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Polens Trauma, Europas Verhängnis

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Eine Überraschung war der Beginn des Zweiten Weltkriegs für die Österreicherinnen und Österreicher nicht. Mehr als ein Jahr war das Land bereits durch den „Anschluss“ an Nazi-Deutschland annektiert. Die jüdische Bevölkerung Österreichs kannte bereits Terror und Schikane, als der Krieg am 1. September 1939 begann.
Adolf Hitler hatte am Tag des Kriegsbeginns bei seiner Rede vor dem Reichstag, die in den Radioempfängern des Deutschen Reichs zu hören war, die Notwenigkeit von Konsequenzen wegen angeblicher Grenzverletzungen der Polen verkündet. Erst spät fielen in der 35-minütigen Rede die Worte, die heute emblematisch stehen für den Kriegsausbruch: „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.“ Der sechs Jahre dauernde Zweite Weltkrieg mit mindestens 60 Millionen Toten, 35 Millionen Verwundeten und nicht abzuschätzenden materiellen Verlusten hatte begonnen.

Hitler vor dem Reichstag

Ein Zeitzeuge, der dem ORF im Jahr 2008 seine Eindrücke von der NS-Zeit schilderte, war der Wiener Fredi Schreiber. Er war sieben Jahre alt, als Nazi-Deutschland Polen überfiel. Schreiber stammte aus einer „gut situierten jüdischen Familie“ aus Wien-Ottakring. Nach dem „Anschluss“ war die unbeschwerte Kindheit schlagartig vorbei. Fortlaufend war die Familie von da an Demütigungen ausgesetzt, das Geschäft des Vaters wurde „arisiert“, die Familie in die Wiener Judengasse zwangsübersiedelt.

„Die Innenstadt war wie ein Ghetto“

Im Jahr des Kriegsausbruchs konnten Schreibers ältere Geschwister mit einem Kindertransport nach England das Land verlassen. „Mein kleiner Bruder und ich – mein Bruder hat Hans geheißen – konnten nicht mehr weg aus Wien.“ Der kleine Bruder sollte den Krieg nicht überleben. Die Familie war nur noch Verboten unterworfen, so Fredi Schreiber. „Das war damals in Wien, in der Inneren Stadt, wie ein Ghetto.“

Kindheit während des Kriegs

Kriegsbegeisterung gab es laut anderen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auch nicht in den nicht jüdischen Teilen der Bevölkerung. Die Stimmung nach dem Ausbruch des Weltkriegs 1939 sei eher bedrückt gewesen, so Grete Eber. Die Tochter eines 1935 verhafteten Sozialisten erzählte dem ORF schon 1987, wie sie vom Kriegsbeginn erfuhr. Nazi-Deutschland hatte wenige Stunden zuvor den Überfall auf Polen begonnen.

Mehr Besorgnis als Begeisterung

Eberl war damals als junge Frau bei Siemens angestellt. Die Belegschaft musste sich im Speisesaal versammeln, wo Hitler in einer Radioansprache bei der Kundmachung des Kriegsbeginns zu hören war. „Da bin ich in die Garderobe runtergegangen und habe geweint“, so Eberl. Sie habe nicht gesehen, dass sich Leute über den Kriegsausbruch freuten. Man habe sich die jungen Soldaten angeschaut, die mit dem Viehwaggon zur Front fuhren. „Da war keine Begeisterung. Ich habe es nicht gesehen.“

Eberl: „Ich habe geweint“

Laut dem Historiker Florian Wenninger von der Universität Wien gab es zu Beginn des Zweiten Weltkriegs keine Freude über den Kriegsausbruch in der Bevölkerung. „Die allgemeine Stimmung ist geprägt von Besorgnis, dominiert von der Hoffnung, dass das möglichst ohne gröbere Verluste abgeht“, so Wenninger im Interview mit ORF.at. Die Besorgnis habe sich zur Angst gesteigert, als klar gewesen sei, dass der Krieg keine rein deutsch-polnische Auseinandersetzung bleiben würde. Erst mit den Erfolgen der Wehrmacht in Polen und später Frankreich sei die Zustimmung gewachsen.
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Hitlers Griff nach Osten

