Wohin steuert Frankreich?

Frankreich hat seit 1958 und Charles de Gaulle, wovon ein Recep Tayyip Erdogan in der Türkei nur träumen kann: einen Staatschef mit weitreichenden Befugnissen und einer Stellung, die im westlichen Europa einzigartig ist. Wenn Frankreich jetzt zu den Urnen schreitet, um in zwei Runden einen neuen Präsidenten oder eine neue Präsidentin zu wählen, dann sagen Experten eine Stichwahl zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen voraus. Zusatz: Le Pen habe in der Stichwahl keine Chance. Doch hieß es vor „Brexit“ und Trump nicht auch, es sei unwahrscheinlich, dass das passiert? Frankreich erlebt jedenfalls einen Wahlkampf, den man so bisher nicht gesehen hat - mit etablierten Parteien, die nicht mehr die Schlüsselspieler im entscheidenden Match auf dem Feld haben.
Macron gegen Le Pen - dieses Match um den Elysee-Palast sagen die Umfragen voraus. Lange hieß es, Macron werde eine Stichwahl überlegen gewinnen. Doch immer mehr Medien warnen seit „Brexit“ und der Donald-Trump-Erfahrung: Noch sei nichts entschieden, viele Wählerinnen und Wähler sind noch auf unentschieden. Das hat viel mit dem Niedergang der etablierten Parteien links und rechts der Mitte zu tun.
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Die Lager der in Frankreich so lange regierenden Sozialistischen Partei (PS) und der einstigen Neogaullisten (früher RPR, später UMP, nun Republicains) sind geschrumpft. Benoit Hamon für die Sozialisten und mittlerweile auch dem einstigen konservativen Ex-Premier Francois Fillon könnte nur ein Wunder helfen, um nach der ersten Runde am 23. April das Ticket für die Stichwahl zu lösen.
Dabei galt Fillon, der sich im parteiinternen Rennen immerhin gegen so etablierte Kaliber wie Alain Juppe und auch gegen Ex-Präsident Nicholas Sarkozy durchgesetzt hatte, als aussichtsreicher Kandidat, um mit der patriotischen Stimmung, die sich gerade im Land breitmacht, Richtung Elysee zu ziehen. Doch auch für französische Verhältnisse hat Fillon mittlerweile eine Spur zu viele Skandale und Verfahren am Revers seiner - mitunter geschenkten - Maßanzüge kleben.

Drei Fragen an ORF-Korrespondentin Eva Twaroch

Erste Indizien bereits bei Vorwahlen

Dass diese Wahl deutlich anders ablaufen wird als alles bisher Gekannte, das habe sich, so die Leiterin des ORF-Frankreich-Büros, Eva Twaroch, schon in den Vorwahlen abgezeichnet. Alle etablierten Kandidaten hätten dabei das Nachsehen gehabt. Nun sehe es so aus, als würden auch die etablierten Parteien insgesamt im Zuge der Wahlauseinandersetzung unter die Räder kommen, so ihr Befund.

„Die Leute haben die Nase voll“

„Es gibt sehr viele Leute, die die Nase voll haben, die bemerkt haben, dass mit Francois Hollande nicht viel passiert ist“, beschreibt der Politologe Jerome Segal gegenüber ORF.at die Ausgangslage in seinem Heimatland. „Die Arbeitslosigkeit ist immer noch so hoch, obwohl ihre Bekämpfung oberste Priorität war.“ Viele wollten etwas Neues – und dafür stünden nun Le Pen und auch Macron. Dieser komme zwar aus dem politischen Establishment und habe wie so viele den Abschluss der elitären Verwaltungshochschule ENA vorzuweisen, „doch Macron will über diesen Teil seiner Geschichte nicht so gerne reden“, erinnert Segal.

Fünf Fragen an den Politologen Jerome Segal

Ob er links oder rechts ist, weiß man beim Überraschungsmann der Stunde nicht so recht. Was er besetzt, sind jedenfalls für Frankreich ungewöhnliche Positionen – oder Ansätze, mit denen schon manch anderer in der überregulierten „Grande Nation“ am Widerstand der Straße gescheitert ist: Liberalisierung des Arbeitsrechts, Angleichung der unterschiedlichen Pensionssysteme, weniger Staatsanteil am Bruttoinlandsprodukt, 60 Milliarden Steuereinsparungen.

