Encantado
Sammi Landweer
Lia Rodrigues „Encantado“

Mythische Zauberwelt als Feier des Tanzes

Wie kann eine andere Welt aussehen, die nicht „entzaubert“ und von alles erklärender Rationalität, von Egozentrismus und Ausbeutung geprägt ist? Die Brasilianerin Lia Rodrigues, eine der wichtigsten Choreografinnen ihres Landes, hat sich für ihr Stück „Encantado“ von indigenen Mythen inspirieren lassen. Im Wiener Odeon ist nun ein Freudenfest des Tanzes zu erleben, bei dem ordentlich viel Stoff herumgewirbelt wird. Und das mit seiner positiven Energie höchst ansteckend wirkt.

Im Dunkel des Bühnenraums rollen sieben Tänzerinnen und Tänzer einen raumfüllenden Teppich aus, der sich kurz darauf als buntes und wildgemustertes Patchwork aus Decken zu erkennen gibt: Florale Prints aller Farben und eine beeindruckende Variation von Raubtierfellmustern, gekauft von Rodrigues auf einem lokalen Markt in Rio, wie man im Programmheft erfährt.

Zuletzt war die brasilianische Choreografin, deren Studio in Rios größter Favela angesiedelt ist, 2019 bei den Wiener Festwochen mit „Furia“ zu Gast, mit ihrem wütenden Stück, das die Wahl Jair Bolsonaros zum Präsidenten Brasiliens anklagte. Mit „Encantado“ zeigt sie mit ihrer Companhia de Dancas nun sozusagen den tänzerischen Antagonisten dazu: Das Stück sei „aus dem Wunsch entstanden, für unseren kreativen Prozess Magie und Verzauberung als Leitlinien zu nutzen. Wie können wir unsere Ängste verzaubern und uns in Gemeinschaft zusammenschließen, uns nah aneinanderstellen?“, liest man im Programmheft.

Encantado
Sammi Landweer
140 Decken als lustvoller Möglichkeitsraum: Rodrigues und ihre Companhia de Dancas

Inspiration durch afrobrasilianischen Glauben

Mit der Frage eines anderen, „neu beseelten“ Miteinanders steht hier im Zentrum, was derzeit – von der Venedig Biennale bis zum bevorstehenden ImpulsTanz Festival – nicht wenige herumtreibt. Inspirieren lassen hat sich die Choreografin, deren Studio in Rios größter Favela angesiedelt ist, dabei konkret von der Welt der titelgebenden „Encantados“.

Nach dem Glauben afroindigener Kulturen bewegen sich diese magischen Wesen zwischen Mensch und Tier, Erde und Himmel, Sanddünen und Felsblöcken, und beleben diese mit ihren mystischen Kräfte. Bei Rodrigues werden die Mythen nun zum lustvollen Spiel mit der Verwandlung.

Encantado
Sammi Landweer
Die Götter müssen verrückt sein: Performance zwischen grimmigen Grimassen und ausgelassener Lebensfreude

Robbende Leopardenraupe

Das Eröffnungsbild wird schnell zerschnitten. Elf nackte Tänzerinnen und Tänzer schlüpfen unter die nur lose drapierten Stoffbahnen, wickeln sich meditativ ein, um als seltsame Wesen – etwa als robbende Leopardenraupe oder als Kreatur mit eingedreht-langem Rapunzeldeckenhaar – wieder aufzutauchen. Verhüllung und Enthüllung: Mehr oder weniger entblößt entstehen immer wieder neue Deckenverkleidungskreationen, die die Performer in eigenwillige, lebensfrohe und immer souveräne Mischwesen aus Mensch, Tier und Gottheiten verwandeln.

Als nach zehn Minuten Stille rhythmisches Rasseln einsetzt, wendet sich das zunächst nach innen gekehrte Verwandlungsritual langsam in eine Präsentationshow mit Ballroomcharakter, die sich vorerst wenig um die „Gunst“ des Publikums schert. Grimmig grimassierende Wesen reiben sich die Bäuche und stoßen dabei Krächzlaute oder Seelöwenschreie aus: Die erlesene Gemeinschaft ist nur auf der Bühne zu finden, scheinen diese Wesen einem zuzuraunen.

Duos und Trios zu treibendem Sound

Angetrieben von beschwingten und repetitiven Liedern des indigenen Guarani Mbya-Volkes setzt das Stück schließlich sukzessive auf mehr Tempo und Ausgelassenheit. Performer wirbeln wie die Derwische herum oder springen trotz Deckenballast leichtfüßig herum. Mehr und mehr poppen Duos, Trios und Quartette auf, die sich oft parallel zueinander entwickeln: Dort flattert eine riesige Meerjungfrau mit der Flosse, hier wackeln drei Performer lustvoll mit ihren dicken Stoffknäuel-Popos.

Hinweis:

„Encantado“ ist bei den Festwochen noch am 7. Juni, um 20.30 Uhr und am 8. Juni um 19.00 Uhr im Odeon in Wien-Leopoldstadt zu sehen. Am 7. Juni findet im Anschluss an die Vorstellung ein Publikumsgespräch statt.

Während sich da eine florale Deckenwand aufspannt nähert sich hier ein riesenhaftes Trio im Rock dem Publikum an: Auf Schultern anderer stehend führen drei Frauen lustvoll-keck vor, wie ein ganz akkurates Händewaschen aussehen muss – eine unmissverständliche Referenz an die Pandemie, die auch das Entstehen des Stücks zwischen Mai und Oktober 2021 prägte.

Ansteckende Freude

Ob Turban oder Tunika oder wirbelnde Stoffschleuder: Der Abend wird nicht zuletzt zur lustvoll-kreativen Demonstration, was man mit Decken alles machen kann. Vor allem aber, während der Rhythmus schon längst in die Blutbahnen im Zuschauerraum übergeschwappt ist, entwickelt sich die speziesüberschreitende Show immer mehr zum tänzerischen Freudenfest.

Die elf Performerinnen und Performer, die sich schließlich zum Kollektivkörper zusammenschließen, bereiten mit ihrer entgrenzten Erkundung zwischen Tarnung und Travestie so große Freude, dass man bisweilen am liebsten selbst unter die Decken schlüpfen möchte. Was auch mehrheitlich das Publikums so sah, das die Companhia de Dancas mit großem Applaus bedachte.

Wer in „Encantados“ mehr als ein Stück des Verzaubertseins lesen möchte, für den bietet sich auch die Metapher der Pandemie an: Vereinzelte Menschen verschmelzen zu kleinen Grüppchen und finden schließlich als Gesellschaft zusammen. Auch die Frage unseres Umgangs mit der Umwelt steht im Raum. Von den anfangs ordentlich zusammengerollten Decken bleibt ein wildes Fetzenchaos übrig, quer über die ganze Bühne verstreut.