Ende beraten, so Präsident Dinghofer, der mit den Worten schloss: „Wir haben zum Ausdruck gebracht, dass wir fest entschlossen sind, die schwere Aufgabe, die auf uns lastet, zu einem guten Ende zu führen.“
picturedesk.com/ÖNB-Bildarchiv/Kobe, Albin (Montage)
Wesentliche Akteure in der Stunde null nach der Monarchie: Der Christlichsoziale Jodok Fink, der Sozialdemokrat Karl Renner und der Großdeutsche Franz Dinghofer

„Ein welthistorischer Tag ist vorbei“

„Ein welthistorischer Tag ist vorbei“, notiert der Arzt und Schriftsteller Arthur Schnitzler zum 12. November: „In der Nähe sieht er nicht großartig aus.“ Schnitzler ist mit dieser Haltung nicht nur repräsentativ für die etablierten Intellektuellen, die ihren Status schon im alten Herrschaftssystem hatten und die das „Strizzi-“ und „Wirrköpfetum“ junger, revolutionär gesinnter Literaten wie Kisch oder Franz Werfel mit Skepsis betrachten - mit seiner Stimme ist er auch nicht allein in einem Bürgertum, das sehr mit den neuen Zeiten fremdelt. Weder die progressiven Weltbürger noch das konservativ eingestellte Bürgertum können mit der neuen Republik tatsächlich viel anfangen. Eine Fahrt nach Österreich, so Schnitzlers Kollege Stefan Zweig, erfordere „Vorbereitungen wie eine Expedition in ein arktisches Land“.
Wien Museum, Foto: Richard Hauffe
So erlebten die Wienerinnen und Wiener am Fuß der Parlamentsrampe die öffentliche Ausrufung der Republik
Die „Wiener Republik“, wie Deutschösterreich auch genannt wurde, verfügte weder über eine nennenswerte Armee noch über das nötige Steuermonopol. Die vom Staat beanspruchten Gebiete, vor allem jene auf tschechischem Boden, sollten sich als politische Luftschlösser erweisen, und auch in den westlichen Bundesländern stand man dem zum „Zentralismus“ neigenden Wien komplett ablehnend gegenüber. „Der Wiener liebt Wien, der Tiroler Tirol und die Länder wollen nicht von Wien aus regiert werden“, fasste der Gesandte der Schweiz in Wien seine Eindrücke damals zusammen.
Als die österreichische Bevölkerung am 16. Februar 1919 an die Urnen schreitet und nun auch Frauen erstmals wählen dürfen, erzielt man ein Wahlergebnis, das auch noch später ein beinahe typisch österreichisches Ergebnis sein wird. Zwei große Parteien vereinen die Hauptlager hinter sich, keiner, weder Sozialdemokraten noch Christsoziale, holt aber die absolute Mehrheit. Im Jahr 1919 sollte sich das als Glücksfall erweisen: Der Zwang zu einer Großen Koalition ermöglicht für beide großen Blöcke den Zug zur Mitte - und zur zeitweiligen Isolierung der Ränder - bzw. verhindert, dass eine der beiden großen Parteien, wie Walter Rauscher schreibt, „unrealistische Versprechen einlösen zu müssen“. Ohnedies liegen von den Verfassungsfragen bis zur Sozialgesetzgebung große Brocken vor einer künftigen Regierung, die auch bald den Canossagang nach Saint-Germain bei Paris antreten wird müssen.
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Der Staat und die Rolle der Länder