„Bla-bla-Land“: Was bringt Macron?

Als „Bla-bla-Land“ verspottete ein konservativer Abgeordneter in Anspielung auf den neuen Filmhit „La La Land“ Macrons Programm – und auch in den Medien fragt man sich, wie viel bei Macron und seiner neuen Bewegung En Marche! rhetorische Fassade ist und wie viel an Substanz umsetzbar sein wird. Sein Programm trage „die Handschrift eines Politikers, der überall leichte Retuschen ansetzen, aber niemandem wehtun und schon gar nicht den Bruch mit der sozialistischen Orthodoxie wagen will“, schrieb die „Neue Zürcher Zeitung“ über ihn nach der Programmvorstellung. Beachtlich aber ist, wie viele Menschen derzeit für En Marche! tatsächlich auf der Straße sind und für ihren Hoffnungsträger im Von-Haus-zu-Haus-Wahlkampf Klinken putzen.

Le Pen: „Die EU wird sterben“

„Macron ist nie links oder rechts gewesen, er versucht immer alle zu sich zu holen“, skizziert Segal den Umstand, dass beide Überraschungsfavoriten für die zweite Runde in allen Lagern fischen. Le Pen tut das ja, wie der Kulturwissenschaftler Didier Eribon in seinem Bestseller „Rückkehr nach Reims“ beschrieben hat, sogar im einstigen Arbeiterlager in den Banlieues der Städte, also Zonen, in denen man früher durchaus kommunistisch eingestellt war. „Marine Le Pen tut dies immer populistisch und gegen das Establishment“, so Segal, „sie ist gegen das System.“ Macron, der ehemalige Banker und spätere Wirtschaftsminister, komme aus diesem, versuche das aber vergessen zu machen.
Grande Nation der Ämterhäufung: In wenigen Ländern gibt es im Parlament eine so große Zahl an Abgeordneten, die noch eine andere hohe politische Funktion ausüben. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatten 91 Prozent der Abgeordneten eines oder mehrere lokale politische Mandate; meist war man noch Bürgermeister einer Kommune. 2007 waren nur 18,5 Prozent der Abgeordneten Frauen, nur 13,2 Prozent der Volksvertreter waren unter 45 Jahre alt.

Harte Bandagen im Wahlfinale

Seit den ersten beiden TV-Duellen, die bisher in einer Fünfer- und nach Kritik in einer Elferrunde ausgefochten wurden, ist die Zeit der harten Bandagen im Wahlkampf da. 40 Prozent der Franzosen waren nach dem ersten Duell unentschlossen, und gerade jene Kandidaten, die in den Umfragen zurücklagen, versuchen sich mit bemerkenswerten Ansätzen in die Arena der Aufmerksamkeit zurückzukatapultieren: Fillon ist da schon einmal für die Wiedereinführung von Schuluniformen, Hamon schlägt seinen Landsleuten vor, sie mögen doch einmal überlegen, welches Volk sie sein wollen, bevor man ihn frage, welcher Präsident er sein wolle. Und Le Pen will sowieso vor allem eines: die Souveränität über das Land retour und nicht die „Vizekanzlerin von Angela Merkel“ sein. Eine „Serienkillerin der französischen Kaufkraft“ nennt Fillon sie - Courtoisie in der politischen Arena sieht zweifellos anders aus.

Macron: „Die Versuchung ist groß, sich abzuschotten“

Macron auf der Suche nach den Konservativen

Sah die Auseinandersetzung lange nach dem Muster alle gegen Le Pen aus, so las man zuletzt zunehmend die Headline: alle gegen Macron. Dem kamen in seiner proeuropäischen Haltung vielleicht doch zu viele Unterstützer aus dem sozialdemokratischen Lager ins Gehege. Jetzt wirkt er bemüht, ausreichend lockende Signale an das konservative Lager auszusenden. So holte er eine Sarkozy-Beraterin in sein Team - und traf medienwirksam bekannte Prominente aus dem konservativen Lager. Macron benötigt einen Spagat, will er die Stichwahl für sich entscheiden.

Kann Le Pen die Mitte überzeugen?

