Szene aus „Der Boden unter den Füßen“
Novotny Film/Juhani Zebra

Zwischen Burn-out und Paranoia

Mit „Der Boden unter den Füßen“ eröffnet ein intensives Psychodrama die diesjährige Diagonale. Marie Kreutzer lässt darin zwei unterschiedliche Schwestern an ihre Grenzen gehen und den Wahnsinn familiärer Strukturen durchleben. Ein Film über Selbstoptimierung und Kontrollverlust.

Lola (Valerie Pachner) rennt. Durch ihr Leben als Unternehmensberaterin, wo ein Termin den nächsten jagt und ein „fortyeight“ – eine 48-Stunden-Schicht – keine Seltenheit ist. Die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben sind fließend, weil sie ein Verhältnis mit ihrer Vorgesetzten hat und ohnehin nicht abschalten kann. Alles ist geplant und strukturiert, und in den Pausen geht man auf den Hometrainer.

Mit Ende zwanzig steht sie kurz vor der Beförderung zur Partnerin, geplant ist ein Projekt in Australien, das sie für die nächsten Jahre gemeinsam mit ihrer Teamleiterin und Geliebten Elise (Mavie Hörbiger) betreuen soll. Ein vermeintlich gefestigtes Leben auf der Überholspur also, immer auf der Suche nach Selbst- und Profitoptimierung.

Szene aus „Der Boden unter den Füßen“
Novotny Film/Juhani Zebra
48-Stunden-Schichten sind normal

Alles könnte bis zum Burn-out so weitergehen, wenn Lolas Konstrukt nicht durch den Suizidversuch ihrer älteren Schwester ins Wanken geriete. Die an paranoider Schizophrenie leidende Conny (Pia Hierzegger), von der Lola ihrem Umfeld nie erzählt hat, landet nach einer Überdosis Tabletten in der Psychiatrie und bittet ihre Schwester um Hilfe. Hin und her gerissen zwischen Eigeninteresse und Verantwortungsgefühl gerät Lola in einen Strudel, der sie schließlich am Zustand ihrer eigenen Psyche zweifeln lässt. Was ist real und was bildet sie sich nur ein? Leidet sie etwa plötzlich selbst unter Halluzinationen?

Psychothriller statt Tragikomödie

Wie in ihren Filmen „Gruber geht“ (2015) und „Was hat uns bloß so ruiniert?“ (2016) hebt Regisseurin Kreutzer die Welt erfolgreicher Stadtmenschen auch in „Der Boden unter den Füßen“ aus den Angeln, nur diesmal ernsthafter, bedrohlicher, doppeldeutiger – Psychothriller statt Tragikomödie.

Szene aus „Der Boden unter den Füßen“
Novotny Film/Juhani Zebra
Was geschieht wirklich und was nur in Lolas Kopf?

Schon lange sei das Drehbuch zu ihrem neuesten Werk in einer Schublade gelegen, erzählte Regisseurin Kreuzter in Interviews auf der Berlinale, wo der Film im Februar seine Weltpremiere hatte. Und nein, sie habe sich nicht hingesetzt und endlich einen ernsten Film schreiben wollen. Der Wunsch, etwas über einen schizophrenen Menschen auf die Leinwand zu bringen, sei schon lange in ihr gereift. Kreutzer war außerdem von der ihr fremden Welt der Unternehmensberater fasziniert und recherchierte akribisch, um dieses Milieu möglichst authentisch darzustellen.

Gnadenlose Workaholics

An der Figur der Elise (Hörbiger) zeigt Kreutzer die Unerbittlichkeit der Workaholics, die Privates und Berufliches gnadenlos voneinander trennen und wo Gewinn fast immer vor Gefühl kommt. Trotzdem werden die Consultants nicht als zynische Karrieristen dargestellt, sondern einfach als Menschen, die ihren Job vielleicht ein bisschen zu ernst nehmen.

Szene aus „Der Boden unter den Füßen“
Novotny Film/Juhani Zebra
Elise und Lola haben eine Affäre

Kreutzer, deren Tante an paranoider Schizophrenie litt, schaut bei diesem Thema genau hin. „Ist sie tot?“, ist Lolas erste Frage, als sich das Krankenhaus am anderen Ende der Leitung meldet. Die psychisch kranke Frau, die früher einmal ihre starke große Schwester war, ist längst verdrängte Realität im sonst perfekten Leben der Unternehmensberaterin. Unangenehm penetrant drängt das Geheimnis nun ans Licht – mit Handlungsbedarf. Conny ist lebensmüde und will doch von ihrer Schwester gerettet werden.

Filmhinweis

„Der Boden unter den Füßen“ ist der Eröffnungsfilm der Diagonale ’19 und läuft außerdem am 19.3. um 21.00 Uhr im UCI Annenhof und am 23.3. um 10.30 Uhr im KIZ Royal.

Der durch das ORF-Film/Fernseh-Abkommen geförderte Film startet am 22.3. österreichweit in den Kinos.

Außergewöhnliches Ensemble

„Man würde nie glauben, dass wir Schwestern sind“, sagt Lola einmal im Film. Sie wird von Kunden als „Lexikon auf zwei Beinen“ bezeichnet und trägt ihr Businesskostüm samt Burberry-Schal wie einen Schutzpanzer. Pachner als Lola führt das außergewöhnlich gut besetzte Schauspielerinnenensemble an, das mit seinem intensiven Spiel die Männer im Film zu Statisten werden lässt. Es wird zwar einmal ein Penis ausgepackt, aber was tut das schon zur Sache.

Besonders stark ist der Film immer dann, wenn die beiden Schwestern aufeinandertreffen und Kreutzers Begabung für pointierte Dialoge und Leena Koppes Talent für atmosphärische Bildgestaltung voll zu Geltung kommen, gedreht auf 35-Millimeter-Film. Durch die Einschübe surrealer Elemente wird das Drama spannend und unvorhersehbar, auch wenn man sich schon zu Beginn denken kann, dass sich ein Happy End wohl nicht mehr ausgehen wird.