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ORF.at/Viviane Koth
Bachmannpreis

Literaturschlacht als Kultevent

Aufgrund der Coronavirus-Krise finden die 44. Tage der deutschsprachigen Literatur nicht wie gewohnt als Liveevent für die Literaturszene im Kärntner Landesstudio des ORF mit Übertragung auf 3sat statt, sondern in einer Spezialausgabe als Stream, im Fernsehen und im Radio. Die 14 Autorinnen und Autoren werden ihre Texte der Jury unter Vorsitz von Hubert Winkels als voraufgezeichnete Videos präsentieren.

Der Bachmannpreis ist eine literarische Institution. Die geladenen Autoren lesen einer ausgesuchten Kritikerrunde ihre unveröffentlichten Texte vor, woraufhin die Kritiker diese genüsslich zerpflücken und ganz nebenbei eine mehr oder weniger normative Ästhetik, wie Gegenwartsliteratur zu sein hat, verkünden.

Das war das Bild, das die 1977 ins Leben gerufene Veranstaltung in den ersten Jahrzehnten abgab. Die Leitidee bei der Gründung durch den Journalisten und Direktor des ORF Landesstudios Kärnten, Ernst Willner, den Schriftsteller, Publizisten und Gruppe-47-Mitglied Humbert Fink und den Übervater der deutschsprachigen Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, war es, der Diskussion über Gegenwartsliteratur zu mehr Öffentlichkeit zu verhelfen.

Nabelschau der Kritik

Das erfüllte der Bachmannpreis sehr wohl. Allein: Spätestens mit der Kritik an Jörg Fausers Text beim Wettlesen 1984, bei dem mit Fauser jede Literatur mit Unterhaltungsanspruch für den Bachmannpreis disqualifiziert wurde, erschien die Rollenverteilung klar: Die Kritikerrunde gab sich als Tribunal, und die im besten Fall demütigen Autorinnen und Autoren hatten die Chance auf Schmerzensgeld in Form einer der Preise oder in Form von Kontakten zu Verlegern und Lektoren.

Eine kurze Tour durch das ORF-Archiv zeigt große Momente aus der Geschichte des Bachmannpreises.

Seit den 1990er Jahren wurde diese Dynamik zugunsten eines kollegialeren Miteinanders von Kritik und Lesenden aufgelöst. Das spiegelt sich auch darin, dass die Zahl der Jurymitglieder von zu Beginn 13 und dann lange Jahre elf ab 1997 auf sieben reduziert wurde. Natürlich gab und gibt es weiterhin leidenschaftliche Verrisse und eloquente Parteinamen in den Kritikerrunden, wie etwa die Diskussion um Philipp Tinglers Text „Dienstag, 26. VIII. 1997“ während des Wettbewerbs 2001.

Der Text animierte die Jurorin und ehemalige Teilnehmerin Birgit Vanderbeke zu einem Totalverriss, während die Schweizer Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen ein beherztes und literaturtheoretisch versiertes Plädoyer für Tingler vorbrachte.

Das Beispiel zeigt auch eine Besonderheit der Tage der deutschsprachigen Literatur: Im Bewerb ist der Rollentausch häufig. So ist beispielsweise die Gewinnerin des Bachmannpreises 2015, Nora Gomringer, seit 2018 Jurymitglied. Ebenso kehrt der 2001 diskutierte Autor Tingler mit der heurigen Ausgabe als Juror zum Bewerb zurück. Eine Teilnehmerin des Bachmannpreises 2020, die Schriftstellerin Helga Schubert, wurde 1980 als Teilnehmerin eingeladen, durfte aber nicht aus der DDR ausreisen. 1987 bis 1990 saß sie dann in der Jury, um nun 40 Jahre nach der verhinderten Teilnahme doch noch beim Bachmannpreis zu lesen.

Kultveranstaltung für Eingeweihte

Besonders in den vergangenen 20 Jahren hat der Bewerb seine Geschichte reflektiert, unter anderem auch in den Reden zur Literatur, die seit 2000 fixer Bestandteil des Eröffnungsabends sind. So wurde, etwa von Gerd Jonke 2003, immer wieder der Literaturbetrieb aufs Korn genommen, es wurde die Geschichte des Preises diskutiert, wie von Raul Schrott 2006, und es wurden Ungerechtigkeiten angesprochen, wie bei Michael Köhlmeier, der seine Rede dazu nutzte, den 1984 verrissenen Fauser zu rehabilitieren.