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Die Kriegsgefahr war im Sommer 1939 greifbar. Bis es tatsächlich zu dem Überfall auf Polen kam, wurde zwar bis zuletzt politisch taktiert. De facto bereitete das Nazi-Regime den Feldzug aber bereits seit Monaten vor. In Hitlers Machtlogik war der Überfall auf Polen der logische nächste Schritt. Er wollte seinen Plan der Erweiterung des „Lebensraums im Osten“ um jeden Preis verwirklichen – und Polen war dafür der Brückenkopf.
Bereits in den 1920er Jahren hatte Hitler die Expansionsideologie zum entscheidenden Ziel seiner Politik erklärt. Dem Konzept „Lebensraum im Osten“ zufolge müsse die „arische Rasse“ Osteuropa besiedeln und die „slawischen Völker“ unterwerfen. Polen war in dieser Hinsicht das folgerichtige Opfer der nationalsozialistischen Aggression: Es war nicht nur die „Sprungschanze“ in den Osten, sondern auch jener Nachbarstaat, in dem mit rund einer Million Menschen die größte auslandsdeutsche Gruppe lebte.
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Danzig vor einer Rede Hitlers, fast drei Wochen nach dem Kriegsausbruch
Das lag vor allem an der freien Stadt Danzig, einer deutschen Exklave, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs und den Versailler Verträgen zu Polen gehörte. Das Ziel der Nazis war die „Zusammenfassung aller Deutschen in einem Reich“, so der Historiker Wenninger. Dazu komme „gezielte Bevölkerungspolitik, die darauf aus war, das besetzte Territorium nicht nur dauerhaft militärisch zu kontrollieren, sondern auch zu germanisieren, also mit Deutschen zu besiedeln“.
Schon vor dem Überfall auf Polen hatte Hitler eine aggressive Ausdehnungspolitik verfolgt. Kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 presste er der Tschecho-Slowakischen Republik das Sudetenland ab – mit dem Einverständnis Frankreichs, Großbritanniens und Italiens. Doch Hitler war das nicht genug: Im März 1939 zerschlug er die „Rest-Tschechei“. Der verbliebene Teil der Republik wurde annektiert, zum „Protektorat Böhmen und Mähren“ umgewandelt und in das Deutsche Reich eingegliedert.
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Mehr als Warnungen wurde den Nazis nicht entgegengesetzt – auch weil die Westmächte selbst noch nicht kriegsbereit waren. Großbritannien und Frankreich hatten bis zuletzt gehofft, dass die Übertragung des Sudetenlandes die Gefahr eines Krieges zumindest vorläufig abwenden würde und Hitlers Expansionsgelüste vorerst gestillt seien. Doch diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Erst nach dem Marsch der Wehrmacht in das spätere „Böhmen und Mähren“ beendeten die Staaten ihre Politik des Beschwichtigens und geben eine Garantie für die Unabhängigkeit Polens ab.

Danzig als Feigenblatt

Hitler steuerte im Frühjahr und Sommer 1939 den Konflikt mit Polen systematisch auf einen Krieg zu. Der Druck auf das militärisch unterlegene Nachbarland wurde erhöht – politisch, aber auch propagandistisch. Berlin erneuerte die Forderung nach einer Rückgabe Danzigs und einer exterritorialen Straßen- und Bahnverbindung in das vom Deutschen Reich getrennte Ostpreußen. Polen fürchtete, zu einem Satellitenstaat Deutschlands zu werden. Mit den Garantieerklärungen Großbritanniens und Frankreichs im Rücken wies man Deutschlands Forderungen zurück.
Doch es ging es Hitler ohnehin nie um Danzig, so Wenninger: „Die Vorstellung, dass es sich beim Zweiten Weltkrieg tatsächlich nur um eine Revision des Versailler Vertrags handelt, ist irrig. Es ist Teil der deutschen Kriegspropaganda, das zu vermitteln: Es ist uns Unrecht geschehen, folglich ist alles, das wir tun, ein Akt der Verteidigung und nicht der Aggression. Tatsächlich war von vornherein nicht geplant, in Danzig Station zu machen und sich damit zufriedenzugeben, das ist ganz klar.“
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Das Deutsche Reich war Polen militärisch haushoch überlegen

Hitler ging nicht von Krieg aus

Allerdings habe der deutsche Plan auch nicht vorgesehen, einen Weltkrieg loszutreten: „Im Gegenteil, man geht noch tagelang davon aus, dass die Garantie, die die Westmächte für Polen abgegeben haben, nicht eingehalten wird. Sondern, dass sie genauso klein beigeben würden, wie sie es zuvor auch im Fall der Tschecho-Slowakischen Republik gemacht haben.“
Dazu kommt, dass Hitler nur eine Woche vor dem Angriff mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt die Machtverhältnisse noch einmal zu seinen Gunsten verschieben konnte. Dieser garantierte dem Deutschen Reich, dass die Sowjetunion bei einem Angriff auf Polen stillhalten würde. Zudem vereinbarten die Staaten den Handel mit kriegswichtigen Rohstoffen und Nahrung. Der Pakt sei zwar „kein Schlüsselmoment“ gewesen, so Wenninger, doch „von erheblicher strategischer Bedeutung, weil im Fall eines Kriegseintritts der Westmächte die deutsche Versorgung gesichert war und Deutschland sich nicht unverhofft in einem Zweifrontenkrieg wiederfinden würde“. Dazu entstand ein geheimes Zusatzprotokoll, in dem sich der sowjetische Diktator Josef Stalin und Hitler Polen untereinander aufteilten.
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Der Nichtangriffspakt wurde unter den Augen Stalins unterzeichnet