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Deutschösterreich - das sei kein Staat gewesen, „sondern ein lockeres Bündnis von Ländern, die beim Zerfall des alten Reiches übrig geblieben waren“, notierte der Sozialdemokrat Otto Bauer in seiner Geschichte zur jungen österreichischen Republik. Zwei Tage nach Ausrufung der Republik nahm man im Parlament ein „Gesetz über die politische Machtübernahme in den Ländern“ an - doch wie bei so vielen anderen Fragen in den jungen Tagen Deutschösterreichs blieben zentrale Aspekte offen, etwa die, welche Verantwortung den Landeshauptleuten gegenüber der Zentralregierung zukommen sollte.
„So wurden die Länder eigentlich Republiken, die einen Nährboden für partikularistische Tendenzen bildeten“, befindet der Kärntner Historiker Hellwig Valentin. Die Idee eines Zusammenhalts der Länder nahm ab, je weiter westlich man auf den Boden der jungen Republik schaute.
In Salzburg strebten politische Kräfte zuerst eine „alpenländische Republik auf kantonaler Grundlage nach Schweizer Muster“ an, so das Mitglied der Salzburger Landesversammlung Johann Hasenauer. Vorarlberg löste sich mit der Republiksgründung von Tirol und träumte rasch von einem Beitritt zur Schweiz, die als „Oase des Rechts in der Wüste des allgemeinen Umsturzes“ galt. Tirol konnte den Traum einer „Einheit Tirols“ durch die schon im Krieg versprochene Abtrennung Südtirols und des Trentino an Italien nur kurz träumen. Nachdem Südtirol verloren ging, kam es zu einer starken Annäherung Tirols an Deutschland, was 1921 zu einer Volksabstimmung führte, wo sich eine überwältigende Mehrheit für den Beitritt zu Deutschland entschied - den allerdings die Tiroler auf Grundlage der Beschlüsse der Alliierten ebenso wenig vollziehen konnten wie die Salzburger, die sich im gleichen Jahr noch eine Spur vehementer für einen Anschluss ausgesprochen hatten.
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In Salzburg, Tirol und Vorarlberg votierte die Bevölkerung nach 1918 für eine Loslösung von der neuen Republik. Vorarlberg wollte zur Schweiz, Tirol und Salzburg träumten von einem Beitritt zu Deutschland.

Ein Staat sucht seine Grenzen

Ursprünglich strebte der junge Staat ja, so der Beschluss der provisorischen Nationalversammlung vom 22. November 1918, „das geschlossene Siedlungsgebiet der Deutschen“ in der ehemals österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie an. Allerdings mussten da noch die Friedensverhandlungen die konkreten Grenzverläufe festlegen, und vom Anspruch auf das Sudetenland, die deutschsprachigen Gebiete in Böhmen und Mähren, bzw. die Südsteiermark blieb am Ende nichts übrig. Zur Frage des Schicksals von Südtirol wusste man vor dem Eintritt in die Friedensverhandlungen von Saint-Germain im Mai 1919, dass Italien es im Londoner Vertrag von 1915 für den Eintritt in den Krieg aufseiten der Entente zugesprochen bekommen hatte. Überdies musste Österreich mit der Friedenskonferenz von Saint-Germain zur Kenntnis nehmen, dass die Anschlussfrage an Deutschland bei den Alliierten nicht mehr erwünscht war.

Zum Durchklicken: Das Verhältnis der einzelnen Länder zum neuen Staat

Doch auch mit Saint-Germain waren die Grenzen Österreichs noch nicht endgültig gezogen. De facto dauerte es noch bis 1921, bis die Konturen der jungen Republik nach außen fix waren. Einerseits, weil die Länder teils vom „Wasserkopf Wien“ wegstrebten. Andererseits entschieden sich viele politische Fragen erst bis Ende 1921. Die Angliederung des Burgenlands (samt der Abtretung Soprons/Ödenburgs) vollzog sich ja erst mit 1. Jänner 1922. Und alle anderen Meinungsbildungsprozesse rund um den Verbleib bestimmter Bundesländer bei Österreich waren erst mit diesem Jahr abgeschlossen.
Die Verfassung von 1920 stärkte den Gesamtstaat und drängte zu starke Abspaltungstendenzen in den Ländern zurück. Allerdings trug man auch mit der Einrichtung der Länderkammer den Mitspracheinteressen der Länder Rechnung und entschärfte so teilweise die zentralistischen Ansätze, die mit der Republiksausrufung im Herbst 1918 vorlagen. Die Skepsis gegenüber Wien, die nicht selten auch antisemitisch unterfüttert wurde, blieb in den Ländern aber bestehen. Je weiter westlich, desto größer die Ablehnung einer Hauptstadt, die für den neuen kleinen Staat eindeutig zu groß dimensioniert war - und in der sich auch in sozialer Hinsicht komplett andere Fragen stellten als in anderen Teilen des Bundesgebiets.
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Die Träumer der Revolution

