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Das große Sesselrücken im EU-Ei

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Es ist ähnlich wie im Straßenverkehr: Ohne Regeln, insbesondere dazu, wer Vorrang hat, geht auch im Verhältnis der Staaten untereinander nichts. So führte ein Streit darüber, welche Botschafterkutsche Vorrang hat, 1661 in London beinahe zu einem Krieg zwischen Frankreich und Spanien. Auch innerhalb der EU ist die Reihenfolge fix geregelt - bis hin zur Sitzordnung. Ab 1. Juli sitzt Österreich dann im „Ei“, dem neuen Gebäude des EU-Rats in Brüssel, ganz vorne - die frühere Außenministerin und EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner und der Spitzendiplomat Emil Brix erklären, was das bedeutet.

Im Ringelreihen ganz vorne

Immer am 1. Jänner und 1. Juli findet in der Union ein großes Sesselrücken statt: Die Regierungs- und Staatschefs und -chefinnen rutschen im Uhrzeigersinn um einen Sessel weiter und bewegen sich so langsam reihum - anders als beim Spiel „Reise nach Jerusalem“ freilich ohne Risiko, keinen Platz mehr zu finden. Es sei denn, man entscheidet sich, wie das Vereinigte Königreich, für den Austritt. Auch mit der turnusmäßigen Übernahme des Ratsvorsitzes durch Österreich ab 1. Juli verändert sich die Sitzordnung erneut.
Und mit den Regierungs- und Staatschefs bewegen sich auch alle Ministerinnen und Minister bei den verschiedenen Ratstreffen um je einen Platz weiter im Kreis der noch 28. Dasselbe Szenario wiederholt sich auch auf allen anderen Ebenen - von den wöchentlichen Sitzungen der Botschafterinnen und Botschafter bis hin zu den Treffen der mehr als 150 mit Fachpersonen besetzten Arbeitsgruppen. Nur zwei Ausnahmen gibt es - die sind aber höchst prominent: der Außenministerrat und der Gipfel der Regierungschefs. Doch dazu etwas später.
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Vorbild Rheinschifffahrt
Bereits in der ersten Internationalen Organisation, der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt, gab es einen Vorsitz, der alle zwei Jahre wechselte. Gegründet wurde die Organisation beim Wiener Kongress 1815, um die freie und sichere Schifffahrt auf der wirtschaftlich wichtigen Wasserstraße zu sichern.

Idee viel älter als EU

Vorbild für die rotierende Präsidentschaft ist der Völkerbund - die nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Vorläuferorganisation der heutigen UNO. Im Rahmen des Völkerbunds wurde vom damaligen französischen Außenminister Aristide Briand 1930 der nach ihm benannte Briand-Plan präsentiert, der als eine der wesentlichen Grundlagen für die spätere Entwicklung der Europäischen Union gilt. Briands Plan sah auch bereits eine wechselnde Präsidentschaft vor, die dann 1958 mit Inkrafttreten der Römischen Verträge und der Bildung der Europäischen Gemeinschaften verwirklicht wurde. Belgien hatte von den damals sechs Mitgliedern als erstes die Präsidentschaft inne, gefolgt von Deutschland, Frankreich und Italien

Ferrero-Waldner: „Selbstverständlich wichtig“

Sichtbar gemacht wird mit der Sitzordnung die Hierarchie von Staaten, und das ist zentraler Bestandteil des diplomatischen Protokolls. Was im 21. Jahrhundert auf den ersten Blick überholt wirken mag, hat gute Gründe und bis heute Gültigkeit, betonen sowohl die frühere Außenministerin und EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner als auch der erfahrene Botschafter und Leiter der Diplomatischen Akademie, Emil Brix, gegenüber ORF.at.

Mit Lächeln, Charme und Beharrlichkeit

„Selbstverständlich“, sagt Ferrero-Waldner, die früher auch Protokollchefin der UNO war, sei das Protokoll noch wichtig. Denn es gehe darum, „mit Höflichkeit, mit Respekt und mit Aufmerksamkeit gegenüber dem anderen ein positives Gesprächsklima zu schaffen“. Und Brix ergänzt: Ziel sei es, mit Hilfe des Protokolls möglichst viele Konflikte, die sich bei Verhandlungen ergeben könnten, auszuschalten. Und diese Funktion habe sich nicht erübrigt.
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Trump und der diplomatische Zoo

