Szene aus dem Film „Die Arbeiterkammer“
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„Für die Vielen“

Der lange Kampf um die Arbeitsrechte

Vor über hundert Jahren wurde die Wiener Arbeiterkammer gegründet, als direktes Resultat des Kampfs um Arbeiterrechte. Aus Anlass des Jubiläums begann Dokumentarfilmer Constantin Wulff 2019 mit den Dreharbeiten zu einem großen Porträt der Institution und der Menschen, die sie ausmachen. Doch dann kam das Jahr 2020.

Einer Frau soll gekündigt werden, während sie in Elternteilzeit ist. Einem Mann ist seit Monaten kein Lohn ausgezahlt worden, Lohnzettel gibt es keine. Ein anderer, seit fast 25 Jahren in einem Betrieb, ahnt, dass ihm sein Arbeitgeber beim nächsten Mitarbeitergespräch eine einvernehmliche Kündigung nahelegen wird. Sie alle sind Hilfesuchende, die in den ersten Minuten von Wulffs Dokumentarfilm „Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien“ bei der Arbeiterkammer Beratung bekommen. Selbstverständlich.

Besonders beeindruckend ist dabei die Vielsprachigkeit: Beraterinnen wechseln ansatzlos zwischen Deutsch und Serbisch, es gibt fließende Gebärdensprachen-Simultanübersetzung, bei juristischen Beratungen sitzen selbstverständlich Übersetzer dabei und assistieren den Hilfesuchenden. Es ist, immer wieder, diese Selbstverständlichkeit, die so beruhigend und zugleich ergreifend ist, gegenüber Paketboten, Verpackerinnen, Bauhacklern, Facharbeiterinnen, bei Arbeitsunfällen, Lohnbetrug, der Verweigerung von Sozialleistungen.

Szene aus dem Film „Die Arbeiterkammer“
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Die Vielsprachigkeit der Arbeiterkammer umfasst auch Gebärdensprache

Nichts daran ist auch nur einen Moment trocken, denn es geht um die Essenz des Menschlichen: Jemand, dem der gerechte Lohn verweigert wird, kommt nicht nur an ein existenzielles Limit, ihm wird auch die Anerkennung verweigert. Als eine Dame in Tränen ausbricht, die als Hausbesorgerin arbeitet und mit ihrer Stelle womöglich auch ihre Wohnung verlieren könnte, und ihr die Beraterin zusichert, dass es egal sei, wenn der Arbeitgeber zornig wird, „der muss sich an die Gesetze halten, wir vertreten Sie jetzt“, ist das ein großer Moment.

Selbstverständlich da

Wie außerordentlich es ist, dass es da jemanden gibt, der für die Rechte der Schwächeren kämpft, und wie gar nicht selbstverständlich das in Wahrheit für viele arbeitende Menschen ist, wird vor allem für jene schmerzlich offensichtlich, für die die Arbeiterkammer nicht zuständig ist. Das gilt etwa für Selbstständige, Einpersonenunternehmen, Scheinselbständige. Dass die Vertretung durch die Arbeiterkammer auch für Angestellte und Arbeiterinnen nicht immer da war, wird aus der Geschichte der Arbeiterkammer deutlich.

Filmhinweis

„Für die Vielen“ feierte seine Österreich-Premiere bei der Diagonale.

Regulär startet der im Rahmen des ORF-Film/Fernseh-Abkommens geförderte Film am 23. September 2022 in den österreichischen Kinos.

Archivmaterial oder Expertinneninterviews haben in dem Genre von Dokumentarfilm, das Wulff verfolgt, nichts verloren. In der Tradition des Direct Cinema etwa eines Frederick Wiseman ist er ein genauer Zuhörer und Institutionen-Porträtist, der keine „Talking Heads“ vor seine Kamera holt, sondern sich als unsichtbarer Zeuge bei Gesprächen, Beratungen und Veranstaltungen dazugesellt und registriert, was er sieht.

„Hundert Jahre Gerechtigkeit“

Die Geschichte der Institution kann Wulff dennoch in den Film holen, weil die Arbeiterkammer sich 2019, als er mit den Dreharbeiten beginnt, auf ein Jubiläum vorbereitet: Am 26. Februar 1920 beschloss der Nationalrat das von Sozialminister Ferdinand Hanusch initiierte Gesetz, nach welchem in jedem Bundesland eine Kammer für Arbeiter und Angestellte werden konnte.

