Szenenbild zu Diamante
Nurith Wagner-Strauss
„Diamante“

Die Lindenstraße strandet im Dschungel

Theater als Telenovela und Versuchsanordnung für angewandte Soziologie? Der Argentinier Mariano Pensotti zeigt mit seiner fiktiven Stadt „Diamante“, die er in einer Eishalle in Kagran als eine Art erwanderbaren Budenzauber entstehen lässt, dass sich soziales Leben nur schwer auf dem Reißbrett entwerfen lässt.

„Werksiedlung“, so nannte man schon im 19. Jahrhundert jenes Konzept, das kapitalistische Produktionsziele mit sozialen Entwicklungsformen zusammenbringen wollte. Und auch heute bauen bekanntlich Softwarekonzerne im Umkreis ihrer Standorte gerne „Gated Communitys“, wo sich Firmenphilosophie und sozialer Lebensraum eng überschneiden sollen: die Firma als Community, als Produktionsprojekt – und zugleich als Form der Utopie eines neuen Lebensraumes. Das klingt vernünftig, planbar – und nährt doch die Vermutung, dass sich nicht alles planen lässt. Wer soziale Entwicklung gemeinsam mit den Konzernzielen steuern will, der muss den Lebensraum des Einzelnen in eng geregelten Bahnen führen (und auch überwachen). Davon erzählt die Grupo Marea mit „Diamante“ an einem Abend von gut fünf Stunden.

Goodwind und die Idealstadt im Dschungel

Das Publikum taucht ein in die Welt einer Idealstadt, die der erdachte Gründer Emil Hügel vor gut hundert Jahren im argentinischen Dschungel anlegen ließ. Goodwind heißt die Firma und Diamante die Stadt auf dem Reißbrett im Dschungel, die nach dem Modell einer schwedischen Holzhäuserstadt modelliert ist.

Alles ist künstlich in Diamante, ein Gedanke, der den Argentinier Pensotti fasziniert, lebe doch sein Land, wie er sagt, von einem einzigen Zivilisationstransfer. Wenig Wunder, so Pensottis Ansicht, dass sich in diesem Setting Luftschlösser eines möglichen Kulturtransfers von Europa an das andere Ende der Welt verfestigten. Wer den Dschungel domestizieren und zivilisieren will, erntet nach Pensottis Vermutung noch größere Perversionen, was das Glücken einer sozialen Ordnung anlangt.

Theater als Fernsehen in der Budenlandschaft

An den Abenden, die bei den Festwochen noch bis zum 19. Mai stattfinden, erwandert sich das Publikum in einer Art Budenlandschaft die soziale Welt von Diamante. Parallel elf Lebensgeschichten zu je acht Minuten werden da gespielt. Es ist eine Mischung aus Theaterszene und Narrativen aus der Feder eines Drehbuchautors, denn über jeden dieser voyeuristisch ausgestellten Sozialguckkästen läuft auch ein Erzähltext, der oft „allwissender“ ist als die in den Settings handelnden Personen.

Denn natürlich läuft es in Diamante nicht nur ideal. Weil Menschen Menschen sind, wird geliebt und betrogen – alle sind in dem Spiel gefangen, sich in dem engen Setting der Idealstadt einen Freiraum zu erkämpfen, der aber durch die Überschaubarkeit dieses Städteprojekts überschaubar ist. Eigentlich ist es egal, was Goodwind in Diamante produziert. Der einstige Auftrag ist neuen Geschäftsfeldern gewichen – die Produktionsmaschine muss weiter liefern, und in ihr werden die Menschen älter – und träumen, so wird an diesem Abend deutlich, eigentlich sehr begrenzte Träume.

Hinweis:

„Diamante“ ist bei den Festwochen noch am 12., 14., 15., 16., 18. und 19. Mai zu sehen.

Die Utopie, sie geht über in eine perfide, langsam alles zersetzende Dystopie. Denn die Räume für die Sehnsüchte in Diamante sind zwangsläufig klein. Ausbrüche gibt es nicht in dieser Welt. Kultur etwa ist erbaulich in Diamante, aber bestenfalls eine Ablenkung.

Jeder schneidet seinen eigenen Film

Die Zuseher sind an diesem Abend nicht Regisseure, aber sie sind die Editoren und Cutter dieser analogen Telenovela. Jede und jeder entscheidet über das Narrativ, über den Erschließungshorizont von Diamante. Das ist so kreativ wie originell gedacht. Und doch ist es eine Form des Theaters der Ermüdung. Die Schauspieler kreuzen das Setting des Publikums, im Lauf des Abends zerfließen Betrachtung und Handlung.

Niemand ist nur noch Zuseher, alle sind Teil dieses Projekts, in das von oben immer wieder Kunstnebel geblasen wird. Hätte man Seminararbeiten zu schreiben, dann gäbe es endlose Konvolute zu diesem Abend. Da das Leben aber auch mehr ist als das Existieren auf dem Reißbrett, geht man auch gern aus Diamante raus – und strandet in der Donauvorstadt. Man darf sich Gedanken machen, wie viel Reißbrett auch in unserer Realstadt ist – und wie viel Ausbruch aus allen Schablonen vorgesehen.