Laut jüngsten Umfragen werden er und Le Pen mit klarem Votum die erste Runde der Wahl für sich entscheiden und in die Stichwahl ziehen. Le Pen müsste in der Stichwahl freilich so viele neue Stimmen dazugewinnen und das rechtsextreme Image ihrer Herkunft komplett ablegen. Dass sie jüngst die Beteiligung von Franzosen an der Verhaftung und nachfolgenden Deportation von Tausenden Juden relativierte („Wenn es Verantwortliche gab, dann waren es die, die damals an der Macht waren, es ist nicht Frankreich“), wirkt freilich wie ein Rückfall in die Rhetorik ihrer Vaters Jean Marie Le Pen.

Viele sind noch unentschlossen

„Das Niveau der Unschlüssigkeit bei den Wählern ist sehr außergewöhnlich“, schrieben Umfrageexperten. Vergleichsweise sicher sind sich die Wähler von Le Pen und Fillon: Von den Anhängern Le Pens gaben 80 Prozent an, sie ganz sicher wählen zu wollen, bei den Unterstützern Fillons waren es ebenso hohe 80 Prozent. Macron kam dagegen lediglich auf 67 Prozent, die Kandidaten der Sozialisten und der Linken auf deutlich weniger.
Fakt ist: Egal, wer die Wahl gewinnt, die politische Landkarte Frankreichs wird nach dem 7. Mai anders aussehen als davor. Vollkommen offen ist, was eine Parlamentswahl nach einem etwaigen Wahlsieg Macrons bringen wird, denn eine etablierte Parteistruktur hat er nicht vorzuweisen - und das könnte ein gehöriger Nachteil bei einer Parlamentswahl sein, werden da doch durch das Mehrheitswahlrecht etablierte politische Strukturen begünstigt.
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Der Präsident der Republik

1958, De Gaulle und die Folgen

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Erstmals in der Geschichte Frankreichs besteht die theoretische Möglichkeit, dass eine Frau Staatschefin wird. Doch der Umstand, dass diese Frau Marine Le Pen heißt, befeuert die lange Debatte, wie zeitgemäß das Amt des Präsidenten oder der Präsidentin der Republik ist, zusätzlich. Auf europäischer Ebene fragt man sich auch, ob die Entwicklung der Union gebremst werden darf, sollte einmal in einem großen europäischen Land eine Wahl aus Sicht der Proeuropäer falsch laufen.
Bisher lag die Macht im französischen Staat immer in den Händen von Männern. Und dass dieser erste Mann im Staat so stark ist, liegt an der Geschichte des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg. Und an einer zentralen Figur: Charles de Gaulle. Wie „demokratisch“ die Fünfte Republik legitimiert ist, verfolgt Frankreich als Debatte seit ihrer Gründung im Jahr 1958.
„Wenige andere Länder Europas beschäftigen sich derart intensiv und zugleich atemberaubend folgenlos mit der Zusammensetzung ihrer politischen und gesellschaftlichen Organisation“, konstatiert hierzu der Historiker Arnaud Tessier. „Die Eigentümlichkeit der Organisationsform des politischen Zusammenlebens in Frankreich“, so wiederum der Historiker Kolja Lindner vom Centre Marc Bloch in Berlin, komme in der „charismatischen Konzeption des Präsidenten als Staatsoberhaupt zum Ausdruck“, dem ja auch die Rolle zugesprochen werde, „Zwietracht und Unordnung“ zu überwinden. All das hängt mit der Geburt der heutigen Fünften Französischen Republik aus einer tiefen Staatskrise zusammen.

Ein Plebiszit über die Staatsführung: Wird der Präsident in Frankreich auf der Grundlage des „suffrage universel direct“ gewählt, bestimmt man die Zahl der Abgeordneten des Parlaments nach dem Mehrheitswahlrecht. Letzteres begünstigte stets die großen politischen Lager – und ließ den Eindruck einer Marginalisierung des Front National entstehen. Bei der Präsidentschaftswahl zählen alle landesweit bzw. auf französischem Territorium abgegebenen Stimmen. Dadurch hat die Wahl immer den Charakter des Plebiszits über die Staatsführung. Eine bekannte Redewendung besagt: Die Präsidentschaftswahl ist ein „Rendez-vous zwischen einem Mann (!) und der Nation“.

„Staatsstreich“ oder Rettung Frankreichs?