„Ziel: Vernichtung Polens“

Hitler hatte sich jedoch bereits zuvor auf einen Angriff festgelegt. Acht Tage vor dem Krieg hielt er in seinem Feriendomizil eine Ansprache vor den Oberbefehlshabern der Wehrmacht. Von dieser existieren mehrere Aufzeichnungen. Unter anderem heißt es darin: „Ziel: Vernichtung Polens – Beseitigung seiner lebendigen Kraft. Es handelt sich nicht um Erreichen einer bestimmten Linie oder einer neuen Grenze, sondern um Vernichtung des Feindes, die auf immer neuen Wegen angestrebt werden muss.“ Und: „Ich werde propagandistischen Anlass zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft.“
Unter dem Decknamen „Fall Weiss“ lief unterdessen seit Wochen die militärische Vorbereitung. Die Schwerindustrie wurde angekurbelt, die Konsumgüterproduktion heruntergefahren. In den Tagen vor dem Angriff transportierten Tausende Züge Truppen Richtung Osten. Über Deutschland wurden Flugverbote verhängt, Autos beschlagnahmt und erste Luftschutzkeller gebaut. Der Krieg stand unmittelbar bevor.
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Sieben Tage bis zur Erschöpfung

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Hitler gab am 31. August den Angriffsbefehl für den darauffolgenden Tag aus. Als Auslöser für den Krieg fingierten die Nazis einen Überfall auf den deutschen Sender Gleiwitz (Gliwice) in Oberschlesien. SS-Männer waren als polnische Freischärler verkleidet und drangen in das Sendegebäude ein.
Auf Deutsch und Polnisch wurde zu einem angeblichen Aufstand der polnischen Minderheit aufgerufen: „Achtung! Achtung! Hier ist Gleiwitz. Der Sender befindet sich in polnischer Hand.“ Nach wenigen Minuten zogen die getarnten SS-Männer wieder ab und hinterließen die Leiche von Franciszek Honiok. Er war tags zuvor verhaftet und betäubt worden und sollte nun als angeblicher Täter dienen. Honiok gilt als erstes Todesopfer des Zweiten Weltkriegs.
Für die Nazis ging die Strategie auf. Hitler verkündete am 1. September den Krieg, ohne ihn offiziell zu erklären. „Danzig war und ist eine deutsche Stadt. Der Korridor war und ist deutsch. Alle diese Gebiete verdanken ihre kulturelle Erschließung ausschließlich dem deutschen Volke. Ohne das deutsche Volk würde in all diesen östlichen Gebieten tiefste Barbarei herrschen. Danzig wurde von uns getrennt, der Korridor von Polen annektiert neben anderen deutschen Gebieten des Ostens, vor allem aber die dort lebenden deutschen Minderheiten in der qualvollsten Weise misshandelt“, so die Rechtfertigung für den Überfall auf Polen.
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Die Städte Danzig, Zoppot, Praust, Tiegenhof und Neuteich sowie das Umland bestanden als teilsouveräner, selbstständiger Freistaat unter dem Schutz des Völkerbundes von 1920 bis faktisch 1939. Nachdem das Gebiet lange zu Preußen gehört hatte, wurde es nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund des Versailler Vertrags 1920 abgetrennt und erhielt den Status eines autonomen Freistaats.

Erster Angriff auf Kleinstadt

Auch wenn der Angriff auf die polnische Halbinsel Westerplatte den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert, die ersten Bomben fielen woanders: in der kleinen 24.000-Einwohner-Ortschaft Wielun, rund 380 Kilometer von der Westerplatte entfernt im Landesinneren. Wielun, das damals nur 21 Kilometer hinter der deutsch-polnischen Grenze lag, ist wenig bekannt, doch hier nahm das polnische Schicksal seinen Ausgang. Hier flogen deutsche Sturzkampfbomber ihren ersten Einsatz dieses langen Krieges. Die Kleinstadt wurde gleich zu Beginn dem Erdboden gleichgemacht, die ahnungslosen Bewohnerinnen und Bewohner wurden in der Nacht von dem Angriff vollkommen überrascht.
Im Lauf des Tages folgten noch weitere Angriffe der deutschen Luftwaffe. Rund 1.200 der 15.000 Menschen werden getötet. Die Hälfte der Toten waren Juden, die damals ein Drittel der Bevölkerung ausmachten und die vor allem im Zentrum wohnten. In Wielun gab es weder Militär noch Industrie. Wieso ausgerechnet Wielun als Ziel ausgesucht wurde, war den Menschen ein Rätsel.

