Übertragung einer Lesung
ORF/Johannes Puch
Bachmannpreis Spezial

Wiener Aktionismus und Feuer

Am dritten und letzten Lesetag des Bachmannpreises Spezial kristallisierte sich ein weiterer Text mit guten Preischancen heraus. An Laura Freudenthalers „Der heißeste Sommer“ fand die Jury kaum etwas auszusetzen.

Kontrovers diskutiert wurde Lydia Haiders Litanei „Der große Gruß“, mit dem der letzte Lesetag startete. Katja Schönherrs „Ziva“ wurde als unterhaltsam wahrgenommen und Meral Kureyshis „Adam“ fiel mehrheitlich durch.

Die Dynamik innerhalb der Kritikerrunde änderte sich. Philipp Tingler zeigte sich öfter mit den Jurykollegen einer Meinung, auch wenn er weiterhin darauf pochte, von vielen Aspekten der Tage der deutschsprachigen Literatur eine andere Vorstellung zu haben als die restliche Jury.

Hündische Genozidfantasien

Haider beschäftigte sich in den letzten Jahren mit litaneihaften Formen, die sie mit Beschimpfungen und Wutreden füllt. Diese sind in einer Kunstsprache verfasst, die Hohes und Niederes, Luther und Facebook, verbindet. „Der große Gruß“ war der erste Lesetext des dritten Tages. Im Textstrom auszumachen sind die Erschießung eines Hundes und Fantasien von der Ausrottung aller Hunde, wobei kein Zweifel daran gelassen wird, dass die Gewaltaufforderungen jederzeit auch menschliche Opfer einfordern könnten.

Lesung von Lydia Haider

Die Gewalt an Hunden enthält eine interessante Anspielung: 2017 verfasste Haider zusammen mit Stefanie Sargnagel und Maria Hofer ein fiktives „Recherchetagebuch“ einer Reise nach Marokko für den „Standard“. Sargnagel schrieb über Haider: „Heute hat sie eine Babykatze zur Seite getreten mit der Behauptung, sie habe Tollwut, danach biss sie selbstzufrieden in eine vegetarische Crepe.“

Daraufhin brach im Boulevard ein Shitstorm los, der als „Babykatzengate“ bekannt wurde und mit dem Sargnagel – die beim Bachmannwettbewerb 2016 den Publikumspreis gewann – und Haider immer wieder spielen. „Der große Gruß“ ist ein intensiver Text, der auf brutale Weise die Gewalt von kirchlicher und autoritärer Sprache thematisiert, er antwortet mit gewalthafter Sprache auf Gewalt, die durch Sprache vorbereitet und ausgeübt wird. Es war auch der erste Text des Wettlesens, in dem das Wort Virus verwendet wird.

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„Wiener Aktionismus“ und „Machtsprache“

Insa Wilke begann die Diskussion mit einer Anspielung auf Franz Kafka, der bekanntermaßen forderte, ein Buch müsse die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. So habe Haider „Hunde für das gefrorene Meer in uns“ bereitgestellt. Allerdings kam sie schnell zur Kritik: „Hunde des Wiener Aktionismus, wollt ihr denn ewig leben?“ Haider betreibe eine Wiederbelebung des Wiener Aktionismus „ohne Wirkung“.

Die Jury 2020

Hubert Winkels (D)
Klaus Kastberger (A)
Insa Wilke (D)
Nora Gomringer (D)
Michael Wiederstein (CH)
Brigitte Schwens-Harrant (A)
Philipp Tingler (CH)

Still gelesen erkläre der Text durchaus die Sprachstrategien des Rechtsradikalismus, wie sie Theodor W. Adorno analysiert habe. Gelesen empfand Wilke „Der große Gruß“ aber „monoton“. Hubert Winkels meinte, der Hass im Text habe kein Objekt „außer den Hass selber“. Das mache ihn zu einem „Splattermovie“.

Tingler richtete gleich eine Frage an Nora Gomringer, die den Text eingeladen hatte, und an die Autorin selbst: „Welches Anliegen hat dieser Text?“ Haider verweigerte eine Antwort. Winkels empfand diese Frage so früh in der Diskussion als Sakrileg. Sie verstoße „gegen die Regeln“ und bedeute den „Horror jeder Buchhandelslesung“.

Reaktionen der Jury auf Lydia Haider

Gomringer sah in dem Text eine „Bedrohung, die immer schon den Menschen meint“, am Werk, dem Leser würde suggeriert, wenn er nicht Komplizenschaft leiste, dann ginge es auch ihm an den Kragen. „Sprache und Jargon der Nazis“ sei in dem Text zu finden, für Gomringer war Haiders Lesung „furios“.