Die Rückkehr von De Gaulle ins Zentrum der Macht sahen seine untereinander zerstrittenen Gegner von damals als Staatsstreich. De Gaulles langjähriger Gegenspieler und spätere Staatschef Francois Mitterrand (PS) nannte die Installierung des Präsidenten per Referendum überhaupt einen „permanenten Staatsstreich“. Für die Unterstützer De Gaulles war die Rückkehr des Generals aus dessen Privatdomizil Colombey die einzige Möglichkeit, Frankreich vor dem Hintergrund der aus dem Ufer laufenden Algerien-Krise vor einem Kollaps zu retten.
Im Bereich der Wirtschaft hatte Frankreich mit Institutionen wie dem Plankommissariat unter Jean Monnet versucht, einen dritten Weg zwischen liberalem Kapitalismus und sozialistischem Kollektivismus zu gehen - und damit einem Staatsverständnis den Weg geebnet, das zentrale Institutionen des Staates der Kontrolle des Parlamentarismus entzieht.

Das Endspiel der Vierten Republik

1946 war De Gaulle durch das Scheitern einer neuen Verfassung, die nach seinem Willen einen starken Präsidenten vorgesehen hatte, als Premier zurückgetreten. 1958 bekam er den Spielraum per Referendum vom 28. September 1958 und mit einer Zustimmung von 79,25 Prozent zurück. Frankreich hatte eine neue Verfassung und De Gaulle, der als letzter Premier der Vierten Republik angetreten war und sich sechsmonatige Notstandsbefugnisse gesichert hatte, konnte als Wahlsieger im Dezember 1958 vom Parlament zum Staatschef gewählt werden.
Erst 1962 entschied man dann, den Präsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen. 1965 fand diese Wahl statt und brachte eine erneute Bestätigung des Generals als Staatschef gegen seinen damaligen Herausforderer Mitterrand. Seit damals wird die Wahl des höchste Amtes im Staat immer in zwei Runden ausgefochten, weil es noch kein Kandidat in der zersplitterten französischen Parteienlandschaft geschafft hat, schon in Runde eins eine absolute Stimmenmehrheit hinter sich zu versammeln.
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Die Kandidaten bei der ersten Präsidentschaftswahl 1965

„Refaire la France“

De Gaulles Weg an die Staatsspitze war - so sah es sein Lager - auf einen „auf Prinzipien aufbauenden Pragmatismus“ gestützt, wie es der Gaullismus-Experte Jean Charlot auf den Punkt bringt. „Refaire la France“ lautete eine Losung des damaligen ersten Premiers unter De Gaulle, Michel Debre - ein Leitspruch, der eigentlich auf die Zeit der Okkupation durch Nazi-Deutschland zurückgeht.
„Refaire la France“ hieß aber nun, das Schicksal des Landes in die Hand einer starken Führungsfigur zu legen, die eine Fülle an Kompetenzen in ihrer Funktion bündelte: Ernennung des Premiers, Ausschreiben der Parlamentswahl, Chef der Exekutive zu sein, also auch oberster Befehlshaber der Armee (und ihrer Nuklearstreitmacht) – und Notfallerlässe herauszugeben, die sich jeder höchstgerichtlichen Kontrolle entziehen. Überhaupt ist die Idee eines Höchstgerichts, des „Conseil constitutionnel“, im Vergleich zur Einführung des Präsidentenamts in Frankreich eine junge.
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Francois Mitterrand. 1981, 16 Jahre nach seinem ersten Anlauf, schafft der Sozialist den Sprung ins Elysee
Erst in den 1970er Jahren unter Präsident Valery Giscard d'Estaing, einem eher im Zentrum angesiedelten Konservativen, ließ sich, bedingt auch durch den gesellschaftlichen Wandel, eine Weiterentwicklung im Rollenverständnis des Staatschefs ablesen: Der aus der Idee des Plebiszits geborene Staatschef wurde mehr zum Staatsoberhaupt, welches das enge Zusammenwirken mit dem Parlament sucht – ein Umstand, den man bei De Gaulle und auch seinem Nachfolger Georges Pompidou (der davor auch Premier von De Gaulles Gnaden war) noch nicht finden konnte.
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„Brexit“ und Trump als Warnsignal