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Dass Österreich einen relativ unblutigen Übergang von der Monarchie zu einer nicht geliebten Republik erlebte, bleibt bis heute ein bemerkenswerter Vorgang. Doch es gab auch hierzulande einen Traum von der Revolution. Es waren ein paar junge Literaten, die die Revolution wollten, aber ihre Konsequenzen nicht zu Ende dachten.
Der Salzburger Germanist Norbert Christian Wolf stellt zu den jungen Revolutionären in seinem eben erschienenen Buch „Revolution in Wien“ einen markanten Bruch im literarischen Feld fest: den zwischen einer etablierten Generation von Schriftstellern, die sich bei allen politischen Unterschieden mit der neuen Republik schwertaten und die ihre alten sozialen Positionen in unsicheren Zeiten verteidigen wollten, und einer neuen Generation von Literaten, die teils mit revolutionärer Begeisterung auf den Zusammenbruch der alten Ordnung reagierten.
Die einen unter den Jungen, etwa Egon Erwin Kisch und Franz Werfel, suchten den Aufstand über die Barrikaden. Andere wie der junge Robert Musil sehnten sich nach der neuen großen egalitären Idee und nahmen zunächst als politische Mitarbeiter am Umbruch teil - Musil etwa war Pressemitarbeiter im jungen, sozialistisch geführten Außenministerium.

Zögerliche Eliten und junge Wilde

Der Germanist Norbert Christian Wolf über die Rolle der Literaten am Übergang von Monarchie zu Republik - und warum manche unter ihnen die große Revolution träumten
„Literaten sind für den gesellschaftlichen Übergang von Monarchie zu Republik interessant“, erklärt Wolf gegenüber ORF.at, „weil sie aus einer bürgerlichen Schicht kommen, die zunächst begeistert war vom Krieg. Im Lauf des Krieges haben sie durch den Lauf der Ereignisse den Glauben an die Monarchie verloren und bewerten zunehmend schon die Vergangenheit Österreich-Ungarns negativ.“
Die Jungen, so Wolf, hätten sich teilweise für einen radikalen gesellschaftlichen Neubeginn eingesetzt, seien dabei aber von den Älteren aus dem liberalen Wiener Bürgertum kritisch beäugt worden, „allen voran von Karl Kraus, der stark darauf bedacht war, seine Position als alleiniger Kriegsgegner zu verteidigen“. Kraus polemisierte gegen die neue Generation von Autoren und erinnerte sie spitz daran, dass sie direkt vom Kriegspropagandaministerium zur Roten Garde übergelaufen seien.

Arbeit an der medialen Front

Vor allem Kisch inszenierte sich auch medial geschickt als Anführer und bemüht sich gerade auch um Präsenz in den Zeitungen im Herbst 1918.  „In der Roten Garde hatte sich (...) so ziemlich alles gesammelt, was es zur Zeit an unruhiger Phantasterei und revolutionärem Köhlerglauben gab“, schreibt Julius Deutsch in seinen Memoiren: „Ihr Haupt war der Prager Schriftsteller Egon Erwin Kisch, ein nervöser Literat, dem die Rote Garde ein malerischer Hintergrund eigenen Heldentums zu werden versprach.“ Nachträglich wird Kisch das Wirken der Roten Garde als das einer verantwortungsvollen, im Sinne der Staatsräson agierenden Truppe stilisieren, deren ursprüngliches Malheur vielleicht darin bestand, die Konsequenz revolutionärer Akte einfach nicht bis ins Letzte konsequent durchgedacht zu haben.
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Rotgardisten im Herbst 1918
Die Idee einiger Rotgardisten, die kaiserliche Residenz in Schönbrunn zu besetzen, beschreibt Deutsch in seinen Memoiren als einen „in wilder Hast“ zustande gekommenen Akt, freilich einen, bei dem die Folgen nicht abgeschätzt wurden: „Hätte die Rote Garde den Kaiser in ihre Gewalt gebracht, dann hätte die Republik, die für die Sicherheit des bisherigen Herrscherhauses verantwortlich war, leicht in eine Abhängigkeit zur Roten Garde kommen können.“
In seinem Buch schildert der Germanist Wolf vor allem die Wochen im Herbst 1918, als zahlreiche Soldaten desillusioniert von der Front heimkehrten und den Zusammenbruch der Monarchie am eigenen Leib erlebten. Die Hoheitszeichen der k. u. k. Armee hatten ausgedient, und im Abreißen der Kokarden von den Kappen der Soldaten vollzog sich so etwas wie ein symbolischer Bruch mit der alten Ordnung. „Von der Kappe des jungen Soldaten war die kaiserliche Kokarde verschwunden und durch ein Bändchen mit den polnischen Nationalfarben ersetzt worden“, schilderte der junge Manes Sperber eine Szene am „Vormittag des ersten oder zweiten Novembers 1918“ auf dem Wiener Nordbahnhof: „Das war ein Zeichen der Meuterei“, folgerte Sperber: Der Soldat habe den Mund geöffnet, „wie um einen wütenden Schrei auszustoßen, doch blieb er stumm: Das entsetzte Staunen machte ihn stumm.“