Letztes Jahr zeigte die Rede von Clemens Setz, „Kayfabe und Literatur“, deren genaue Lektüre ohne Zweifel das Studium von mehreren tausend Seiten Literaturtheorie zu ersetzen vermag, was der Bachmannpreis geworden ist: Eine Kultveranstaltung für Eingeweihte, die sich liebgewonnener Rituale befleißigt.

Die „happy few“ des Literaturbetriebs

Die Eingeweihten, das sind jene „happy few“ des Literaturbetriebs, welche die Veranstaltung im Landestudio live verfolgen durften, aber auch all jene, die in Klagenfurt das Public Viewing besuchten, die Lesungen und Diskussionen mit sportlichem Ehrgeiz auf 3sat mitverfolgen oder gebannt auf die Überblicke auf bachmannpreis.orf.at, FM4, Ö1 oder im Feuilleton warteten.

Auch das Internet hat dem Bewerb gutgetan. In den letzten Jahren tauschten sich Literaturaficionados, Kritiker und Germanisten auf Twitter live zu den Lesungen und Diskussionen aus, wobei es immer wieder zu heiteren und abstrusen Kommentaren kam. Der Bachmannpreis ist gewissermaßen von einem autoritären Kritikerformat mit Traumatisierungspotenzial für die Teilnehmer zu einem hochstehenden literarischen Unterhaltungsformat geworden, das zum Austausch anregt.

Der Bachmannpreis Spezial

Vom 17. bis 21. Juni wird beim diesjährigen Bachmannpreis Spezial vieles anders, aber die liebgewonnenen Rituale bleiben größtenteils gewahrt. Die Rede zur Literatur wird von der Bachmann-Preisträgerin 2016, Sharon Dodua Otoo, gehalten und, so lässt der Titel „Dürfen Schwarze Blumen Malen“ vermuten, das virulente Thema Rassismus behandeln.

ORF.at/kulturjetzt begleitet die 44. Tage der deutschsprachigen Literatur an dieser Stelle. Von 17. bis 21. Juni können Sie hier die Livestreams samt einer Zusammenfassung der Lesungen und Diskussionen mitverfolgen.

Die Lesungen der 14 Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden voraufgezeichnet. Die Jury diskutiert live aus ihren jeweiligen Arbeitszimmern, und neben dem langjährigen Moderator Christan Ankowitsch werden die Schriftstellerin Julya Rabinowich und der Kritiker Heinz Sichrovsky das Geschehen live aus dem ORF-Landesstudio Klagenfurt kommentieren.

Neben der Übertragung auf 3sat werden die Lesungen auf bachmannpreis.orf.at übertragen. Der ORF, ORFIII, Ö1, FM4 und der Deutschlandfunk bieten Sondersendungen zum Bewerb. Das traditionelle Public Viewing am Klagenfurter Lendhafen findet bei Schönwetter von 18. bis 21. Juni ebenfalls statt.

Gemischtes Teilnehmerfeld

Die neun Autorinnen und fünf Autoren des diesjährigen Bewerbs ergeben ein interessant gemischtes Teilnehmerfeld. Gespannt sein darf man unter anderem auf Helga Schubert (Deutschland), die nach 1980, als ihr die Ausreise aus der DDR verwehrt wurde, eine zweite Chance zur Teilnahme erhält. Egon Christian Leitner (Österreich) ist ein großer Unbekannter der österreichischen Literatur, der seit Jahrzehnten publiziert, aber immer ein Geheimtipp geblieben ist.

Die in Deutschland geborene und seit Kindheitstagen in Österreich lebende Hannah Herbst kennt man als ehemalige stellvertretende Chefredakteurin des Magazins „Vice“ und als Sachbuchautorin; literarisch ist sie ein unbeschriebenes Blatt. Dass Newcomer aber auch immer für Überraschungen gut sind, weiß man spätestens seit dem Bachmannpreis 2006 für Kathrin Passig und für Tex Rubinowitz 2014.

