Publikum auf der Wiese beim Wolkenturm
Lukas Beck / Grafenegg
Abschluss mit Fleming und Orozco-Estrada

Grafenegg liegt gleich vor Sevilla

Mit Spielfreude und großer Eleganz hat sich das Festival Grafenegg in diesem Jahr verabschiedet. Andres Orozco-Estrada, momentan Chefdirigent der Wiener Symphoniker, hatte am Sonntagabend die Musiker der Mailänder Scala als Klangkörper im Wolkenturm vor sich. Gemeinsam mit Grafenegg-Liebling Renée Fleming ging man bis an die Grenzen der Romantik. Um am Ende doch sehr nahe bei Sevilla zu landen.

Zum Abschied ein Rufzeichen! Unter dieses Motto muss Festivalchef Rudolf Buchbinder den Schlussakkord des 15. Grafenegg-Festivals gestellt haben. Denn er brachte einen seiner Grafenegg-Lieblinge vorne auf die Bühne: US-Opernstar Fleming, die in Grafenegg so etwas wie Heimspielstatus hat. Die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss (AV 150 – TrV 296) hat sie sich gemeinsam mit den Filarmonica della Scala und Orozco-Estrada vorgenommen. Und es wurde ein Abend mit Eleganz, Wehmut – und doch auch einer, das zeigte das Framing rund um dieses Abschiedsstück aus dem Werkcorpus von Strauss, von großer und gut gezügelter Spielfreude.

Highlights: Jubiläumsfestival in Grafenegg

Heuer fand das 15. Grafenegg-Festival statt. „Seitenblicke Sommerbühne“ zeigt die Highlights von diesem und auch vom vergangenen Jahr.

Begonnen hat alles mit der Ouvertüre aus Carl-Maria von Webers „Der Freischütz“ op. 77, jener Oper, die in diesem Jahr ihren 200. Geburtstag feierte. Orozco-Estrada entschied sich für eine sehr elegische Umsetzung dieses Klassikers der deutschen Operngeschichte. Als Fleming danach zu den „Vier letzten Liedern“ auf die Bühne kam, war der beachtliche Mailänder Klangkörper mit seinen gut 60 Musikerinnen und Musikern schon ordentlich auf Betriebstemperatur gekommen, sodass es für die erfahrene Fleming in den ersten zwei Liedern akustisch nicht nur gegen den kalten Abendwind zu bestehen galt. In den Liedern drei und vier konnte sie ihre ganze Klasse ausspielen und zeigen, mit wie viel Demut hier einer der großen Komponisten der Moderne in den Hafen der Romantik zurückgekehrt war.

Renee Flemming und Andres Orozco-Estrada
Lukas Beck / Grafenegg
Renée Fleming und Andres Orozco-Estrada

Wenn die Träne locker sitzt

Da saßen bei einigen die Tränen locker – wohl angetrieben auch vom Umstand, dass man seit der Pandemie Konzerterlebnisse dieser Bauart alles andere als selbstverständlich nimmt. Auch ein den Streichern ergebener Klangkörper wie das Orchester der Scala spielt nicht zuletzt live all seine Qualitäten aus.

Bei den vier Sätzen Brahms schlug schließlich die Stunde Orozco-Estradas, der sich nun für die Zweite Sinfonie von Johannes Brahms, D-Dur op. 73, warmgelaufen hatte. Eleganz, Esprit – und im richtigen Moment die Forcierung des Tempos, dieser Zug des Dirigenten machte dem Scala-Orchester nicht zuletzt in den Sätzen drei und vier sichtlich Freude. Hier wirkten zwei Instanzen zusammen, deren Tun so ineinandergriff, als verbrächten sie das ganze Jahr gemeinsam. Orozco-Estrada holte die Italiener bei ihrer Spielfreude ab – und ließ sich bis zum Finale immer noch Stufen der Steigerung offen, was bei dieser populären wie doch mehr als langen Sinfonie nicht unwesentlich ist.

Das elektrisierte Auditorium

Trotz der spätsommerlichen Abendkühle war das Auditorium wie unter Strom gesetzt. Und so ließ sich Orozco-Estrada nicht lange bitten und legte mit Rossinis Ouvertüre aus dem „Barbier von Sevilla“ als Zugabe nach. Der Griff nach dem Populären war zugleich einer, der historisch (und auch kompositionsästhetisch) goldrichtig war.

Erfolgreiche Bilanz:

40.000 Gäste besuchten in diesem Sommer die Veranstaltungen in Grafenegg. Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) will nach dem Erfolg dieses Sommers bei Grafenegg auch weiter auf künstlerische Innovation und Offenheit zu neuen Publikumsschichten setzen – mehr dazu in noe.ORF.at.

Man durfte sich noch an die Bauart des fünf Jahre später entstandenen Intros zum Freischütz erinnern – und im Kopf vergleichen: Ähnlicher Ansatz zum Beginn – doch dort, wo von Weber ins Denken und die stimmungsmäßige Vertiefung abdriftet, fällt dem Italiener Rossini der Melodiebogen samt Tempoarchitektur ein.

Die Deutschen werden lange an der Romantik laborieren, die Italiener an der Wiedererkennbarkeit im Genre der Oper feilen. Wie gut, dass an diesem Abend ein italienisches Orchester den deutschen Geisteswald durchstreifen sollte.

Für Grafenegg-Freunde bleibt am Ende dieses Sommers als Bilanz nach allen Zumutungen der Pandemie: die Möglichkeit des realen Klangkörpervergleichs. Dieser war so vielschichtig wie schon lange nicht. Und man muss sich gar nicht entscheiden, ob jetzt die deutschen oder italienischen oder österreichischen Orchester die spielentscheidenden waren. Es waren die Paarungen bei den Komponisten, die wieder einmal den Reiz der Programmierung ausmachten – und es war die oft antithetische Besetzung, die das Salz in die Suppe brachte. Insofern darf man sich wünschen, dass hier die Italiener noch öfter auf den deutschen Geist losgelassen werden.