Reaktionen auf „Implosion der Hierarchien“

Die von Wolf konstatierte „Implosion der gesellschaftlichen Hierarchien“ wurde freilich unterschiedlich beantwortet. Hatten manche gehofft, die zurückkehrenden, enttäuschten Soldaten würden wie an anderen Orten die Träger einer neuen Revolution sein, mahnte die bürgerliche Presse im Herbst 1918 sehr schnell wie auch von Wolf zitiert, dass man „nicht in die Fehler Russlands verfallen“ wolle.
Überhaupt wurde vieles, was sich als neue, moderne Massengesellschaft schon im Herbst 1918 andeutete, von den damals etablierten Eliten als reale Bedrohung eingestuft. „Dass der revolutionäre Übergang von der Monarchie zur Republik für maßgebliche Teile der bisherigen Eliten einer Deklassierung gleichkam, erhöhte für diese Gruppen nicht die Attraktivität der neuen Staatsform“, sagt Wolf. Die Revolutionäre in der Roten Garde um Autoren wie Kisch hätten bald feststellen müssen, dass besonnene Kräfte, etwa aus der Sozialdemokratie, das Ruder in die Hand genommen hatten. „Revolution machen heißt aber nicht alles zusammenhauen, sondern Revolution ist die Veränderung der politischen und sozialen Ordnung“, las man dazu in der „Neuen Freien Presse“.

„Angeknackstes Männerbild“

Die Literaturhistorikerin Daniela Strigl beurteilt den Zusammenbruch der Monarchie und die Phase des Übergangs auch als eine Zeit, die einen großen gesellschaftlichen Übergang plastisch macht. Frauen hätten während der Kriegszeit Männerberufe übernommen - seien dann nach dem Krieg wieder von Männern etwa aus Tätigkeiten wie Schaffnerin zu sein rausgedrängt worden. „Angeknackst“, so Strigl, „war aber durch die vielen invaliden Kriegsheimkehrer auch ein etabliertes Männerbild, das mit der Zeit von 1914 bis 1918 angeknackst wurde.“ Gerade im literarischen Feld, so erinnert Strigl an Zeitgenossen wie etwa Karl Kraus, hätten die Männer tunlichst versucht, Frauen und vermutete „Emanzen“ aus dem Feld der etablierten Literatur heraus zu halten. Doch auch da sprach die Zeit am Ende eine andere Sprache.

Amputierte Männlichkeit

Die Literaturhistorikerin Daniela Strigl über das angeknackste Männerbild nach 1918. Vor dem Kriegsende hatten viele Frauen Männerberufe ausüben müssen.
ORF.at/Christian Öser

Die Lehren aus dem Anfang

ORF.at/Christian Öser
Blickt man auf die rasche und doch größtenteils friedliche Gründung dieser Ersten Republik, dann zeigt sich, wie viele Themen von damals das Land auch noch heute beschäftigen.
Der Antagonismus Bund - Länder verweist etwa auf die heiklen Jahre der Gründung. „Überhaupt musste das Land lernen, mit seiner Größe zu leben“, erinnert die Direktorin des nun eröffneten Hauses der Geschichte Österreich (HdGÖ), Monika Sommer, gegenüber ORF.at und fügt hinzu: „Für Österreich bedeutete dies, vor allem mit seiner plötzlichen Kleinheit zurechtzukommen.“ Beeindruckend und lehrreich bis heute bleibt für Sommer, wie sehr dieses Land aus dem Stand und ohne große Vorbereitung Demokratie lernen musste: „Plötzlich sah das Volk, dass es selbst Souverän war - was aber auch hieß, dass jeder und jede Einzelne nun für das Gelingen des Ganzen mitverantwortlich war.“
ORF.at/Christian Öser
Monika Sommer, Direktorin des Hauses der Geschichte Österreich: Ihre Institution wird nicht zuletzt auch der Ersten Republik wieder eine Sprache geben müssen
Für Sommer reichen alle Themen von damals hinein in unsere gesellschaftspolitische Gegenwart - wie damals stehe man vor der schwierigen Aufgabe, „zu definieren, was denn Österreich sei“. Das HdGÖ sieht sich in diesem Kontext als ein Vermittler für mögliche Antworten und als Austauschraum, sich auch in der Gegenwart sein Land zu erarbeiten.