Materialschlacht auf der Westerplatte

Kurz darauf begann die erste Schlacht in der Danziger Bucht. Das vor Anker liegende Marineschiff „Schleswig Holstein“ nahm den polnischen Militärposten auf der Halbinsel Westerplatte unter Beschuss. Das Schiff war wenige Tage zuvor unter dem Vorwand eines Freundschaftsbesuchs in Danzig eingelaufen. Polen hatte erst zwei Tage zuvor die allgemeine Mobilmachung ausgerufen und war noch nicht vollständig kampfbereit.

US-Propagandafilm über den Überfall auf Polen

Auf der Westerplatte waren 200 polnische Soldaten stationiert. Man ging davon aus, dass sie die Anlage vielleicht zwölf Stunden lang halten könnten. Es wurden sieben Tage – bis die Wasser- und Munitionsvorräte erschöpft waren. Es war eine aussichtslose Materialschlacht, mit vielen Todesopfern, zerschossenen Wäldern und Gebäuden. Am 7. September gaben die Verteidiger der Westerplatte auf.
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Die „SMS Schleswig-Holstein“ entfesselte den Weltkrieg. Heute liegen die Überreste vor der estnischen Insel Odensholm auf Grund.
In Polen organisierte sich bald der Untergrund. Der polnischen Regierung und der Militärführung gelang die Flucht, die Exilregierung saß zunächst in Paris und ab 1940 in London. Frankreich und England hatten dem Deutschen Reich – gemäß den abgegebenen Garantien – zwar den Krieg erklärt, Polen waren sie aber nicht zu Hilfe gekommen. Das Nazi-Regime konnte nur annehmen, nicht aber sicher wissen, dass Polen alleingelassen würde.
„Natürlich ist Hitler ein Hasardspieler, keine Frage. Allerdings ist es für Zeitgenossen ein bisschen weniger abwegig zu glauben, dass sich die Westmächte vielleicht wirklich mit einem deutschen Sieg über Polen abfinden werden“, so der Historiker Wenninger. In Großbritannien wie Frankreich sei die öffentliche Meinung gegen einen neuerlichen Krieg gestanden. „Mourir pour Danzig?“ („Sterben für Danzig?“) war das Schlagwort der Debatte. „Mit der unausgesprochenen Antwort ‚auf keinen Fall‘, so Wenninger.

Polen als aufgeteilte Kriegsbeute

Für Polen war die Niederlage in Danzig der Beginn einer doppelten Katastrophe. Der deutsche Vormarsch verlief weitaus schneller als erwartet. Am 17. September marschierte zudem die Rote Armee in Ostpolen ein. Offizielle Begründung war die Sorge um das Schicksal der dort lebenden Weißrussen und Ukrainer.
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Das Denkmal erinnert an den erbitterten Widerstand der Polen gegen den deutschen Angriff
Tatsächlich hatten Deutschland und die Sowjetunion im geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts ihre Interessengebiete abgesteckt. Nach dem Kriegsende wurde die Verteidigung der Westerplatte in Polen zur Legende, die vor allem an den Widerstand gegen die deutsche Übermacht erinnert. Seit 1966 steht auf der Westerplatte ein rund 25 Meter hohes Granitdenkmal. Dort legte Richard von Weizsäcker als erster deutscher Bundespräsident im Mai 1990 einen Kranz nieder.
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Die Orte, an denen sich Europas Geschichte entschied, sind heute bei Touristen und Touristinnen beliebt. Der Sender Gleiwitz ist nun ein Museum. Die Halbinsel Westerplatte ist ein populäres Ausflugsziel. Ein kleiner Sandstrand lädt zum Verweilen, nur wenige Schritte entfernt von den zerschossenen Trümmersteinen, die zum Schriftzug „Westerplatte“ zusammengefügt sind.
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Der Weg in die Katastrophe