Eine Kampagne unter dem Titel „Hundert Jahre Gerechtigkeit“ soll unter anderem daran erinnern, dass die historische Basis der Arbeiterbewegung ein gesellschaftliches Bündnis zwischen jüdischen Intellektuellen und Industriearbeiterinnen und Industriearbeitern war, wie bei einem der mitgefilmten Konzeptgespräche ein AK-Mitarbeiter feststellt. „Heute wird das als Gegensatz konstruiert, dass die Leute entweder mit den städtischen Bobos oder mit den Hacklern reden können. Dabei ist das Gemeinsame in der Wiege der Arbeiterbewegung angelegt.“

Die Ankunft der Gummihandschuhe

Der Film befasst sich mit dem, was ist, mit den alltäglichen Problemen, der Geschichte, und zeigt auch das Bemühen um eine zukunftsgerechte Politik, etwa bei der fairen Verteilung der Lasten der Klimakrise. Der französische Star-Ökonom Thomas Piketty wird aus Anlass seines Buches „Kapital und Ideologie“ nach Wien geladen, die Vorfreude ist groß. Doch dann kommt der Tag der Buchvorstellung, und die Veranstaltung ist großteils ein Livestream: Die Pandemie hat die Arbeiterkammer eingeholt.

Gummihandschuhe, Plexiglaswände, erste selbstgenähte Masken tauchen auf. Die Gänge und Säle der Arbeiterkammer leeren sich, es ergeht der Rat, die Arbeitslaptops nach Hause zu nehmen, sicherheitshalber. Beratungen und Besprechungen finden zuerst nicht, dann über Zoom statt. Und auf einmal ist keine Zeit mehr zum Feiern. Im Lockdown und danach tun sich völlig neue Probleme auf: Wie sollen Eltern im Homeoffice vollzeitarbeiten, wenn die Kinderbetreuungen geschlossen sind?

Szene aus dem Film „Die Arbeiterkammer“
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Egal in welcher Sprache: Hier wird zugehört

Was ist mit den sogenannten systemerhaltenden Berufen, die zwar abends von den Fenstern aus beklatscht werden, aber nach wie vor die geringsten Verdiener sind, Verkäuferinnen, Pflegerinnen, fast immer Frauen, Migrantinnen? Woher wissen Angestellte, die zur Kurzarbeit angemeldet sind, ob ihre Arbeitgeber nicht hintenherum betrügen? Wie kommen etwa Bauarbeiter zu ihrem Lohn, die ihre Jobs via Facebook oder Whatsapp vermittelt bekommen haben und keinerlei Unterlagen besitzen?

Gesellschaftspolitische Hygiene für Austria

„Für die Vielen“ ist das dritte große Institutionenporträt von Wulff, nach „In die Welt“ (2008) über die Arbeit der Semmelweis-Geburtsklinik in Wien und dem Dokumentarfilm „Wie die anderen“ (2015), der sich mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie Tulln auseinandersetzte. Wo das österreichische dokumentarische Filmschaffen vielfach geprägt ist von Stilisierung und von Balanceakten zwischen Fiktion und Dokument, geht Wulff in die konträre Richtung. Sein Film ist immer radikal den Menschen innerhalb der Institution zugewandt, ihrem Wollen und Müssen, aber verlässt dabei nie den Arbeiterkammer-Kontext.

Und dann am Ende sind da einige Arbeiterinnen, die von untragbaren Zuständen berichten: Trinkverbot während der Arbeit, keine ordentlichen Lohnabrechnungen, viel zu hohe Anforderungen an das Arbeitstempo. Beim Arbeitgeber handelt es sich um eine Firma, die berühmt wurde dafür, dass sie chinesische FFP2-Masken als „Made in Austria“ verpacken ließ. Der Fall ist die unprätentiös gesetzte Schlusspointe eines vielfältigen, ungemein kurzweiligen Porträts, die die fortwährende Notwendigkeit der Existenz der Arbeiterkammer noch einmal deutlich macht.