Klaus Kastberger fand den Text „überinstrumentalisiert“. „Wozu all dieser Aufwand?“ und „Wen adressiert der Text?“, fragte er. Er machte viele verschiedene Tonarten in dem Text aus, beispielsweise eine „Wiener Hausmeisterin“ und einen „Rachegöttinenton“. Für Brigitte Schwens-Harrant machte der Text „klar, wie Machtsprache donnern kann“. Es herrsche aber ein „hoher Grad an Künstlichkeit“ im Text, der die angelegte Provokation unterlaufe.

Die Lesung hatte Michael Wiederstein den Text „aufgeschlossen“. Zuvor hatte er ihn als „blutigen Brei“ empfunden, in der Lesung kamen die verschiedenen Tonlagen des „Machtergreifungstexts“ gut heraus. Tingler verspürte eine starke passive Aggressivität im Text, etwas „Psychotisches“. Er fand Wörter wie „Arschlochschuhe“ großartig.

Haider bat um ein „Schlusswort“. Daraufhin las sie eine weitere Litanei und wurde von einer Gruppe von Freunden bejubelt, die hinter ihr auftauchten. Kastberger ließ es sich nicht nehmen, daraufhin noch einmal zu kommentieren, diese Einlage fasse die Probleme des Textes gut zusammen: „Vielleicht geht der Text im eigenen Jubel unter“, so Kastberger.

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Wunderschönes Feuer

Freudenthalers Text „Der heißeste Sommer“ folgte in der zweiten Lesung des Tages. Darin geht es um eine versehrte Ich-Erzählerin, die auf dem Land ihre Verletzungen kuriert. Sie hat eine große Faszination für Feuer und Brände, deren verschiedene Brandformen sie beschreibt. Es ist ein starker Text, in dem Freudenthaler auslotet, welche Lust wir am Zusehen bei der Zerstörung unserer Welt empfinden.

Lesung von Laura Freudenthaler

Ganz nebenbei werden brisante Themen wie Brände im Regenwald und die Situation von ausgebeuteten Erntehelfern thematisiert. Die Erzählerin und ihr Freund Silvius entpuppen sich als Pyromanen. An einer zentralen Stelle heißt es: „Da hinten, sagt Silvius, brennt es. Erzähl. Es ist wunderschön.“

Der Text könnte durchaus auf Immanuel Kants Kategorie des Erhabenen bezogen werden, die Bewunderung für etwas, das größer ist als der Mensch, der nur dasteht und die Schönheit und Macht des Feuers bewundern kann. Im Text heißt es: „Die Brandfläche ist zu einem heiligen Hain geworden, die Feuerwehrsleute zu seinen Wächtern.“

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Freudenthaler starke „Aktie“

Wilke mochte den vielschichtigen Text, sie wurde in ihm an den Prometeus-Mythos erinnert. Auch Winkels war von den Ebenen der Feuermetaphorik angetan und erinnerte daran, dass „Silvius“ Wald bedeute.

Kastberger zeigte sich begeistert: „Mit diesem Text sind heuer zum ersten Mal ganz nahe dran an der Namensgeberin“, Freudenthalers Prosa ähnle Ingeborg Bachmann und Marlene Haushofer. „Wenn Laura Freudenthaler und dieser Text eine Aktie wären“, würde er auf diese setzen, sie könne eine Schriftstellerin unter unter tausend sein, deren Werk bleibe.

Tingler meinte, er müsse die Lobeshymnen unterbrechen, seine Begeisterung für den Text habe im Laufe des Lesens nachgelassen. Aber auch er attestierte der Autorin Talent „für Verdichtung und Atmosphäre“. Leider habe sie die narrative Struktur vernachlässigt zugunsten von Metaphorik. Er wiederholte ein schon in der Diskussion um Senkels Text am Donnerstag geäußertes Credo. Es sei eine große Herausforderung, einen Plot gut zu erzählen, so Tingler.

Reaktionen der Jury zu Laura Freudenthaler

Wiederstein fand den Text durchaus „plotdriven“ und „klassisch österreichisch“: „Zuerst schmort es im Tunnel, und dann fliegt die Alpenrepublik in die Luft“, so Wiederstein. Für Gomringer war es der Text, an dem sie in der Vorbereitung am längsten hängen blieben war. Texte über Feuer seien in ihrer Lektüreerfahrung selten. Es ginge um „zwei Komplizen, die die Welt anzünden“.