Österreich und die Wahl in Frankreich

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Das politische Österreich kommentiert die Frankreich-Wahl in offiziellen Statements zurückhaltend. Mit einem Wahlsieg von Marine Le Pen rechnet man nicht, aber seit dem „Brexit“-Referendum und der Präsidentschaftswahl in den USA ist man mit Prognosen vorsichtig geworden. Insgesamt, so scheint es, ist Frankreich auf EU-Ebene ein wenig aus dem offiziellen Fokus gerückt. Oder anders gesagt: Frankreich war neben Deutschland schon einmal stärker wahrzunehmen.
Andere Länder, besonders jene in Osteuropa, hört man etwa aus dem Außenministerium in Wien, sind in den letzten Jahren deutlich selbstbewusster geworden. Im Bundeskanzleramt gibt man sich im Moment pragmatisch. Große Reformen auf EU-Ebene würden frühestens im November angepackt werden, dann müssten aber Maßnahmen auf EU-Ebene gerade im Sozialbereich umgesetzt werden.

„Politiker, die die EU bewusst schwächen wollen“

Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) sieht die Achse Frankreich - Deutschland, wie er zuletzt im Gespräch mit Harmut Fiedler von Ö1 sagte, als die „zentrale“ in Europa an. „2017 ist ein Übergangsjahr durch die vielen Wahlen, die es gibt in Europa, in Frankreich und in Deutschland, und das ist die wichtigste Achse in Europa“, so Kern. Beide Länder, so der Kanzler, würden nach den Wahlen eine Zeit brauchen, sich zu sortieren, ab November dieses Jahres müssten auf EU-Ebene aber zahlreiche Themen angepackt werden, die die Bürgerinnen und Bürger auch sozial positiv zu spüren bekämen. Le Pen sieht Kern in einer Linie mit dem US-Präsidenten: „Es gibt Personen wie Trump und Le Pen, die wollen die EU bewusst schwächen.“

„Es muss auch einmal eine Wahl schiefgehen können“

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„Der Wahlausgang in einem EU-Land darf nicht die gesamte Union lahmlegen“ - Sebastian Kurz
Frankreich könnte, heißt es aus dem Außenministerium, im Fall eines Wahlsiegs von Le Pen gehörige Irritation auf die europäische Bühne bringen. Von einem drohenden Ende der EU in einem solchen Fall will niemand sprechen. Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) bringt es im Gespräch mit ORF.at so auf den Punkt: „Egal, wie die Wahl in Frankreich ausgeht, muss Europa künftig eine politische Architektur haben, dass nicht eine schiefgegangene Wahl in einem EU-Mitgliedsland die gesamte Union handlungsunfähig macht.“

„Le Pen wird die Wahl nicht gewinnen“

Eine Rundfrage von ORF.at unter den österreichischen Delegationsleitern im EU-Parlament liefert in einer Hinsicht ein beinahe einheitliches Bild. Bis auf Harald Vilimsky von der FPÖ glauben oder hoffen alle, dass Le Pen nicht die Stichwahl gewinnen wird. „Marine Le Pen wird definitiv nicht die Stichwahl in Frankreich gewinnen“, sagt SPÖ-Delegationsleiterin Evelyn Regner im Gespräch mit Nadja Igler. Le Pen stehe für den „Frexit und Unsicherheit“. Die Menschen hätten nach der US-Wahl gesehen, wie viel Instabilität eine rechtsdemagogische Regierung mit sich bringe.
„Frau Le Pen wird die Wahl nicht gewinnen“, gibt sich auch Otmar Karas von der ÖVP gewiss. Die Mehrheit der Französinnen und Franzosen seien proeuropäisch gesinnt, insofern glaube er, dass die Wahl in Frankreich so ausgehen werde wie die letzte Präsidentschaftswahl in Österreich und die Parlamentswahl in den Niederlanden - und zwar mit einem proeuropäischen Signal.

So kommentieren Österreichs EU-Parlamentarier die Wahl

Einer sieht ein „positives Signal“

Ein Wahlsieg von Le Pen wäre für ihren österreichischen Fraktionskollegen im EU-Parlament, Vilimsky, ein positives Signal. „Es gibt doch eine Bewegung in Europa, dass die Staaten und die Menschen in Europa Entscheidungsgewalt von Brüssel zurück in ihre Hände bekommen wollen“, so Vilimsky.
Dass sich Frankreich nach einem etwaigen Wahlsieg Le Pens aus Europa zurückzieht, glaube er nicht, sagt Vilimsky, „da Frankreich ja ein Teil der europäischen Völkerfamilie“ sei. Man müsse für Rahmenbedingungen sorgen, unter denen die Staaten Europas so miteinander kooperieren, dass die Mehrheiten der Bevölkerung dieser Staaten das auch akzeptieren, so Vilimsky.

