Pelzmantel und schöne Figuren beim Tanz
Reto Schmidt
Trajal Harrell

„Köln Concert“ findet im Voguing zu sich

„The Köln Concert“ des Pianisten Keith Jarrett aus dem Jahr 1975 galt bis Mitte der 1990er Jahre als Ausweis in einem Distinktionskanon. Das Label ECM definierte dafür die Goldstandards. Was dieser ikonisch gewordene Klassiker der Gegenwart sagen könnte, fragt nun Choreograph Trajal Harrell – und treibt die Musik Jarretts durch die Themen der Gegenwart, ja er inkorporiert mit seinem Dance Ensemble des Schauspielhauses Zürich die DNA des Stücks und trägt den weißen Klassiker in die Welt des Voguing.

Es ist, egal ob in Salzburg oder in Wien, die Zeit, in der die aufregenden Produktionen mit neuer Handschrift offenbar vom Schauspielhaus Zürich kommen. Nach der sehr freien und kreativen Bearbeitung von Arthur Schnitzlers „Reigen“ durch Yana Ross bei den Festspielen durfte man am Freitagabend zum Start des Finalwochenendes beim ImPulsTanz die Re-Aneignung eines weißen Klassikers durch den Tänzer, Choreographen und Regisseur Trajal Harrell erleben. Dass er mit seinem Zugang ausgerechnet in der Schweiz arbeitet, darf man schon als Mut zur Reibung interpretieren.

Hinweis:

„The Köln Concert“ ist noch am Sonntag, 7.8.2022, im Wiener Volkstheater zu erleben.

Gemeinsam mit einem sechsköpfigen Tänzerinnen- und Tänzerensemble nimmt er sich zwei Klassiker aus den 1970ern her, um eine neue Form der Standortbestimmung zu suchen. Joni Mitchells Song „Old Man“ fungiert mit drei anderen Songs der Künstlerin quasi als Door-Opener zu einem Abend, der sich komplett der möglichen Umsetzung von Musikfiguren in Tanz – nein, man muss sagen vor allem Ausdruck – widmet.

Trajal Harrell mit Ensemble
Reto Schmid
Wenig braucht es auf der Bühne von Harrell (Mitte). Entscheidend sind aber die Rollenwechsel.

„He’s a dancer in the dark“

„My old man, he’s a singer in the park/He’s a walker in the rain / He’s a dancer in the dark / We don’t need no piece of paper from the city hall / Keeping us tied and true no, my old man / Keeping away my blues“ – das nimmt Harrell als poetologischen Auftrag. Wer bei den Klassikern von Mitchell genau hinhört, der findet bei „Blue“ ähnliche musikalische Lösungen wie bei Jarrett. Der Gesang bewegt sich ohnedies weit von den Vorschlägen der Musik weg. Und die Musik bleibt mit den Melodielinien und den kurzen Akkorden immer in einem schwebenden Versuchsstadium.

Beim fünften Stück des „Köln Concert“ steigt das Ensemble von Harrell schließlich in den Klassiker von Jarrett ein. Dieses Werk hat ja den klassischen Rezeptionswiderspruch in sich eingeschrieben: Die Einmaligkeit des Werks dieses Abends aus dem Jahr 1975 in Köln bekommt durch den vielmaligen Wiedereinsatz bei all jenen, die nun einmal von dieser Musik aus den unterschiedlichsten Gründen abhängig geworden sind, eine leichte Note der Erwartbarkeit – oder des sich flüchtigen Aufhängens an erlebten Passagen.

Verbeugung vor einem begeisterten Publikum
heid/ORF.at
Frenetisch gefeiert – der erste von zwei Abenden im Volkstheater

Jarretts Suche, Harrells Vorschläge

Jarretts Klavierspiel ist eine Suche, ein Grenzgang, eine Befragung, wie weit man vom Präludium in die Freiheit der musikalischen Figuren abwandern kann – und welche Akkordmöglichkeiten es dazu (noch) gibt. Die Magie dieser Musik liegt vielleicht gerade auch daran, dass sich die Hemisphären der linken und rechten Hand komplett auszutauschen scheinen. Das macht auch etwas mit unseren Gehirnen.

Harrell nutzt die Option der Musik, um schlicht Vorschläge zu machen, nicht aber die Musik in Tanz umzusetzen. Die Art, wie hier nicht zuletzt Voguing als fruchtbares Mittel der Bedeutungsverschiebungen genutzt wird, belebt einen Klassiker neu – ja hilft, ihn auch wieder klarer sehen zu können.

Es ist das Gerüst dieser Musik, das nicht auf ein Ideal, sondern auf eine Möglichkeit zusteuert. Harrell scheut in seiner Lesart zwischen Trauer, Euphorie und Leichtigkeit keine Ausdrucksformen. Und er liebt offenkundig die Groteske.

Ohne Groteske kein Platz für den Menschen, ohne Ritual kein tiefes Erleben unserer Situationen – so könnte man ihn verstehen. Ohne Verschiebungen der Rollen kein Gespür dafür, wo Menschen stehen. Dieser Abend kann das mit tänzerischer Präzision – und zugleich mit Vorschlägen, die nie mit dem Holzhammer, sondern immer aus einem sehr profunden Gestus der Poesie kommen.