Fimlstill aus „Eine Eiserne Kassette“
sixpackfilm

Die SS-Fotos des Großvaters

Nils Olger wusste, dass sein Großvater im Zweiten Weltkrieg als Arzt bei der SS gewesen war. Was er nicht wusste: Sein Opa war Teil einer SS-Panzerdivision, die an Kriegsverbrechen beteiligt war. Der Dokumentarfilm „Eine Eiserne Kassette“ ist Zeugnis einer präzisen Spurensuche.

Erst nach dem Tod seines Großvaters Olaf Jürgenssen, der mit 93 Jahren verstorben war, rückte die Großmutter des Wiener Filmemachers Olger damit heraus: In ihrem Wandschrank im Schlafzimmer hatte sie eine versperrte metallene Kassette aufbewahrt, darin eine Reihe von Briefen, Fotoabzügen, und Dokumenten. Sie zeigte ihrem Enkel Nils den Inhalt, sagte, „so, jetzt weißt du alle Geheimnisse“, und verschloss die Kassette wieder.

Der Inhalt ist Anlass für Olgers Dokumentarfilm „Eine Eiserne Kassette“, der bei der Diagonale zu sehen war – doch zum Nachlass des Großvaters gehörte noch mehr: eine eng aufgewickelte Rolle mit Kleinbildnegativen, insgesamt 377 Schwarzweißbilder, die Jürgenssen in seiner Zeit als SS-Truppenarzt aufgenommen hatte. Olger hatte seinen Großvater kurz vor dessen Tod in einem Videointerview befragt, woran er sich denn erinnern könne aus dem Krieg, und der hatte wohl detaillierte Erzählungen bereit. Doch immer wenn es um tote oder verletzte Feinde ging, wurde der Bericht brüchig.

Filmstill aus „Eine eiserne Kassette“
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Ein Bild der Großeltern. Die Doppelbelichtung war keine Absicht

Eine Kassette der Pandora

Die Kassette aus Großmutters Wandschrank wird zu einer Büchse der Pandora: Entlang der Fotos unternimmt Olger in seinem Film den Versuch, die Lücken zu schließen. Den begütigenden Aussagen der Großmutter, man habe ja nichts wissen können, außerdem sei der Großvater ja nur Arzt gewesen, setzt er akribische Recherchearbeit entgegen, geht an die Orte, wo die Bilder gemacht wurden, und fragt nach: in Ungarn, im heutige Rumänien, dort, wo die Kompanie des Großvaters stationiert war, nahe eines Ghettos, und später in Italien, in der Gegend um Carrara.

Filmstill aus „Eine eiserne Kassette“
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In Italien ist das Gedenken an die Opfer lebendig – und auch die Täter sind nicht in Vergessenheit geraten.

Sommer, Sonne, feiernde SS

Jürgenssen war als Arzt und SS-Hauptscharführer Mitglied einer Aufklärungseinheit der 16. Panzerdivision „Reichsführer SS“ gewesen – jener Einheit, deren Kommandant Walter Reder sechs Jahre nach Kriegsende wegen Massakern an Zivilisten im Sommer 1944 vor einem Militärgericht in Bologna zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Während der ersten dieser Kriegsverbrechen war Jürgenssen mit seinem Sanitätswagen dabei. Seine Fotos aus diesen Tagen zeigen allerdings Idylle: sommerliche Landschaften, italienische Dörfer, feiernde SS-Leute.

Dass in diesen Dörfern Partisanen und Zivilistinnen ermordet wurden, dass diese SS-Leute noch Tags zuvor gemetzelt hatten, schreibt Jürgenssen in seinen Liebesbriefen an seine zukünftige Frau nicht. Olger geht mit seiner Kamera in diese Dörfer und fragt nach, bei Hinterbliebenen, bei Zeitzeugen, lässt sich Verstecke am Berg zeigen, nimmt an Gedenkveranstaltungen teil. Mit brüchiger Stimme berichtet ein winziger alter Mann, wo die Leichen lagen. Da drüben das erste Opfer. Da hinten, die Mutter hat sich gerade noch verstecken können.

Am Ende die Hochzeit in Schloss Orth

Schließlich kehrt der Film wieder nach Österreich zurück, lässt die Großmutter erzählen, wie das war mit der Hochzeit, die von Himmler persönlich genehmigt werden musste, und wie sie unmittelbar nach Kriegsende die schönste Braut war in Schloss Orth in Gmunden. Wie ihr Mann sich als einfacher Wehrmachtssoldat ausgab, wie die Entnazifizierung dadurch nur kurz dauerte.

Bis in die Gegenwart spannt „Eine Eiserne Kassette“ den Bogen, zu Friedhelm Frischenschlager, der sich 1985 als FPÖ-Verteidigungsminister erfolgreich darum bemüht hatte, den verurteilten Kriegsverbrecher Walter Reder aus der italienischen Haft nach Österreich zu holen, und der damit einen internationalen Skandal ausgelöst hatte. Das Foto, mit dem Reder damals auf dem Cover des Nachrichtenmagazins Profil abgebildet war, kennt Olger gut – aus der eisernen Kassette seines Großvaters.

Filmhinweis

„Eine Eiserne Kassette“ ist bei der Diagonale bereits gelaufen.

Die Pflicht der Enkel

„Eine Eiserne Kassette“ ist vielerlei: präzise Beweisaufnahme, anhand genau datierter und verorteter Fotos. Und Familiengeschichte ohne fehlgeleitete Zurückhaltung, aber auch ohne Selbstbezichtigung: Aufgabe der Nachfahren ist es, nachzufragen, zu dokumentieren und zu erinnern, und eben nicht zu vergessen und wegzuschauen. Damit ist dieser Film exemplarisch auch Aufarbeitung, wie sie in österreichischen Familien nach wie vor möglich und notwendig ist.

„Das Bild meines Großvaters, wie ich ihn gekannt habe, existiert nicht mehr“, heißt es am Ende des Films. „Er hat den Tätern geholfen und vor den Opfern geschwiegen. So werde ich ihn in Erinnerung behalten.“