„Geben den Rechtspopulisten zu viel medialen Platz“

Ulrike Lunacek von den Grünen weist schon die Frage „an sich“ zurück. Ihr missfalle, dass allein die Fragestellung den Populisten zu viel Platz einräume – das sei ähnlich in Österreich gewesen, wo man dauernd diskutiert habe, wie das Land unter einem Präsidenten Norbert Hofer aussehen würde.
„Mittlerweile sehen wir bei Hofer, bei Geert Wilders in den Niederlanden, aber auch bei Le Pen in Frankreich, dass hinter diesen Politikern Parteien stehen, die auch im Europaparlament sitzen, um es auszunutzen und es zu zerstören“, sagt Lunacek, die betont, dass man das auch beweisen könne. Sie hoffe jedenfalls nicht, dass Le Pen in Frankreich den Wahlsieg davontrage. Le Pen habe wie ihr Vater auch ein Verfahren laufen, weil sie Gelder des Parlaments missbräuchlich verwendet habe, so Lunacek.
Angelika Mlinar von NEOS ist sich wiederum sicher, dass die Stimmung in den letzten Monaten in der Bevölkerung pro Europa gekippt sei. Man wisse wieder, „was für ein wichtiges Projekt die EU ist“. Für sie sei der „Brexit“ eine Zäsur für ein Umdenken gewesen. Persönlich glaube sie nicht, dass Le Pen eine Chance hat, die Stichwahl für sich zu entscheiden. Mlinar setzt wie die meisten auf Emmanuel Macron als nächsten Präsidenten Frankreichs.
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Wer holt die Stimmen in den bevölkerungsstarken Vorstädten?
Der Front National und die Deklassierten

Neue Hochburgen für Le Pen

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Die ständigen Zuwächse für den Front National (FN) lassen sich aus den Wahlgängen seit der Präsidentschaftswahl 2012 ablesen, bei der erstmals Marine Le Pen antrat. Bei der letzten Europawahl wurde der FN stimmenstärkste Kraft, auch die letzte Departementswahl belegte den steten Aufstieg, den die Partei seit dem Rücktritt von Gründer Jean-Marie Le Pen erlebt hat. Deutlich wird auch: Der FN legte dort zu, wo der Wirtschaftsaufschwung ausblieb. Und das trifft mittlerweile besonders auf den Norden und Osten des Landes zu.
Paris, ja selbst die Departements rund um die französischen Hauptstadt sind bisher keine Hochburgen des Front National. Das mag auf den ersten Blick verwundern. Zwar hat das wohlhabende Paris ohnedies alle sozial Schwächeren, egal welchen Hintergrunds, ob Franzosen oder Migranten, über Jahrzehnte an die Peripherie, in die Banlieues, abgeschoben. Doch auch dort ist der Zulauf zum FN weniger deutlich als in Departements im Süden des Landes, etwa Bouche-du-Rhone, sowie im Norden und Osten.
Wie der britische „Economist“ jüngst zeigte, konnte der FN besonders in Regionen punkten, die man als „Peripherie-Frankreich“ bezeichnet. Im Zentrum der Ile-de-France ist der Zulauf zu Le Pen vergleichsweise gering. Stark ist er wenn im äußeren Ring um die Ballungsräume.

Aufschwung kam nur in den Städten an

Wenn es einen wirtschaftlichen Aufschwung gibt, dann komme dieser, so der „Economist“, vor allem in den 13 größten Städten des Landes an. In Paris, Lyon, sogar Marseille, Bordeaux, Strassburg und Nantes, um einige zu nennen, betrug der Wirtschaftsaufschwung zuletzt durchschnittlich fünf Prozent. Andere Regionen sind dagegen im Abschwung. Überall dort, wo auch die Ankurbelungsmaßnahmen für die Wirtschaft nicht ankommen, ist der Zulauf zur Partei Le Pens stark, wie auch ein Blick auf die nach Departements aufgeschlüsselte interaktive Arbeitslosenkarte belegt. Vergleicht man diese Strukturdaten mit dem Erfolg des FN bei der letzten Departementswahl, dann sieht man einen augenscheinlichen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Strukturschwäche und der Zustimmung zum FN.

