Melina Benli, Law Wallner, Maya Wopienka in „Sonne“
Ulrich Seidl Filmproduktion
Kurdwin Ayub

Zur Eröffnung geht die „Sonne“ auf

Auf der Berlinale ist Kurdwin Ayubs erster Spielfilm bereits von Jury und Publikum gefeiert worden, jetzt eröffnet „Sonne“ die Diagonale in Graz und wird gleichzeitig in Wien, St. Pölten, Innsbruck, Linz und Klagenfurt gezeigt. Die Geschichte über Teenager-Träume, migrantische Identitätssuche und die Macht von Social Media ist selbstironisch, rührend, lustig und vor allem eines: wahr.

Seit ihrem preisgekrönten Dokumentarfilm „Paradies! Paradies!“ (2016), wo sie ihren Vater auf einer Reise nach Kurdistan begleitet hat, gilt Regisseurin Ayub als Shootingstar im heimischen Filmbusiness und wird gerne als Stimme ihrer Generation bezeichnet. Sie selbst wuchs in einem Randbezirk Wiens auf, nachdem ihre Familie 1991 – mit ihr als Baby – aus dem Irak nach Österreich geflüchtet war. Als Tochter eines Ärztepaares, das in der neuen Heimat vergleichsweise schnell Wurzeln schlagen konnte, lebte Ayub zwar im Gemeindebau, ging aber aufs Gymnasium und fühlte sich, wie sie sagt, immer als Österreicherin.

Genau wie Yesmin (Melina Benli), die Hauptfigur in ihrem Spielfilmdebüt „Sonne“. Dass die Maturantin Muslima ist und Kopftuch trägt, interessiert niemanden, sie ist eine gute Schülerin und hängt gerne mit ihren Freundinnen Bella (Law Wallner) und Nati (Maya Wopienka) ab. Bella nennt sich selbst „Halbjugo“, Nati „kommt aus Österreich“. Bereits in der Eröffnungsszene wird der Tonfall des von Ulrich Seidl produzierten Films vorgegeben: Aus Spaß haben sich auch Bella und Nati in Hidschabs gehüllt und wälzen sich auf dem Ehebett in Yesmins elterlicher Wohnung. „Ich hab’ mich noch nie so schiach und geil zugleich gefühlt“, sagt Nati.

Szene aus „Sonne“
Ulrich Seidl Filmproduktion
Bella (Law Wallner, li.) und Nati (Maya Wopienka) posen in Hidschabs und fühlen sich „schiach und geil zugleich“

Mit dem Handy drehen sie ein Musikvideo zum 90er Hit „Losing My Religion“, das viral geht und die drei über Nacht zu YouTube-Stars in der österreichischen muslimisch-kurdischen Szene macht. Während Yesmins Mutter empört ist und sich beklagt: „Ihr macht euch über unsere Religion und Kultur lustig!“, likt ihr Vater das Video und freut sich über den Erfolg der „talentierten jungen Frauen“.

Stolz chauffiert er die von heute auf morgen viel gebuchten Freundinnen zu Hochzeiten und anderen Festen der kurdischen Community, wo sie vor begeistertem Publikum auftreten. Die plötzliche Popularität setzt eine unerwartete Dynamik in Gang: Bella und Nati fühlen sich vom kurdischen Patriotismus angezogen und suchen dort ein neues Zuhause, während Yesmin beginnt, ihre Kultur zu hinterfragen und in eine veritable Identitätskrise schlittert.

Filmhinweis

„Sonne“ ist der Eröffnungsfilm der Diagonale und am 5. April gleichzeitig um 20.30 Uhr in ausgewählten Programmkinos in ganz Österreich zu sehen: Annenhof Kino Graz, Stadtkino Wien, Cinema Paradiso St. Pölten, Leokino Innsbruck, Moviemento Linz und Volkskino Klagenfurt.

Regulär startet der im Rahmen des ORF-Film/Fernseh-Abkommens geförderte Film am 9. September 2022 in den österreichischen Kinos.

Zuschauer auf Augenhöhe bringen

Man kann den Diagonale-Intendanten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber zur Wahl ihres diesjährigen Eröffnungsfilms nur gratulieren. Wohl kein anderer österreichischer Film hätte das Lebensgefühl einer Generation zwischen Social-Media-Chaos, Sinnsuche, Alltagsrassismus und Sexismus mit so viel frischem Wind auf die Leinwand bringen können wie „Sonne“.

Die Regisseurin dazu im Gespräch mit ORF.at: „Andere Filme zu dem Thema sind selten gut. Also dachte ich: Jetzt muss ich selbst einen Film darüber machen. Ich wollte eine sehr ehrliche und authentische Geschichte aus der Sicht einer jungen Kurdin erzählen. Und wer kann das besser als eine junge Kurdin? Die meisten Filme zu dem Thema sind mit Klischees überfüllt oder zu dramatisch. Und erwecken Mitleid. Ich wollte mit Humor und Ironie an die Sache herangehen, denn das bringt die Zuschauer auf Augenhöhe.“

Kurdwin Ayub
Sonia Neufeld/ORF.at
Junge Frauen mit Migrationshintergrund? Den Film, den Kurdwin Ayub zu diesem Thema hätte sehen wollen, musste sie selber drehen.

Eltern als Filmstars

Neben der Lebenswelt der Jugendlichen werden auch die Konflikte innerhalb von Yesmins Familie gezeigt, wobei Mutter und Vater – großartig! – von Ayubs eigenen Eltern dargestellt werden. Diese Besetzung sei allerdings nicht von Anfang an klar gewesen, so Ayub: „Ich habe zwei Jahre für die Eltern gecastet und niemanden gefunden, der meinen Vorstellungen entsprochen hat. Meinen Vater habe ich zwar gefragt, ob er mitspielen will, aber er hat abgelehnt und gesagt, ich solle mir mal was Neues einfallen lassen und dass er nicht immer mein Star sein könne. Als ich dann meine Mutter gecastet habe, ist er ganz eifersüchtig geworden. Er ist dann unaufgefordert zu den Castings gekommen, um zu beobachten, ob die anderen Väter eh gut sind. Schließlich habe ich es geschafft, dass beide im Film mitspielen.“

„Rolemodel für Migrantengirls“

Man merkt also schon im Gespräch mit der Jungregisseurin, dass sie die Dinge anders angeht als andere. Was sie selbst zum Hype um ihre Person sagt? „Mir ist bewusst, dass ich als junge Frau und Ausländerin gerade im Trend liege. Aber was soll ich machen? Es ist halt so, und dann spiele ich halt damit. Bin ich halt ein Rolemodel für alle Migrantengirls.“

Nicht zuletzt durch ihre mutige Bildsprache gelingt es Ayub, Authentizität und Selbstironie zu transportieren. Furchtlos montiert sie von den Darstellerinnen selbst gedrehte Handyvideos im Hochformat und bringt dadurch eine völlig neue Ästhetik auf die Leinwand. Form und Inhalt sind Programm: „Das Ziel war es, die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht mit Antworten, sondern mit Fragen zu hinterlassen. Man soll sich Gedanken machen. Und vielleicht ertappt man sich ja selbst dabei, dass man manchmal in Stereotypen denkt.“ Dieser Plan ist aufgegangen, denn eines ist sicher: Der Film ist ein Crashkurs in Sachen jugendlicher Identitätssuche, und man verlässt den Kinosaal in jedem Fall schlauer, als man ihn betreten hat.