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Über Polen war mit dem Einmarsch der Nationalsozialisten größtes Unheil hereingebrochen. Zum vierten Mal in seiner Geschichte wurde das Land geteilt – und dieses Mal auf die gewalttätigste Art. Der Feldzug war von Beginn an nicht nur ein Krieg gegen das Militär, sondern auch gegen die Bevölkerung.
Das NS-Regime begann unmittelbar nach dem Einmarsch mit gezielten Massenmorden und der „Vernichtung der polnischen Intelligenz“. Auf Basis des geheim vorbereiteten „Sonderfahndungsbuchs Polen“ wurden 60.000 Polinnen und Polen, darunter Lehrer, Ärzte, Juristen, Professoren, katholische Priester und Bischöfe, Politiker und Gewerkschafter, ermordet. Ein Terrorapparat richtete sich „gegen alle, die systematischer in der Lage gewesen wären, Widerstand zu leisten. Die Strategie war von vornherein, nicht nur einen militärischen Enthauptungsschlag zu führen, sondern tatsächlich allfälligen Widerstand im Keim zu ersticken“, so Wenninger.

„Ging darum, sich Sklaven zu halten“

Ausschließlich Deutsche sollten künftig die Führungsschicht stellen, die polnische Bevölkerung sollte arbeiten. „Im Grunde geht es darum, sich Sklaven zu halten“, schildert der Historiker. „Von Beginn an ist ein Ziel, Polen nicht mehr in den Genuss höherer Bildung kommen zu lassen, sondern sie sollen in der Lage sein, zu lesen und zu verstehen, was man von ihnen will, welche Aufträge man erteilt, aber eigenständiges Denken will man möglichst hintanhalten. Und das nicht nur durch Terror, sondern auch durch bewusste Vorenthaltung von Bildung.“
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Die Massenhinrichtungen richteten sich aber auch bereits gegen eine andere Gruppe: die Jüdinnen und Juden. Polen wies durch historische Flucht- und Migrationsbewegungen den mit Abstand höchsten Anteil an jüdischer Bevölkerung in Europa auf. „Auch das trägt dazu bei, dass die deutsche Führung von Beginn an das Gefühl hat, auf Feindesland zu operieren. Auch nachdem der militärische Konflikt entschieden ist“, so Wenninger.
„Die Beseitigung unerwünschter Bevölkerungsteile ist Teil der Germanisierungsstrategie. Und Juden im Unterschied zu Polen sind auch nicht als künftige Sklaven vorgesehen, sondern: Die müssen weg.“ Die Vorstellungen dazu sind 1939 allerdings noch nicht sehr konkret – der Plan zur systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung ist noch nicht gefällt. Auch Vertreibung, etwa in die Sowjetunion, wird unmittelbar nach dem Polen-Feldzug toleriert. Trotzdem sterben bereits unmittelbar nach dem Polen-Feldzug rund 7.000 Jüdinnen und Juden.

Kein Land mit mehr Opfern

Die langfristigen Folgen für das Land sollten verheerend sein. Nach der Kapitulation wurden Westpolen und ein weit über die deutschen Grenzen von 1914 reichendes Territorium dem Großdeutschen Reich eingegliedert. Das restliche Land, soweit es nicht von den Sowjets besetzt war, wurde als Generalgouvernement unter deutsche Zivilverwaltung gestellt. Dort verbanden sich in den folgenden Jahren Vernichtungsaktionen und Ausbeutungspolitik. Insgesamt hatte Polen im Zweiten Weltkrieg gemessen an der Gesamtbevölkerung so viele Tote zu beklagen wie kein anderer Staat. Vier bis sechs Millionen Polen und Polinnen kamen ums Leben – und damit etwa jeder Sechste bis Siebente.
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Während die Vernichtung bereits im September 1939 über Polen zog, hielten sich die Konsequenzen im Deutschen Reich vorerst in Grenzen. Die „Propagandafeuerwerke“ hatten ihre Wirkung gezeigt, und obwohl der Krieg von vielen als Unterbrechung einer aufsteigenden Bewegung empfunden wurde, stand die Bevölkerung in den ersten Jahren „abwartend, aber doch“ und nach der anfänglichen Skepsis hinter dem Krieg.
Mit dem Überfall auf Polen zeigten die Nationalsozialisten der Welt, dass sie kompromisslos dazu bereit waren, den Krieg mit aller Brutalität zu führen. Allein bei dem unprovozierten Angriff starben auf beiden Seiten geschätzte 100.000 Menschen, 80.000 von ihnen waren polnisch. 130.000 weitere wurden verletzt, 700.000 Polinnen und Polen landeten in Gefangenschaft. Und doch waren die Tage vom 1. September bis zum 6. Oktober nur der Auftakt zu der großen Katastrophe, die mindestens 60 Millionen Menschen das Leben kosten und bis 1945 ihren fatalen Lauf nehmen sollte.

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