„Wien vor 1900“: Die zwei Gesichter Hofmannsthals

Dass der Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal zwei Gesichter gehabt hat, die sich kaum glichen, ist Gegenstand von Debatten bis in die Gegenwart. Die ehemalige Schauspielchefin der Salzburger Festspiele, Bettina Hering, und der Wiener Germanist Norbert Christian Wolf diskutierten gestern Abend im Wiener RadioKulturCafe mit Katharina Gruber vom ORF und dem Zeithistoriker Oliver Rathkolb nicht nur das paradoxe Auftreten von Hofmannsthal im Wien vor und nach 1900 im Rahmen der Serie „Zurück in die Zukunft“. Die Radikalität der Literatur und ihre Wirkung auf andere Disziplinen sollte mit im Fokus des Gesprächs stehen.

„Hellsichtig bis zum Delirium“

Mit einer Hypnoseszene beginnt Arthur Schnitzlers „Anatol“ aus dem Jahr 1890. Und der ganz junge Hofmannsthal begeistert sich an den Charakteren eines Gabriele D’Annunzio, die er als „hellsichtig bis zum Delirium“ beschreibt. D’Annunzio, Hofmannsthals Jugendheld, wird im Sommer 1918 über Wien mit einer Flugstaffel Propagandamaterial gegen Österreich abwerfen – und Hoffmannsthal die Wende vom Moderne-Beschwörer zum Österreich-Verteidiger antreten.


Wien: Propagandaflug Gabriele D’Annunzios über Wien mit dem Abwurf von Tausenden von Flugblättern. 9. August 1918.
Archiv Seemann / brandstaetter images / picturedesk.com

In der Auseinandersetzung mit der Literatur im Wien vor 1900 geht es um die Wurzeln des Diskurses der Moderne in literarischen Texten, aber auch um die Frage, wo die Proponentinnen und Proponenten der Moderne gesellschaftlich und ideologisch herkamen. Wer in Wien vor 1900 aus einer Wagner-Oper durch die Hintertür hinausging, sollte bald durch die Vordertür in die Psychoanalyse eintreten können.