Alice Schwarzer
Cristina Perincioli
„Alice Schwarzer“

Feminismus als Kulturrevolution

Sabine Derflinger hat bereits mit „Die Dohnal“ ihre gute Hand für starke Frauenporträts bewiesen. Jetzt präsentiert sie in Graz ein einfühlsames Filmporträt über Alice Schwarzer, die Ikone des Feminismus, die heuer ihren 80. Geburtstag feiert. Im Gespräch mit ORF.at macht Schwarzer nicht zuletzt Influencerinnen dafür verantwortlich, dass das Bild der Frau wieder gerne reaktionär gesehen wird.

„Wir Feministinnen haben enorm viel erreicht, eine wahre Kulturrevolution. Aber man schafft eben 5000 Jahre Patriarchat nicht in 50 Jahren ab“, so Schwarzer im Gespräch mit ORF.at. Regisseurin Derflinger hat der Galionsfigur der Zweiten Frauenbewegung einen Film gewidmet, der eine ebenso unverdrossene wie leidenschaftliche Kämpferin für die Gleichberechtigung zeigt.

Der Gender-Gap ist immer noch erheblich und für junge Frauen wurde es auch nicht unbedingt einfacher. „Die Enkelinnen der Pionierinnen haben es vielleicht schwerer: Die Fronten sind nicht mehr so klar. Und die Botschaften sind widersprüchlich. Einerseits sagt man ihnen: Die Welt steht euch offen, ihr könnt alles tun. Gleichzeitig aber suggerieren ihnen nicht nur die Influencerinnen: Immer schön Frau bleiben, schön dünn, ewig jung und ein bisschen doof sein“, sagt Schwarzer.

Feminismus bedeutet Humanismus

Der Feminismus betrifft die ganze Welt, er ist eine Frage der Aufklärung, des Humanismus und des Geschichtsbewusstseins. Derflingers Porträt verknüpft die Ebenen von Vergangenheit und Gegenwart in Schwarzers bewegtem Leben. Der Film beginnt mit einer Sensation, deren mediales Echo nicht kalkulierbar war: Im Jänner 1975 lud der WDR Schwarzer und die Autorin Esther Vilar zu einem Streitgespräch.

Die beiden Frauen diskutierten über Vilars Buch „Der dressierte Mann“ (1971), das als „feminine Antwort“ auf die Frauenbewegung erschienen war und sich als sexistisches Machwerk erwies. „Wie ist es nur möglich, dass die Männer nicht bemerken, dass an den Frauen außer zwei Brüsten und ein paar Lochkarten mit dummen, stereotypen Redensarten nichts, aber auch wirklich nichts ist?“, schreibt Vilar.

Alice Schwarzer
Derflinger Film/Christine A. Maier
Eine Ikone seit 1975: Alice Schwarzer

Schwarzer, die das Buch vorerst als läppische Schrift abtat, nimmt nun die Sache ernst und präsentiert sich nicht als sachorientierte Journalistin, sondern als betroffene Frau. Damit wird sie zur Identifikationsfigur. Trotz des ungünstigen Sendetermins an einem Nachmittag beherrschte das TV-Duell wochenlang die Schlagzeilen und machte Schwarzer mit einem Schlag zur „Star-Feministin.“

Kämpferin und verletzlicher Mensch

Zu diesem Zeitpunkt hatte Schwarzer bereits zwei Bücher herausgebracht, doch ab nun galt sie als „öffentliche Person“ und Vorreiterin der Frauenbewegung. Derflinger erzählt nicht chronologisch, sondern montiert Archivmaterial mit aktuellen Interviews, zeigt Ausschnitte aus Auftritten in Talkshows und begleitet Schwarzer in ihr Büro in der „Emma“-Redaktion.

Filmhinweis

„Alice Schwarzer“ läuft noch am 9. April im Rahmen der Diagonale um 14:00 im Annehof Kino 6. Im Anschluss diskutiert Diagonale-Preisträgerin Sabine Derflinger mit Julia Pühringer (Filmkritikerin und Journalistin) über ihr filmisches Werk, feministische Perspektiven und die für die Zweite Frauenbewegung ikonische Alice Schwarzer.

Überraschend ist, dass Schwarzer, die ihr Privatleben bis vor wenigen Jahren vor der Öffentlichkeit verborgen hielt, nun auch mit ihrer Ehefrau Bettina Flitner vor die Kamera tritt. In der biografischen Annäherung ist auch die Nähe zur Porträtierten spürbar, etwa wenn Derflinger Videomaterial verwendet, das Flitner ganz privat erstellt hat: Diese filmt Schwarzer im Badezimmer eines Münchener Hotelzimmers.

Schwarzer schminkt sich in Vorbereitung für eine Talkshow, während sie mit Flitner redet. Flitner, von Beruf Fotografin, ist im Spiegel mit der Videokamera in der Hand zu sehen. Die Intimität der Handlung und des Raumes, die offenen Gespräche und Selbstreflexionen zeigen einen verletzlichen Menschen hinter der Kämpferin für die Frauenrechte.