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Allerdings gibt es mit US-Präsident Donald Trump derzeit international einen Härtetest für die seit dem Wiener Kongress 1815 entwickelten Regeln der Diplomatie und des Protokolls. Trumps vieldiskutiertes Verhalten auf den beiden aufeinanderfolgenden Gipfeltreffen im Juni steht beispielhaft dafür: Zuerst stieß er die engsten Alliierten im Rahmen des G-7-Treffens vor den Kopf und am nächsten Tag kuschelte er beinahe mit Nordkoreas Diktator Kim Jong Un. Das Thema Trump und das schwer gestörte transatlantische Verhältnis - Stichwort Strafzölle - wird zweifellos auch den österreichischen Vorsitz beschäftigen.
„Im Idealfall“ könne man Leute wie Trump und den philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte „einhegen und dazu bringen, sich an die Spielregeln des multilateralen und diplomatischen Kontakts zu halten“, sagt Brix. Bei Trump habe er aber „nicht den Eindruck, dass es hier eine positive Wirkung des Protokolls geben kann“. Und Brix greift zum besseren Verständnis zu einem tierischen Vergleich: „Das Protokoll ist nicht etwas, womit man ein Tier im Zoo dazu bringt, dass es sich so verhält, wie man es für den Beobachter oder den Zoowärter gerne hätte.“
Trump betreibe eine „transaktionale Diplomatie“: Er sehe alles schwarz oder weiß, und es gehe in den Beziehungen ausschließlich um Deals. Für jede Leistung der USA muss es diesem Verständnis nach direkt eine Gegenleistung geben. Die Folge: Alles wird zur reinen Verhandlungsmasse, von Überflugrechten bis hin zu Rüstungskontrolle und Umweltschutz. Und: Es ist so ziemlich das Gegenteil von einer multilateralen Welt, die auf Regeln setzt, die alle einhalten müssen. Der „Economist“ warnte bereits im Vorjahr, die Welt könne dadurch „gefährlicher werden“. Etwa wenn Trump China erlauben sollte, internationale Regeln zu brechen, um dafür Unterstützung in den Verhandlungen mit Nordkorea zu bekommen.

Kann man Trump „einfangen“?

„Gewisse Gefahr für Multilateralismus“

Ferrero-Waldner sieht generell die „vielen protektionistischen, nationalistischen und isolationistischen Tendenzen“ kritisch. „Sie sind eine Herausforderung für die gesamte Politik und vor allem für den Multilateralismus.“ Gerade eine Organisation wie die EU müsse aber auf den Multilateralismus, den Ferrero-Waldner aktuell „einer gewissen Gefahr“ ausgesetzt sieht, bauen. Laut der langjährigen Außenministerin wird Österreich „im Rahmen der gemeinsamen EU-Außen- und -Sicherheitspolitik einen Schwerpunkt in effektivem Multilateralismus setzen“. Das sei gerade für Wien als Amtssitz der UNO und der OSZE wichtig. Hier erwartet sie, dass Österreich etwa beim Kampf gegen den Klimawandel und Terrorismus sowie im Umgang mit Migration Schwerpunkte setzt. „Denn Themen setzen, das kann ein EU-Vorsitzland immer noch.“
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Die Macht und das Informelle

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Transaktional oder multilateral - egal, wie man es anlegt: Beim Protokoll steht „natürlich in Wirklichkeit dahinter auch die Frage, wer die Macht hat“, sagt Brix. Das Protokoll diene aber dazu, diese Machtverhältnisse klarzustellen und keine Diskussion darüber aufkommen zu lassen. Gerade innerhalb der Europäischen Union wird laut Brix mit dem Protokoll möglichst viel an Gleichheit zwischen großen und kleinen Mitgliedsstaaten hergestellt. Das kommt insbesondere durch die rotierende Sitzordnung zum Ausdruck.
Im Vergleich zu anderen internationalen Institutionen sei das Protokoll innerhalb der EU jedenfalls „weniger wichtig“. Ziel sei es ja, eine möglichst enge Verbindung zwischen den derzeit noch 28 Staaten herzustellen. Und dafür brauche es viel an „informellen Dingen, wo das Protokoll keinen Platz hat und haben soll“. Das zeigten auch die informellen Ratstreffen, bei denen das Protokoll keine Rolle spiele - und folgerichtig auch kein Protokoll, also keine Mitschrift, des Besprochenen verfasst werde.
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Als Vorsitzland mehr Infos

Mit dem Vertrag von Lissabon, der die EU 2007 auf neue Beine stellte, wurde auch die Rolle des Ratsvorsitzes geändert. Es gibt seither Ländertrios - das Land, das aktuell den Vorsitz führt, arbeitet darin eng mit dem Land, das davor den Vorsitz innehatte, und jenem, das danach übernimmt, zusammen. So ist Österreich seit Juli 2017 im Trio mit Estland (Ratsvorsitz zweite Jahreshälfte 2017) und Bulgarien (Ratsvorsitzland im ersten Halbjahr). Auf diese Weise ist jedes Land de facto eineinhalb Jahre eng in die Führung des Rates eingebunden - das bedeutet vor allem informell ein Mehr an Informationen und Eindrücken. Insbesondere erhalten Vorsitzländer auf diese Weise oft einen besseren Überblick als sonst darüber, welche Positionen die einzelnen Staaten bei verschiedenen Themen vertreten.
Ständige Vertretung Österreichs bei der EU

