Szene aus Cie. Mathilde Monnier
Marc Coudrais
„Records“

Vom Lockdown in den Wahnsinn

Bei wem die Erinnerungen an die unzähligen Lockdowns bereits zu verblassen drohen, der wird mit der Performance „Records“ der bekannten französischen Choreografin Mathilde Monnier eines Besseren belehrt. Bei der Österreichpremiere am Mittwochabend zeigte sich vor allem eins: Die Pandemie bringt am Ende den ekstatischen Wahnsinn.

Der kollektive Rückzug in die eigenen vier Wände im Zuge der Pandemie scheint scheint zunehmend in Vergessenheit zu geraten. Eine unverhohlene Erinnerung daran bringt die Performance „Records“ der Choreografin Mathilde Monnier auf die Bühne, die am Mittwochabend beim ImpulsTanz Festival in Wien Österreichpremiere feierte.

Die Performance, deren Idee am Ende des ersten Lockdowns in Frankreich geboren wurde, spiegelt den Verlauf der Gefühlswelt innerhalb der Pandemie wider. „Es ist alles, was geschehen ist und in vielleicht seltsamer Form wieder auftaucht. Alles, was im Körper auf unbewusste Weise aufgezeichnet wurde“, erklärte die Choreografin bereits bei der Premiere im Montpellier im Oktober vergangenen Jahres dem Magazin „Midi Libre“.

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Szene aus Cie. Mathilde Monnier
Marc Coudrais
Die Performance gipfelt in ekstatischen schnellen Bewegungen.
Szene aus Cie. Mathilde Monnier
Marc Coudrais
Durch Fußtritte wird das Bühnenbild zum rhythmischen Instrument.
Szene aus Cie. Mathilde Monnier
Marc Coudrais
Im Sonnenaufgang erkunden die Tänzerinnen liegend den Raum.

Die weiße Wand vor dem Himmel

Mit entblößten Oberkörpern und in blauen Arbeitshosen und bunten Turnschuhen gekleidet, bringen die sechs Tänzerinnen (Sophie Demeyer, Lucia Garcia Pulles, Lisanne Goodhue, I-Fang Lin, Carolina Passos Sousa und Ashley Wright) in anspruchsvollen Choreografien die Gefühlswelten der unzähligen Lockdowns zurück.

Das einfach gehaltene Bühnenbild bestehend aus einer rund zwei Meter hohen weißen Wand, die sich fast über die gesamte Bühne erstreckt, deutet den abgegrenzten Raum zur Außenwelt an. Dieses „Draußen“, das jenseits dessen liegt, signalisiert auch eine große Leinwand mit Himmelsprojektionen, die sich hinter der Wand erhebt. Binnen rund einer Stunde erlebt man von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang die Himmelsbewegungen inklusive vorbeifliegender Vögel.

Individuell-gleich-Sein im Tanz

Fast schüchtern entdecken die sechs Darstellerinnen am Beginn liegend und schleichend den Bühnenraum für sich. Sobald die Arie von Luigi Nono, gesungen von Barbara Hannigan, einsetzt, intensivieren auch die Tänzerinnen ihre Bewegungen. In unterschiedlichen Choreografien tanzen die Darstellerinnen mal gemeinsam im Gleichklang, mal losgelöst voneinander oder auch ganz individuell.

Die individuellen Bewegungseinschübe inmitten der gemeinsamen Choreografie zeigen sich noch deutlicher im zweiten Teil der Performance, in der die weiße Wand durch Fußtritte zum rhythmischen Instrument umfunktioniert wird. Trotz der Versuche, aus der Gruppe auszubrechen, finden die einzelnen Tanzfragmente doch immer wieder einen gemeinsamen Rhythmus. Im letzten Teil zeigt sich die Komik, die Monnier aus György Ligetis Oper „La Grand Macabre“ einfließen lässt.

Wilder Tanz im Abendrot

Die Tänzerinnen werden dabei zu scheinbar ferngesteuerten Figuren, die an die frühen Computerspiele der 90er Jahre erinnern. Die französischen und englischen Wortfetzen und Schreie der Darstellerinnen bringen schließlich auch das Publikum zum schallenden Lachen. Die Performance entwickelt sich zu einem wilden Tanz im rot-violetten Abendlicht.

Hinweis

„Records“ ist noch am 15. Juli 2022 um 21.00 Uhr im Akademietheater zu sehen.

Der fesselnde Wahnsinn zu einem Meteoritenstück von der Londoner Jazz-Rockband The Comet Is Coming endet schließlich in einem abrupten Stopp. Der fragende Blick der erschöpften Darstellerinnen ins Publikum lässt einem mit dem Gefühl „Und jetzt?“, gedacht Richtung Pandemie, zurück. Monnier jedenfalls möchte nicht zu schnell aus der Pandemie herauskommen, so die überraschende Botschaft der Choreografin im Programmheft, denn „es gibt so viele Lektionen, die wir lernen müssen. Die Welt danach ist nicht so fröhlich, wie sie aussieht.“

Von Montpellier bis nach Wien

Monnier ist bereits seit 1994 beim Wiener ImPulsTanz-Festival präsent. Schon damals beeindruckte sie das Publikum mit den Stücken „Pour Antigone“ und „Chinoiserie“. Angeregt von der am Poststrukturalismus orientierten konzeptuellen Choreografie gilt sie heute als eine der wichtigsten Verbreiterinnen von zeitgenössischem Tanz in Frankreich und über die Landesgrenzen hinaus bekannt.