Simone de Beauvoir und andere Leitfiguren

Viele Seiten aus Schwarzers bewegtem Leben werden aufgefächert, Ausschnitte über den Prozess gegen den „Stern“, ihre Rolle in der „Causa Kachelmann“, Protestaktionen gegen Prostitution, aber auch ihre familiären und politischen Wurzeln werden gezeigt. Schwarzer wuchs als uneheliches Kind bei liebevollen Großeltern auf. Sie spaziert durch deren verwilderten Wuppertaler Garten, das Haus ist längst abgerissen, doch die politische Haltung der Großeltern prägt ihr ganzes Leben.

Zu ihren frühen Prägungen gehören auch Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, wie sie im Interview mit der Regisseurin berichtet, auf der Kölner Hohenzollernbrücke stehend. Das Bild hat Symbolkraft, nicht zuletzt geht es der „Universalistin“, die sich als Pariserin und als Deutsche sieht, um Vermittlung, um das offene Gespräch, das Aufbrechen strenger Zuschreibungen.

Beauvoirs Buch „Das Andere Geschlecht“ wird ihr – der Autorin des „Kleinen Unterschieds und seinen großen Folgen“– zur zentralen Schrift, aus der Schwarzer bis heute zitiert: „Der Schlüsselsatz von Beauvoir bleibt gültig: ‚Wir werden nicht als Frauen geboren, wir werden es.‘ Das kulturelle Geschlecht, Gender, ist relativ und darf gerne dekonstruiert werden. Aber das biologische Geschlecht, Sex, ist Natur und ein Fakt,“ so Schwarzer im Gespräch mit ORF.at.

Beauvoir und Schwarzer verband eine tiefe Freundschaft und auch zahlreiche feministische Aktionen, etwa das politische Manifest der 343 Frauen: „Ich habe abgetrieben – und fordere das Recht dazu für jede Frau.“

Romy Schneider intim und eine Manspreadingparodie

„Die scheinbare Geschichtslosigkeit von Frauen ist eine der schärfsten Waffen gegen Emanzipation. Wie soll man denn weiterkommen, wenn man immer bei Null anfangen muss?“, so Schwarzer am Ende des Films. Wir erleben neben Beauvoir eine Auswahl an Vorbildern, Mitstreiterinnen und Freundinnen: Auf der Tonebene ist Romy Schneider im persönlichen Gespräch mit Schwarzer zu hören.

Ein Aufeinandertreffen, das Schwarzer bewegt zurückließ, da sie nach eigener Aussage nicht sicher war, was Schneider nun der Journalistin bzw. was sie der Freundin Schwarzer anvertraut hatte – und dazu führte, dass Schwarzer nur einen kleinen Teil des Erfahrenen veröffentlichte.

Alice Schwarzer
Derflinger Film/Christine A. Maier

Ausschnitte von Interviews mit der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich und der Publizistin Marion Dönhoff illustrieren, wie viele Gesichter der Kampf um Gleichberechtigung haben kann. Und immer wieder wird Schwarzer bei den Redaktionssitzungen der von ihr 1979 gegründeten „Emma“ begleitet, der bis heute weltweit einzigen unabhängigen feministischen Zeitschrift.

Aber auch ihre Provokationslust kommt nicht zu kurz: Ein TV-Ausschnitt einer Begegnung mit dem Schauspieler Klaus Löwitsch sorgt für Lacher, als sie ihn in seinem Männlichkeitsgehabe trefflich parodiert, heute würde man von exzessivem „Manspreading“ sprechen, dem sich Schwarzer auf dem Studiosofa hingibt. Aber auch Gestik und Wortwahl des als Parade-Macho agierenden Löwitsch spiegelt sie lässig wider und erntet damit amüsierte Zustimmung.

Geglückter Rhythmus

Regisseurin Derflinger hat die Gefahr, dass bei Filmporträts schnell „Talking Heads“ dominant werden können, elegant umschifft: Gemeinsam mit ihrer für die Montage verantwortlichen Kollegin Lisa Zoe Geretschläger hat sie einen Rhythmus gefunden, der zwischen Archivmaterial an bewegten Bildern, Fotos, Zeitungsausschnitten sowie originär für den Film gedrehten Sequenzen in Harmonie changiert. Die Lauflänge von zwei Stunden und 15 Minuten wirkt damit äußerst kurzweilig und entwickelt den angenehmen Sog, von der Protagonistin und ihrer Laufbahn immer mehr wissen zu wollen.

Trans als hoffnungsvoller Ausblick

Im Gespräch mit ORF.at äußert Schwarzer den Wunsch nach vom Geschlecht losgelöster Betrachtung: „Schon als Autorin vom ‚Kleinen Unterschied‘ habe ich 1975 dafür plädiert, dass wir uns nicht länger zu ‚Männern‘ und ‚Frauen‘ verstümmeln lassen, sondern ganzheitliche Menschen sein sollten. Ich finde also, dass es sich bei dem Wunsch, ‚alles‘ zu sein, nicht um eine Allmachtsfantasie handelt, sondern um eine wünschenswerte Utopie. Nur darf die Utopie nicht mit der Realität verwechselt werden. Noch sind wir Männer und Frauen – vor allem in den Augen der anderen.“