Despils Do Silencio
Christophe Raynaud De Lage
„Despois Do Silencio“

Familienaufstellung der Sozialrebellinnen

Am Mittwochabend feierte mit „Despois Do Silencio“ (dt. Nach der Stille) der abschließende Teil der Trilogie über Gewalt der brasilianischen Theatermacherin Christiane Jathay im Rahmen der Festwochen ihre Uraufführung. Darin erzählt sie anhand von vier Geschwistern vom weiterbestehen kolonialer Verhältnisse im Gegenwartsbrasilien.

„Agrarreform“ lautete eine wichtige Kampfvokabel für politische Gerechtigkeitsbestrebungen über die letzten 150 Jahre, ganz gleich ob in Europa oder Lateinamerika. Wenn land- und mittellose Landarbeiterinnen und Landarbeiter für wenig mehr als das Essen, das sie zum Überleben brauchen, Großgrundbesitzer reich machen, ist Elend und Verzweiflung nicht weit.

Jathays Stück rollt dieses Thema anhand einer kleinen Gemeinschaft im Nordosten Brasiliens auf. Im Hinterland des Bundesstaates Bahia existiert diese im kleinen Ort Aqua Negra seit Generationen von der Hand in den Mund, ihre Arbeit verkaufen sie für das fragwürdige Recht, das Land zu bewohnen, das sie bestellen.

Drei Schwestern und ein Bruder aus Aqua Negra präsentierten dem Premierenpublikum ihre Geschichte und Kämpfe in Form einer Videolecture, die gekonnt Fakt mit Fiktion verband. „Das Sklaventum existiert weiter, es hat nur seine Form geändert“ erklärte die resolute Lehrerin und Sozialrebellin Bibiana (Gal Pereira) zu Beginn.

Despils Do Silencio
Christophe Raynaud De Lage
Anklage als familiäre Videolecture

Fakt trifft Fiktion trifft Fakt

Das Stück, das auf dem Erfolgsroman des Ethnologen Itamar Vieira Junior „Torto Arado“ (2019) (dt. Krummer Pflug) basiert, der jahrelang zu Landarbeitercommunities und zur Persistenz von Strukturen der 1888 abgeschafften Sklaverei geforscht hat, nimmt schnell fahrt auf.

Hinweis

„Despois do Silencio“ ist noch bis zum 18. Juni um jeweils 20:30 Uhr im Odeon zu sehen. Am 16. Juni gibt es ebenfalls im Odeon um 19:00 Uhr ein Gespräch zwischen Chrstiane Jatahy und Itamar Vieira Junior.

Die Geschichte von Bibiana und ihren Geschwistern, abwechselnd auf der Bühne erzählt und als dokumentarische Videospur präsentiert, wobei sich die Stimmen und Geräusche im Film und der Schauspielerinnen auf der Bühne immer wieder mischen – als Hinweis darauf, das Fakt und Fiktion hier ein unauflösbares Gewebe bilden – wird von Jathay mit Anleihen an das Leben des Aktivisten Joao Pedro Teixeira und seines Nachfolgers Severo dos Santos verschnitten, die beide im Kampf um die Rechte ihrer Gemeinschaft ermordet wurden.

Jathay inspirierte sich auch bisher in ihrer „Trilogy of Horror“ an fiktionale Quellen. „Entre chien et loup“ basierte auf Lars von Triers „Dogville“, der zweite Teil „Before the sky falls“ verband Shakespeares „Macbeth“ mit „The Falling Sky“ von Davi Kopenawa und Bruce Albert.

Despils Do Silencio
Christophe Raynaud De Lage
Gelungenes Spiel zwischen Video und Bühnengeschehen

Doku und Jare-Bilderwelt

Genau dieser Grenzgang in dem sich der dokumentarische, anklagenden Gestus des Films auf der Bühne mit poetischen Einsprengseln und einer surrealen Bildwelt, die sich aus der afro-brasilianischen Religion Jare speist, verbinden, machte am Mittwochabend die Wucht von „Despois Do Silencio“ aus.

Wer genau hinsah, der konnte auch hier „Macbeth“ Anspielungen entdecken. Die drei Schwestern, die die Gewalt, die ihrer Familie seit Generationen zugefügt wurde um dann, wie die Geister, die im Jare einen Körper „reiten“, innerhalb der Familie neue Träger zu suchen gleichermaßen verarbeiten und heraufbeschwören, konnte man durchaus als Wiedergängerinnen von Shakespeares „Weird Sisters“ mit ihren dunklen Voraussagen deuten.

Für ihr Lebenswerk hat Jathay dieses Jahr den goldenen Löwen bei der Theater-Biennale in Venedig zugesprochen bekommen, die Jury hob die Kunst der Verschmelzung „ihrer poetischen Dimension mit dem Kontrapunkt eines bissigen politischen Denkens“ hervor. „Despois Do Silencio“ darf noch bis Samstag als hervorragendes Beispiel dafür dienen.