Fotostrecke mit 15 Bildern

Überblick nominierter Autoren und Autorinnen
3sat
Autor Matthias Senkel
Photo Dietze
Matthias Senkel (D), eingeladen von Hubert Winkels
Autor Jörg Piringer
eSeL.at/Lorenz Seidler
Jörg Piringer (A), eingeladen von Nora Gomringer
Autorin Lisa Krusche
Charlotte Krusche
Lisa Krusche (D), eingeladen von Klaus Kastberger
Autorin Carolina Schutti
Simon Rainer
Carolina Schutti (A), eingeladen von Brigitte Schwens-Harrant
Autorin Hanna Herbst
Ingo Pertramer
Hanna Herbst (D), eingeladen von Insa Wilke
Autor Leonhard Hieronymi
Philipp Levinger
Leonhard Hieronymi (D), eingeladen von Michael Wiederstein
Autor Levin Westermann
Bettina Wohlfender
Levin Westermann (CH), eingeladen von Hubert Winkels
Autorin Katja Schönherr
SuzanneSchwiertz
Katja Schönherr (CH), eingeladen von Philipp Tingler
Autorin Lydia Haider
Apollonia Theresa Bitzan
Lydia Haider (A), eingeladen von Nora Gomringer
Autorin Jasmin Ramadan
Axel Anselm Wösler
Jasmin Ramadan (D), eingeladen von Philipp Tingler
Autor E.Ch.Leitner
Peter Ch.H. Stachl
Egon Christian Leitner (A), eingeladen von Klaus Kastberger
Autorin Helga Schubert
Privat
Helga Schubert (D), eingeladen von Insa Wilke
Autorin Meral Kureyshi
Matthias Günter
Meral Kureyshi (CH), eingeladen von Michael Wiederstein
Autorin Laura Freudenthaler
Marianne Andrea Borowiec
Laura Freudenthaler (A), eingeladen von Brigitte Schwens-Harrant

Chancen darf man jedenfalls auch Laura Freudenthaler (Österreich) zurechnen, deren Roman „Geistergeschichte“ 2019 den Literaturpreis der Europäischen Union gewann. Auch von Lydia Haider (Österreich), die in den letzten Jahren vermehrt mit der Form katholischer Litaneien experimentierte und in der Formation „Gebenedeit“ musikalisch aktiv ist, kann man eine starke Lesung erwarten.

Jasmin Ramadan (Deutschland), die 2009 mit „Soul Kitchen“, der Vorgeschichte zu Fatih Akins gleichnamigem Film, debütierte, gilt seitdem als eine der spannendsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Matthias Senkel (Deutschland) ist für seinen Roman „Dunkle Zahlen“ bekannt und hat bereits 2014 in Klagenfurt gelesen.

Österreichs Stimmen beim Bachmannpreis

„Brisant und Bunt“ – Die 44. Tage der deutschsprachigen Literatur finden dieses Jahr digital, zugleich live im TV statt.

Weiters lesen dieses Jahr: Carolina Schutti (Österreich), Levin Westermann (Schweiz), Katja Schönherr (Deutschland), Jörg Piringer (Österreich), Meral Kureyshi (Schweiz), Lisa Krusche (Deutschland) und Leonhard Hieronymi (Deutschland).

Neuerungen in der Jury

In der Jury gibt es zwei Neuzugänge: den bereits erwähnten Schweizer Schriftsteller, Kritiker und Teilnehmer beim Bachmannpreis 2001 Philipp Tingler und Brigitte Schwens-Harrant, Literaturkritikerin und Feuilletonchefin der „Furche“.

Die restlichen fünf Mitglieder sind aus den Vorjahren bekannt: der Schriftsteller und Kritiker Hubert Winkels, Juryvorsitzender seit 2015, die Lyrikerin und Bachmann-Preisträgerin Nora Gomringer, der Professor für neuere deutschsprachige Literatur an der Universität Graz und Leiter des Literaturhauses Graz Klaus Kastberger, der Kritiker Michael Wiederstein und die Kritikerin und Moderatorin Insa Wilke.

Worum gerittert wird

Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer geht es um fünf Preise: den Ingeborg-Bachmann-Preis, gestiftet von der Landeshauptstadt Klagenfurt am Wörthersee, in der Höhe von 25.000 Euro, den Deutschlandfunk-Preis, gestiftet von Deutschlandradio, in der Höhe von 12.500 Euro, den KELAG-Preis, gestiftet von der Kärntner-Elektrizitäts-Aktiengesellschaft, in der Höhe von 10.000 Euro, den 3sat-Preis, gestiftet von 3sat, in der Höhe von 7.500 Euro, und den BKS Bank Publikumspreis, gestiftet von der BKS Bank, in der Höhe von 7.000 Euro.

Seit 2009 vergibt die Landeshauptstadt Klagenfurt am Wörthersee ein Stadtschreiberstipendium in der Höhe von 7.000 Euro. Stadtschreiberin oder Stadtschreiber wird die Gewinnerin oder der Gewinner des BKS Bank Publikumpreises.