Szenenbild aus „Sibirien“
Bregenzer Festspiele/Karl Forster
„Sibirien“

Russland-Romantik zur Unzeit

Als zweite große Premiere haben die Bregenzer Festspiele am Donnerstag im Festspielhaus mit Umberto Giordanos „Sibirien“ traditionsgemäß auch heuer eine Opernrarität präsentiert. Werke verschwinden oft zu Recht in der Versenkung – dieses dürfte, obwohl in Bregenz mit viel Applaus gefeiert, nun wohl auch nicht aufgetaucht sein, um zu bleiben. Dazu kommt der in Russland angesiedelte „Traviata“-Stoff auch zur Unzeit.

Rein dramaturgisch ist „Sibirien“ heuer keine ganz unlogische Wahl als Hausoper, wurde die Oper doch 1903 anstelle Giacomo Puccinis nicht fertig gewordener „Madame Butterfly“ an der Mailänder Scala uraufgeführt. Während sich Giordano mit seinen zuvor komponierten Opern „Andre Chenier“ und „Fedora“ aber dauerhafte Denkmäler setzen konnte, verschwand „Sibirien“, trotz Erfolges bei der Uraufführung, schnell von den Spielplänen.

Als Schauplatz für das mutmaßlich von Leo Tolstois „Auferstehung“ inspirierte Libretto von Luigi Illica dient mit Sibirien ein Ort, der wohl wie kein anderer als Sinnbild von Kälte und Unwirtlichkeit konnotiert ist.

Große Gefühle in der kalten Steppe

Für Giordano, einen wichtigen Vertreter des italienischen Verismo, bot das quasi das ideale Setting für die dem Genre so wichtige brutale Realität: In „Sibirien“ findet die St. Petersburger Nobelprostituierte Stephana die große Liebe in Leutnant Vassili, der nichts von ihrer Vergangenheit ahnt. Es folgt ein Liebesdrama, das im Gulag und mit dem Tod Stephanas endet.

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Szenenbild aus „Sibirien“
Bregenzer Festspiele/Karl Forster
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Bregenzer Festspiele/Karl Forster
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Bregenzer Festspiele/Karl Forster

„Drama der Leidenschaften“

Mit dem Kolorit russischer Musik – orthodoxer Chorgesang und Volkslieder – verschnitt Giordano die großen Emotionen der italienischen Oper mit dem Ziel, ein „Drama der Leidenschaften“ zu schaffen. Trotzdem fehlt es der Komposition an eingängigen Arienschlagern und Duetten mit Sogwirkung. In der Kürze (in Bregenz mit Pause etwa zweieinviertel Stunden) passiert zudem inhaltlich viel mit wenig musikalischer Reflexion und kaum Platz für die Entwicklung der Charaktere.

Dirigent Walentin Urjupin (Valentin Uryupin), der in Bregenzer Opernstudio bereits „Eugen Onegin“ (2019) dirigierte, macht mit den Wiener Symphonikern das Beste daraus, wohl ausbalanciert den eingeschriebenen Pathos nie überbewertend, trotzdem kraftvoll.

Die kanadische Sopranistin Ambur Braid als Stephana dominierte stimmlich nicht nur im besten Sinne über Alexander Michailow (Mikhailov) als Vassili – von ihr könnte man sich mehr Variation wünschen, von ihm mehr Verve. Scott Hendricks ist demgegenüber deutlich besser austariert und überzeugt sowohl mit Gesang als auch schauspielerisch.

Bregenz am 21.7.2022 Bregenzer Festspiele mit der Premiere von  der Hausoper Sibirien
Mathis Fotografie
Das Premierenpublikum spendete am Donnerstagabend im Bregenzer Festspielhaus großen Applaus

Erinnerungen an St. Petersburg

Der russische Regisseur Wassili Barchatow (Vasily Barkhatov) lässt die Geschichte in der Retrospektive erzählen – aus Sicht einer älteren Frau (Clarry Bartha), die sich als im Gulag geborenes Kind des Paars entpuppt und die die Vergangenheit ihrer Eltern rekonstruiert. Ihre Reise an die Schauplätze der Geschichte illustriert Barchatow mit Schwarz-Weiß-Videos, gefilmt an Originalschauplätzen.

Hinweis

„Sibirien“ ist am 24. Juli um 11.00 Uhr sowie am 1. August um 19.30 Uhr bei den Bregenzer Festspielen zu sehen. Die Ö1-Übertragung der Premiere ist noch sieben Tage in der Radiothek nachzuhören, ORFIII zeigt eine Aufzeichnung der Premiere am 31. Juli um 22.45 Uhr.

Die großflächigen Projektionen verschmelzen in jedem Akt mit dem Bühnenbild von Christian Schmidt und machen so den Zeitsprung deutlich. In der Petersburger Prunkwohnung, in der das Drama seinen Lauf nimmt, wechseln die Tapeten mittels Überblendung ihre Farbe, können Spiegel in die Vergangenheit blicken – mit vielen auch winzigen Details ist das Konzept stringent umgesetzt. Auch die Kostüme von Nicole von Graevenitz sind stimmig im Gesamtbild, das sich an ein Hochglanzmusical erinnernd zusammenfügt.

„Historischer Disneyfilm“

Die Geschichte solle zu einem „historischen Disney-Film“ werden, „in dem jeder Mensch schöner als in Wirklichkeit wirkt“, so Regisseur Barchatow. Ein kleines Hüttchen im Gulag, ein Chor wie aus „Les Miserables“ ausgeborgt – wie zeitgemäß diese Form der Inszenierung noch sein kann, sei dahingestellt.

Ein verklärender Blick nach Russland wirkt aktuell in jedem Fall schwierig. Natürlich: Die Vorlaufzeiten in der Oper sind lang, und die Arbeit an der Inszenierung musste zu Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Februar schon sehr weit fortgeschritten sein. Trotzdem ist es bitter, dass „Sibiren“ ganz kommentarlos heute so gezeigt wird.