Hochburgen des Front National in der ersten Runde der Departementswahl 2015

Es sind viele kleinere Städte, die einst eingesessene Wählerschichten hatten, die eine starke Tendenz in Richtung des FN zeigen. Manche dieser Städte sind heute FN-Hochburgen, in denen die Rechtsaußenpartei schon einmal den Bürgermeister stellt. Früher hatte sie dieses Alleinstellungsmerkmal nur in bestimmten Zonen des Midi.
Die neuen Hochburgen des FN sind aber Departements und Kommunen im Norden und Osten des Landes. Sehr oft zeigt sich: Gerade wo die strukturelle Arbeitslosigkeit hoch ist und Impulse für die Wirtschaft nicht ankommen, ist die Zustimmung zu Le Pens Politik der Abschottung hoch.

Einst linke Stimmen „wandern“ nach rechts

Dass einstige Hochburgen linker Parteien mittlerweile Bastionen des FN sind, hat den durch seine Biografie über Michel Foucault bekannt gewordenen Kulturwissenschaftler Didier Eribon so überrascht, dass er der Biografie seiner Familie und ihrem neuen Wahlverhalten ein ganzes Buch gewidmet hat: Rückkehr nach Reims“ erzählt von einstigen Kommunisten, die heute im Lager von Le Pen stehen. Nicht nur in Frankreich, auch im deutschsprachigen Raum ist dieses Buch ein Sachbuchbestseller geworden.

Arbeitslosenrate 2015

Ein blinder Fleck im linken Lager

Für den Historiker Kolja Lindner ist die Entfremdung der Linken vom Proletariat wiederum eng mit der Geschichte der Vorstädte verbunden. Der großen Wohnungsnot, die in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg geherrscht hatte, wollte man in den 1950er Jahren mit großen Wohnbauprogrammen begegnen.
Wo wird die Wahl entschieden? Wer die Präsidentschaftswahl gewinnen will, muss die einwohnerstarken Ballungsräume auf seine Seite bringen. Da hatte Marine Le Pen bei der Wahl 2012 noch viele blinde Flecken, wie eine Analyse von ORF.at zeigt.
Gerade die Bürgermeister kommunistisch regierter Städte hätten versucht, vor allem Mitglieder der eigenen Partei zu begünstigen. Zugleich wollte man keine Arbeitsmirganten aus Nordafrika in den neuen Wohneinheiten sehen. 1984 beschwerte sich der langjährige Chef der Kommunistischen Partei (PC), Georges Marchais, in einem Schreiben an die KPdSU, dass Frankreich in einem sowjetischen Schulbuch als „multiethnisches Land“ bezeichnet wurde.
Von einem „verpassten Rendez-vous zwischen der Linken und den Immigranten“ spricht in diesem Kontext der Soziologe Olivier Masclet, der eine „Krise der linken Städte“ verortet. Einerseits habe man die traditionell sichere Wählerschaft verloren, „sich andererseits aber als unfähig erwiesen, die Einwandererkinder als neu zu erobernde Basis zu betrachten“.
Der 1972 von Jean-Marie Le Pen ins Leben gerufene FN profitierte Anfang der 80er Jahre noch von Stimmen aus dem rechten Lager, das nach dem Wahlsieg Mitterrands gespalten war. Ab Mitte der 80er wechselten zunehmend proletarische Wähler ins Lager des FN. Früher wären diese Stimmen eher dem bürgerlich-rechten Lager zugutegekommen - heute profitiert der FN davon.

