Männer in Weiß, die sich vor eingepackten Autos halten
Stephan Glagla
Romeo Castellucci

Moses und Mercedes

Was macht Religionen überzeugungsmächtig – und was passiert in ihrem Ursprungsmoment? In einer mächtigen Rauminstallation bei den Wiener Festwochen zeigt Romeo Castellucci quasi die Rückseite seiner gefeierten Salzburger „Salome“-Produktion und entführt in eine Lagerhalle, gefüllt mit drei Dutzend abgedeckten Mercedes-Limousinen, zur Urszene eines Mythos.

Wenn ein Italiener „La vita nuova“, das neue Leben, ausruft, dann erinnert er unweigerlich an die Urszene der italienischsprachigen Literatur – Dantes gleichnamiges Werk, das so alle Grenzen des Mittelalters zu sprengen wusste, weil die autobiografisch fundierte Liebe zu einer unerreichbaren Frau Triebfeder eines literarischen Texts wurde. Das neue Leben, es ist bei Dante der Ausbruch aus den Konventionen und den Schablonen seiner Zeit, die Begründung eines neuen Aktes, eine Urszene der Literatur.

Doch Castellucci borgt diesen mächtig assoziativen Titel für ein anderes Projekt, man möchte fast meinen, um seine göttliche Komödie zu gestalten: Es geht ihm um die Begründung und die Schöpfung eines neuen Bundes, eines Gemeinschaftsaktes, den Moment, in dem sich Menschen wortlos verstehen, um gemeinsam etwas nie Dagewesenes zu versuchen. Es ist der Akt tiefer Archaik, der Castellucci fasziniert – und ihn fast mit der Haltung seines Vorgängers Pier Paolo Pasolini verbindet.

Szenenbild aus Romeo Castellucci Vita  nuova
ORF.at
Die Unheimlichkeit des Bildraumes bei Romeo Castellucci. Szenenbild vor dem Beginn der Premiere in Wien. Über die Fenster von oben wird im Lauf des Abends grelles Licht fallen.

Ein Raum jenseits der Bilder

Wie schon bei der Salzburger „Salome“ nähert sich Castellucci mit dieser Form von installativem Theater der Frage eines Raumes jenseits der Bilder, jenseits der Sprache, den er zugleich dennoch zur Darstellung bringen muss (und in diesem Sinn wie immer bei ihm: ein Gewaltakt, ein Befreiungsakt, eine Rebellion). In diesem hier geschaffenen Raum möchte Castellucci vor allem ein Gefühl modellieren: Es geht um den Schrecken und die Hoffnung hinter einer Berufung, einen Weg, der noch kein Ziel kennt, der aber zugleich von einer starken Ursprungsüberzeugung getragen ist (und vielleicht ist es dann doch auch ein Traktat im Sinne von Dantes „Vita nuova“, weil dem Anfangsmoment der Liebe ähnlich offene Fragen – freilich ohne den Schauer – eingeschrieben sind).

Die moderne Wüste und ihre Götzen

Es sind fünf Schwarze, die in weißen Gewändern in die verrauchte und mit Neon ausgeleuchtete Halle treten und durch eine moderne Wüste ziehen. Abgedeckte Auto-Coupes stehen in dieser Halle herum – und als müssten die Männer an den Götzen ihrer Zeit vorbei, ziehen sie rituell zum Akt ihres Anfangs. Ein Hirtenstab, ein Dornbusch genügen als Symbol, den gemeinsamen Weg zu beginnen.

Rasch wird dem Publikum klar: Religion ist, fernab der Frage, ob man gläubig ist oder nicht, so tief in unserem kulturellen Code verankert, das alle Symbole hier leicht und sehr basal zu entschlüsseln sind. Castellucci ist auch gar nicht an Subtilitäten interessiert; sein Mythos, in einer sehr männlichen Ausdeutung, beschwört die Erinnerung an die Undeutbarkeit von Religion. Es ist eine fast kindliche Furchterinnerung, die dieses Stück wachruft, und wo, wenn nicht hier, in diesem katholisch geprägten Land, könnte man besser mit dieser Erinnerung spielen?

Das Faszinosum der Produktion liegt in der Mächtigkeit und Undeutbarkeit des Anfangs. Zentrale Begriffe in der Arbeit Castelluccis treten auf: die Leerstelle, die Dunkelheit, die nicht erklärbare Sehnsucht nach Erlösung und einem Paradies, nach der Übersteigerung der Werte, die Sehnsucht, hinter die Rückseite der Dinge zu kommen.

„Wir leben in einer Epoche des Überflusses der Bilder“

Alles Sichtbare verhindert die Erfahrung des Blicks, sagte Romeo Castellucci im Vorjahr vor seiner Salzburger „Salome“ in einem Gespräch mit ORF.at.

Bild, Wort, Leere

In der Salzburger „Salome“ stand mit Johannes dem Täufer der Vertreter des Wortes vor uns – an einem Hof, der sich in seiner Bildsehnsucht nicht mehr selber genügen konnte. Salome drückte ihre Wünsche in Bildphantasmen aus – und Johannes kündete von einer Welt, die erst kommen würde, jenseits der Bilder, fundiert in reinem Glauben. Das Raunen des Johannes und die Sehnsucht der Salome nach Übersteigerung, beide Momente finden in diesem Stück ein Scharnier: Das, was am Christentum so mächtig wurde und das Judentum bereits davor so mächtig gemacht hatte, ist der gemeinsame Weg, der sich später wohl durch ein Narrativ belegen lässt. Für Castellucci ist der Anstoß aber der nicht begründbare Anfang, die Wurzel des Mythos, die immer leer bleiben muss.

Hinweis

Castelluccis „La vita nuvoa“ ist bei den Festwochen noch am 30. und 31. Mai sowie am 1. und 2. Juni zu sehen.

Beginnt die Erzählung zur Religion, wird es belanglos. Die Begründungssätze, die die Priester an diesem Abend aussprechen, könnten irgendwelche Sätze sein; und die Kultobjekte der Religion sind alle möglichen Gegenstände, die die Priester selbst festlegen und mit Bedeutung aufladen. Etwa die Bedeutung des umgekpippten Autos. Natürlich könnte man hier auch über Konsumkritik und Warenfetischismus reflektieren. Doch deutlich wird bei Castellucci, dass der Abend abfällt, je mehr Worte verloren werden.

Wäre Castellucci ein Jesuit, der er als Ikonoklast der Kunst nicht sein kann, würde er seiner Kirche dennoch eines dringend raten: Zurück an die Wurzeln der Unerklärbarkeit.