Dialog in der Mitte

Beinahe alle Historiker und Experten, die sich zur Zeit der Republiksgründung äußern, betonen die Gesprächsfähigkeit, die zwischen den politischen Lagern gewahrt werden müsste. „Es ist der Erhalt der Gesprächsfähigkeit zwischen den Lagern, der entscheidend war - auch wenn das natürlich für alle Seiten Konzessionen bedeutete“, zieht etwa der Germanist Wolf sein Fazit über die Revolutionsforschung zum Herbst 1918. Hätten sich die extremen Kräfte in den Parteien durchgesetzt, hätte Österreich viel schneller in einer Phase bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen landen können, glaubt Wolf.
Für den Historiker Oliver Rathkolb ist nach wie vor der „beinahe fließende Übergang“ von einem System ins andere das Erstaunlichste an der „österreichischen Revolution“ - auch dass es so rasch gelungen sei, das Funktionieren staatlicher Strukturen wieder zu gewährleisten, indem die alten Eliten des Staates zusammengespielt hätten. Vieles, was Österreich gerade bis 1921 zuwege gebracht habe, sei bis heute vorbildlich und modern. Was der jungen Nation aber eindeutig gefehlt habe, sei eine klare, eindeutige nationale Identität, was sich dann an den späteren Brüchen im Staatsgefüge gezeigt habe.

Die Leistungen einer jungen Republik

Wann beginnt „unsere“ Geschichte?

Das Gedenkjahr, so vermutete die Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi in einem Artikel im „Standard“ im Jänner dieses Jahres, werde nicht „ohne Ambivalenzen“ sein. „Wir dürfen gespannt sein, ob bei Veranstaltungen nur pflichtgemäß über das Scheitern der Ersten und die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik gesprochen werden wird oder ob auch die heiklen, aber interessanten Themen zur Sprache kommen werden“, so ihr Argwohn. Letztlich, so Coudenhove, müsse man im Fall von 1918 auch davon reden, was „vorher war“, etwa verpackt in jene Frage: „Ist die Geschichte des Habsburgerreiches überhaupt ‚unsere‘ Geschichte? Oder überlassen wir diesen Teil den Fremdenverkehrsmanagern und Sisi-Nostalgikern?“ Wenn Österreich nun über die Grundfesten der Republik nachdenkt, so muss es ja feststellen, dass alle Institutionen des Landes, auch das neue Haus der Geschichte, eigentlich in alten (teils sogar imperialen) Gebäuden der Habsburger untergebracht sind.
Geübt, so zeigen es die meisten Gedenkbände zum Jubiläum der Republik, ist Österreich im Umgang mit seiner Geschichte ab 1945. Das Jahr 1918 markiert im Reden über die Geschichte des Landes eine viel fundamentalere Zäsur. Wie viel Distanz gibt es zum Davor? Wie viel Commitment zum Danach? Schon für die Zeit von 1918 bis 1921 muss der gesellschaftspolitische Diskurs lernen, mit Ambivalenzen und Widersprüchen umzugehen. Der Gedanke eines Anschlusses an Deutschland etwa war lagerübergreifend - und wenn auch innerhalb bestimmter politischer Lager durchaus umstritten. Für die Anfänge dieses jungen Staates gibt es keine einfachen Einteilungsschablonen, wohl aber gibt es zu lernen, dass viele Spannungen unter der Oberfläche des heutigen Österreichs durchaus in der Anlage dieses Staates modelliert sind. Die positive Bestimmung einer Geschichte der Republik hat durchaus noch einige Wahrnehmungshürden zu überwinden. Und leicht ist es immer noch, das junge Österreich im Sinne Doderers als den letzten selbstständig vor sich hin treibenden Teil eines Wracks aus den Zeiten der Monarchie zu sehen.

Verwendete Bücher

ORF.at
100 x Österreich. Neue Essays aus Literatur und Wissenschaft, hrsg. von Monika Sommer, Heidemarie Uhl und Klaus Zeyringer, Kremayr & Scheriau 2018
Helmut Andics: Der Staat, den keiner wollte. Molden Verlag, 1968 (vergriffen)
Stefan Karner (Hg.): Die umkämpfte Republik. Österreich von 1918-1938. Studienverlag, 2017
Lothar Höbelt: Die Erste Republik (1918-1938). Das Provisorium. Böhlau, 2018
Walter Rauscher: Die verzweifelte Republik. Österreich 1918-1922. Kremayr & Scheriau, 2018
Norbert Christian Wolf: Revolution in Wien: Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19. Böhlau, 1918

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