Hochgerechnet: Warum Le Pen doch nicht gewinnen kann

Wenn zur diesjährigen Frankreich-Wahl so gern das Wort „Schicksalswahl“ bemüht werde, „dann steckt hinter dieser Formel vor allem die Sorge, Marine Le Pen könnte nach dem 7. Mai in den Pariser Elysee-Palast einziehen“, meint ORF-Frankreich-Korrespondent Hans Woller.
Bei aller gebotenen Skepsis gegenüber  Vorhersagen der Meinungsforschungsinstitute dürfe man der einen oder anderen Umfrage doch noch eine gewisse  Aufmerksamkeit schenken. Eine dieser Umfragen sei die seit über einem Jahrzehnt alle zwölf Monate erscheinende Enquete des französischen Meinungsforschungsinstituts SOFRES, die Jahr für Jahr auslotet, wie hoch der Front National bei den Franzosen im Kurs stehe, wie weit sich die Ideen der rechtsextremen Partei in den Köpfen der Franzosen  festgesetzt hätten und wie es generell um das Image des FN bestellt sei.
Relativ kurz vor der Präsidentschaftswahl stelle sich ein differenziertes Bild von der relativen Stärke des FN dar, mit drei wichtigen Schlüssen, auf die Woller verweist:
  • Das Image der Partei hat sich in jüngster Zeit nicht verbessert, im Gegenteil.
  • Gleichzeitig ist die Zustimmung zu den Ideen des Front National erneut gestiegen.
  • Erneut betrachten wieder mehr Bürger Frankreichs den FN als Gefahr für die Demokratie.

Wer stimmt für den FN?

Die vielleicht wichtigste Erkenntnis dieser Untersuchung lautet für den Frankreich-Kenner Woller: "Die Anzahl der Franzosen, die den Front National als eine Gefahr für die Demokratie empfinden, hat auch im vergangenen Jahr 2016 wie bereits in den drei vorhergehenden Jahren nochmals zugenommen."
Zwischen Mitte der 80er Jahre und 2002, als Jean Marie Le Pen damals überraschend in die Stichwahl für das Präsidentenamt  kam, lag die Zahl relativ kontinuierlich bei 70 Prozent.  Ab 2002 nahm sie regelmäßig ab, bis es 2013, zwei Jahre nachdem Marine Le Pen Parteichefin geworden war, nur noch 47 Prozent der Franzosen waren, die den Front National als Gefahr für die Demokratie betrachteten. Inzwischen sind es wieder 58. Besonders hoch sei der Anteil der Ablehnung in der Mitte der Gesellschaft, also im bürgerlichen Lager.

„FN wird nicht hoffähig“

„Marine Le Pens jahrelanges Bestreben, ihre Partei hoffähig zu machen und zu sagen, der Front National sei eine Partei wie alle anderen auch, ist nicht wirklich von Erfolg gezeichnet“, so Woller. Je näher der FN an die Macht heranzurücken scheint, desto skeptischer würden die Franzosen wieder.
AP/David Vincent
Kann Le Pen den FN für die Mehrheit der Franzosen hoffähig machen?
Damit Le Pen im ersten Durchgang der Wahl 30 Prozent der Stimmen erreicht, müssten - bei einer Wahlbeteiligung von 80 Prozent wie vor fünf Jahren - rund elf Millionen Franzosen für die Kandidatin der extremen Rechten stimmen. Die höchste absolute Stimmenzahl, die der FN in Frankreich bisher erzielte, waren 6,8 Millionen, und zwar im zweiten Durchgang der Regionalwahl im Dezember 2015  - allerdings bei einer Wahlbeteiligung von nur 50 Prozent.
Bei der letzten Präsidentschaftswahl 2012 hatte Le Pen im ersten Durchgang 6,4 Millionen Wähler hinter sich gebracht und bei einer Wahlbeteiligung von knapp 80 Prozent 17,9 Prozent der Stimmen gewonnen.

So viele Stimmen brauchte Le Pen

Um am 7. Mai in der Stichwahl  auf  50,1 Prozent zu kommen, müssten  bei einer Wahlbeteiligung von 80 Prozent über 18 Millionen Franzosen für die Kandidatin der extremen Rechten stimmen: 6,4 Millionen im Jahr 2012, 6,8 Millionen 2015 - und 2017: 18 Millionen?

Links und weitere Informationen

Gestaltung:

Gerald Heidegger, ORF.at (Text), mit Beiträgen von Eva Twaroch und Hans Woller, ORF, aus Paris, Nadja Igler, ORF.at, aus Brüssel; Michael Baldauf (Bild, Grafik, Video), Günter Hack (Datenkarte), Thomas Hangweyrer (Video), Lucia Morandini (Lektorat), alle ORF.at
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