Aufzeigen auf „Europäisch“

Ständige Vertretung Österreichs bei der EU
Doch zurück zur Sitzordnung: Die Gleichheit, die mit dem wechselnden Vorsitz geschaffen wird, hat natürlich auch ihren Preis - es fehlte und fehlt oft an Kontinuität. Das war auch der Grund dafür, einen ständigen Ratspräsidenten und eine ständige Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik zu installieren - seit 2014 sind das Donald Tusk und Federica Mogherini. Diese „Änderungen in den Machtverhältnissen“ im EU-Rat spiegeln sich auch im Protokoll.
Denn bei den EU-Gipfeln der Staats- und Regierungschefs und beim Außenministerrat führt nicht das Vorsitzland den Vorsitz. Diese Treffen werden von Tusk und Mogherini geleitet, Österreich wird protokollarisch gesprochen auch während des Ratsvorsitzes nur als Delegation daran teilnehmen. Auch am Tisch sitzen die heimischen Vertreter - konkret Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und FPÖ-Außenministerin Karin Kneissl - dann als reguläre Teilnehmer zur Rechten des Vorsitzes an der Längsseite. Am Kopfende sitzen Tusk beziehungsweise Mogherini - ihnen gegenüber Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beziehungsweise ein Vertreter der Kommission.
Dass die EU-Kommissarin und Außenbeauftragte Mogherini den Außenministerrat leitet und nicht die Außenministerin des Vorsitzlandes, mache deutlich, „dass es das Ziel ist, in der Außenpolitik mehr Gemeinsamkeit und Kontinuität zu erreichen“, sagt Brix. Und auch die Ergebnisse der Beratungen werden etwa von Tusk und Juncker präsentiert, nicht vom Regierungschef des Vorsitzlandes.

Das Taferl als Signal
Aufzeigen wie in der Schule entspricht nicht der EU-Etikette. Wer sich zu Wort melden will, muss vielmehr ihr oder sein Namenstaferl senkrecht aufstellen.

Der Spielraum des Vorsitzlandes

Abseits von solcher Signalwirkung mag die Frage des Vorsitzes zunächst banal erscheinen. Immerhin ist die Ratspräsidentschaft bei konkreten Gesetzgebungsplänen im Wesentlichen an die Vorgaben der EU-Kommission gebunden, die als einzige Institution Gesetzesvorschläge vorlegen darf. Allerdings haben Vorsitzende durchaus einen gewissen Spielraum - insbesondere dadurch, dass sie die Thematik jeweils präsentieren und dann auch darüber entscheiden, wer zum Wort kommt - und vor allem wann. Nimmt der Vorsitz zunächst Länder an die Reihe, die dem behandelten Vorschlag positiv gegenüberstehen, kann die Debatte eine andere Entwicklung nehmen, als wenn zuerst die kritischen Stimmen zu Wort kommen.

„Du musst schnell reagieren“

Alle Staaten, egal ob große oder kleine, hätten grundsätzlich die gleiche Möglichkeit zu sprechen, hier herrsche Gleichheit, sagt Ferrero-Waldner, die im Vorjahr ihre Autobiografie „Wo ein Wille, da ein Weg. Erfahrungen einer Europäerin und Kosmopolitin“ veröffentlichte. Einen wichtigen Tipp aus ihrer Zeit als Außenministerin und Kommissarin hat sie aber parat: „Selbstverständlich musst du schnell reagieren und Interesse zeigen, dass du sprechen willst.“ Und das gelte für alle „Formationen“ - also die nach Themen sortierten Gremien von den Ministerräten bis hin zu den Arbeitsgruppen.
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Sechs Monate lang ist die Regierungsriege in der Gastgeberrolle
Damit die Verhandlungen möglichst gut ablaufen, schulte die Diplomatische Akademie seit Jahresbeginn rund 1.500 Beamtinnen und Beamte - von Sektionsleitern bis zu Sachbearbeitern. Da es für Österreich nach 1998 und 2006 bereits die dritte Präsidentschaft ist, war das laut Brix aber schon mehr Routine als etwa für Länder, die zum ersten Mal an die Reihe kommen.

„Kennt den Kompromiss vor dem Konflikt“

Brix unterstreicht, es sei nicht Aufgabe des EU-Vorsitzes, den eigenen Einfluss zu erweitern, „sondern dass man als positives Element im Integrationsprozess wahrgenommen wird“. Österreich tue auch gut daran, den Vorsitz nicht allzu sehr als „Schaufenster“ zu sehen, sondern sich auf die inhaltliche Arbeit zu konzentrieren. Und das sei auch „die Zielsetzung der Regierung“, gibt sich Brix überzeugt. Freilich könnten eher Themen auf die Agenda gesetzt werden als sonst - ohne andere unterstützende Länder würden sie aber auch im Sand verlaufen.
Generell könne die Präsidentschaft nur versuchen, „durch Dialog mit den einzelnen Mitgliedsländern Lösungsansätze zu finden“. Und genau das werde den Österreichern ja nachgesagt, besonders gut zu können, so Brix. „Denn wie heißt es so schön: ,Der Österreicher kennt den Kompromiss, bevor er weiß, was der Konflikt ist.‘“

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Gestaltung:

Guido Tiefenthaler (Text), Roland Winkler (Bildrecherche), Elisabeth Klocker (Lektorat), alle ORF.at

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