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Stefan Kappacher, Ö1-Innenpolitik , 11.5.

Triumph und Wirklichkeit

Wenn Conchita Wursts Triumph über den Kleingeist dann in den Montagszeitungen abgefeiert und der Hype über die dreizehn Mal twelve points auf Twitter und sonstwo im Netz abgeebbt sein wird, dann stehen wir immer noch zwei Wochen vor der Europa-Wahl. Die traurige Euro-Realität weicht der inszenierten Eurovision. Dabei täte gerade die Realität so dringend Visionen brauchen.

Stattdessen: eine grüne Partei, die einen politisch Gefallenen noch einmal mit Füßen tritt. Die Plakate mit dem Ernst-Strasser-Sujet mögen zwar inhaltlich ihre volle Berechtigung haben, aber sie sind missglückt und menschenverachtend. Sie gehören weg. Das finden auch viele in der Partei, darunter das grüne Urgestein Pius Strobl – der öffentlich darüber nachgedacht hat, deswegen diesmal nicht die Grünen zu wählen. Aber seine menschenrechts-affinen Parteifreunde sind sich offenbar zu gut, einen Fehler einzugestehen und die Plakate aus dem Verkehr zu ziehen.

Grüne Plaktataffäre & Rechtsruck

Stattdessen: ein freiheitlicher Spitzenkandidat, der seine Sympathie für russische Nationalisten kaum verhehlen kann und sich auf Nachfragen hinter einer merkwürdigen Äquidistanz zwischen Russland und den USA versteckt, um die es angesichts der Ukraine-Entwicklungen überhaupt nicht geht. Aber egal, was Harald Vilimsky sagt. Parteien wie seine haben derzeit Aufwind, nicht nur bei uns, sondern in ganz Europa. Sie könnten zur drittstärksten Kraft aufsteigen.

Stattdessen: lähmende großkoalitionäre Muster auch auf europäischer Ebene. Zwei zwar markante, aber leider viel zuwenig bekannte Spitzenkandidaten von der Europäischen Volkspartei und den europäischen Sozialdemokraten. Der bei der Wahl Stärkere soll Kommissionspräsident werden, Jean-Claude Juncker oder Martin Schulz - das europäische Volk soll also endlich ein wichtiges Wort mitreden bei einer zentralen Personalentscheidung.

Merkel und das zarte Pflänzchen

Das ist immerhin schon was. Denn nur so kann das Interesse der Bürger Europas an dieser Wahl auf Dauer wachsen. Doch was tut Europas wirklich Mächtige? Angela Merkel stellt den Automatismus, dass bei der Parlaments-Wahl quasi auch der europäische Regierungschef mitgewählt wird, in einem Interview schnell einmal in Frage.

Die Mächtigen glauben offenbar, keine Visionen zu brauchen. Die Menschen holen sie sich dort, wo sie angeboten werden. An diesem Wochenende war es Kopenhagen, die Bühne des Song Contest – wo uns die Kunstfigur aus der Steiermark nach ihrem grandiosen Sieg ein bewegendes „We are unstoppable!“ zurief. So viel spürbare Freude, gemischt mit Pathos und einer großen Portion Hurra-Patriotismus war selten. Anfeindungen von homophober Seite im Vorfeld - nicht zuletzt aus Russland - heizten die Euphorie noch einmal an. Der Spiegel Online schreibt gar von einem paneuropäischen Referendum darüber, was auf diesem Kontinent gesellschaftlich akzeptiert wird und was nicht.

Nur ein Tausendstel des Feuers

Dass Conchita Wurst „uns den Schas gewonnen“ hat (um hier das großartige Bonmot von Andi Knoll zu zitieren) ist natürlich auch eine gesellschaftspolitische Botschaft. Aber politische Entscheidungen fallen nicht beim Song Contest, sondern zum Beispiel in zwei Wochen bei der Europa-Wahl. Wenn die Menschen dafür nur ein Tausendstel der Begeisterung aufbringen könnten, die die Queen of Austria gerade ausgelöst hat, dann wären wir echt fein heraußen.