Szene aus „Joy“
Judith Buss
„Joy 2022“

Liebe zu zehnt in barocken Tableaus

Sexuelle Freiheit jenseits normativer Klischees: Um nichts weniger geht es dem jungen belgischen Choreographen Michiel Vandevelde in seiner Performance-Collage „Joy 2022“ bei den Wiener Festwochen. Der Abend wirkte wie ein freudvolles Echo der „Pride“, die Samstagabend vor den Stufen des Volkstheaters ausklang. Aber eben nur ein Echo.

„Ich ficke das Patriarchat, aber nicht gratis.“ Der Performerin, Aktivistin und Sexarbeiterin Maia Ceres gehörte der erste Lacher des Abends, bei der gemütlichen Vorstellungsrunde am Bühnenrand, zu der dann auch das Publikum im Volkstheater aufgefordert wurde. Auf der Bühne: Choreograph Vandevelde, die Sängerin, Schauspielerin und Regisseurin Lucy Wilke aus dem Ensemble der Münchner Kammerspiele, und ihre queere Partnerin Lotta Ökmen, die ihr während der Performance auch assistierte, wenn es darum ging, den Rollstuhl zu verlassen.

Insgesamt zehn Mitwirkende, viele davon aus der sexpositiven und LGBTQ-Szene, spielten in neun teils barocken Tableaus mit Variationen von Sexualität. „Wo stehen wir – Jahrzehnte nach der sexuellen Revolution der 1960er-Jahre?“ ist die Frage, die der Abend stellte. Die Werke, auf die sich Vandevelde in der Inszenierung bezieht, sind teils aber viel älter. Eine bibliographische Liste wird am Beginn nur kurz projiziert, wer versäumt, sie zu notieren, hat Pech gehabt, aber der Nachweis für die akademische Substanz des Abends ist erbracht.

Szene aus „Joy“
Judith Buss
Liebe zu zehnt

Hundert Jahre Provokation

Der Einstieg ist drastisch. Mit elastischen Latexbändern und Frischhaltefolie verschnüren einander die neonbunt gekleideten Performerinnen und Performer, zu harten Beats und immer gefilmt von einer kolportagehaften Livekamera, die Vandervelde selbst führt. Das ganze ist etwa so, wie sich Unerfahrene einen sexpositiven Fetisch-Techno-Klub mit Dark Room vorstellen mögen.

Hinweis

„Joy“ ist noch am 12. Juni ab 20:00 Uhr im Volkstheater zu sehen. Um 18:00 Uhr gibt es in der Roten Bar des Volkstheaters ein Gespräch zwischen Michiel Vandevelde und Valie Export bei freiem Eintritt.

Zur Erheiterung spielt danach eine Darstellerin Erwin Schulhoffs „Sonata Erotica“ aus dem Jahr 1919, die präzise Notation eines Orgasmus, aufzuführen von einer Sopranistin, die mit plätschernder Erleichterung endet. Das Publikum schmunzelt. Danach, übertitelt mit „The Encounter“, kommt eine anrührende, intime Episode zwischen Wilke und Ökmen, die demonstrieren, wie erotische Zärtlichkeit und Behinderung die Kreativität besonders fordern.

Szene aus „Joy“
Judith Buss
Tanz den Faun

Höhepunkt des Abends ist jedoch Klaus, der sich als LKW-Mechaniker mit Sehnsucht nach Verletzlichkeit vorgestellt hat, und sich als ältlicher Faun mit Hörnern im Zuge von viel Selbstliebe einen Butt Plug mit Pelzschweif einführt. Keck die anderen über die Bühne haschend ist er unschwer als Wiedergänger von Nijinskys „Nachmittag eines Fauns“ zu erkennen, 1912 aufgrund seiner eindeutig erotischen Choreographie skandalös, heute vor allem liebenswürdig in seiner entwaffnenden Nacktheit.

Wurst und Farbe

Die Hauptinspiration für den Abend ist allerdings eine andere bahnbrechende Performance, Carolee Schneemanns „Meat Joy“ aus dem Jahr 1964, als „erotischer Ritus“ konzipiert, ein gegenseitiges Einreiben und Beschmieren mit rohem Fisch, Hühnerteilen, Würsten und Farbe, „Die Kultur war damals ausgehungert nach Sinnlichkeit“, so Schneemann. Bei den Festwochen geht es vergleichsweise harmlos her.

Da beschütten und beschmieren einander die Mitwirkenden lediglich mit pastelligen Fingerfarben, was nur anfangs schön bunt ist. Und das war dann letztlich auch ein Bild für den ganzen Abend: Wenn alle Ideen zu einem Thema, alle Farben der Welt miteinander verschmiert und auf Körper aufgeklatscht werden, wenn sich die Körper lustvoll in den Farben wälzen, ist am Ende alles einfach mit beigem Gatsch überzogen.

Finale in Beige

Vermutlich hätte jede der beteiligten Personen viel zu sagen gehabt, wäre sie nur etwas ausführlicher zu Wort gekommen, alle Vorstellungen und Zitate deuten darauf hin. Die Körper auf der Bühne sind fast alle normschön, schlank, keine haarige Achselhöhle wird hier riskiert, kein Bauch, der den Namen verdient, der ganze Abend ist so wagnisfrei, als seien Sexualität und das Ausloten von Grenzen nicht nach wie vor ein Risiko.

Szene aus „Joy“
Judith Buss
Schlammcatchen mit Fingerfarben

Ein echtes Erkunden von Grenzen, von Konsens und der Bedeutung von Nein, eine wahre Hinterfragung der Wirklichkeit von Sexualität und der Risken, die sie mit sich bringen kann, ergibt sich aus keiner Tanzbewegung. Die Programmierung parallel zur Pride, deren müde Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor den Stufen des Volkstheaters gestrandet waren, macht das noch deutlicher.