Schwens-Harrant, die den Text eingeladen hatte, meinte: „Der Text fährt alles auf, was die Kraft der Literatur sein kann.“ Die „apokalyptische Zeit“ in Freudenthalers Text, sei „nicht fiktiv“. Sie sprach von einem „Reichtum des Textes“, er sei für sie „ein Stück Meisterwerkliteratur“.

Kastberger brachte eine professorale Fußnote zum Feuer in der österreichischen Literatur an. Es sei ein häufiges Motiv, wegen des historisch einschneidenden Ereignisses des Justizpalastbrands am 15. Juli 1927. In Bachmanns „Malina“ heiße es im Bezug auf diesen Brand: Er „brennt immer noch“. Die „Strudlhofstiege“ von Heimito von Doderer behandle ihn genauso wie „Die Blendung“ von Elias Canetti.

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Solidarität und Fantasie

Nach der Pause las Schönherr den vorletzten Text des diesjährigen Wettbewerbs. In „Ziva“ erzählt eine Mutter namens Carmen, warum sie sich vom Vater ihrer Tochter getrennt hat. Carmen ist eine sonderbare Figur, die davon überzeugt ist, mit 43 Jahren sterben zu müssen.

Lesung von Katja Schönherr

Ihre Ehe mit Alexander scheint sie nicht glücklich zu machen, die beiden trennen sich als Folge eines Zoobesuchs mit der Tochter Nele. Während dieses Besuchs beginnt die Äffin Ziva in ihrem Gehege zu demonstrieren. Die große Leerstelle des Textes ist es, dass die Leserinnen und Leser an keiner Stelle erfahren, was auf dem Schild steht.

Jedenfalls bringt die Botschaft Carmen dazu, sich mit der Äffin solidarisch zu erklären. Sie bestellt Affenkostüme und demonstriert mit Ziva gemeinsam. Da sie ihre Tochter zu diesen Protesten mitnimmt, beendet Alexander die Beziehung. Es ist ein nur vordergründig klarer Text, der die Frage stellt, wer für wen sprechen kann und unter welchen Umständen Solidarität Vereinnahmung bedeutet. Am Schluss heißt es: „Nele wird sich an mich als eine mutige Frau erinnern können, die zwar kein langes Leben hatte, aber immerhin genug Fantasie, es zu ertragen.“

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„Amüsant“ und „Unterhaltsam“

Tingler, der den Text eingeladen hatte, begann die Diskussion. Er sah in „Ziva“ feine Subversion am Werk. Es handle sich um eine „unzuverlässige Erzählerin“, eine egozentrische Mutterfigur.

Kein anderes Jurymitglied konnte eine unzuverlässige Erzählerin erkennen. Für Wilke war Carmen ein „schräger Charakterkopf“, unzuverlässig sei eher „das Verhältnis der Autorin zu ihrem Text“ und Schwens-Harrant konstatierte eine „beschränkte Perspektive“ durch die Figur. Winkels fand den Text „sauber verpackt“, aber „etwas bescheiden im Anspruch“ und amüsant wie Ephraim Kishon. Die Frage, was auf Zivas Pappe stehe, beschäftigte Schwens-Harrant, es sei das einzig Ungelöste im Text.

Reaktionen der Jury zu Katja Schönherr

Kastberger sah in dem Text eine Allegorie auf den Bachmannpreis. Einige Leute, manche davon seien verwandt, redeten über einen Text auf einem Schild, aber niemand wüsste, was genau darauf steht. Für ihn war es „der lustigste Text des Bewerbs“.

Tingler brachte noch ein Credo an. Er finde den Text „unterhaltsam“, und mit Unterhaltsamkeit meine er das „Gegenteil von langweilig“. Winkels zeigte sich erneut konsterniert. Die Kategorie der „Langeweile beim Lesen“ habe Marcel Reich-Ranicki beim Bachmannpreis über zehn Jahre lang benutzt, um Texte zu verreißen, „und dann war der Text tot“. „Wir haben uns von diesem Verständnis weg entwickelt“, meinte er.

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Comming-of-Age im Museum

Den Abschluss machte Kureyshi, die aus „Adam“ las. Auch hier war es eine Ich-Erzählerin, die berichtete. Sie scheint gerade im jungen Erwachsenenalter zu sein, jobbt in einem Museum und lässt ihre Gedanken schweifen.

Lesung: Meral Kureyshi

Häufig denkt sie an die drei Männer Nikola, Adam und Manuel, ohne dass die Beziehungen zu ihnen ganz deutlich wurde. „Ein Punkt, ein Strich, ein Mensch, ein Mann, Adam stand vor mir“, heißt es im Text. Ob diese Männer real oder Produkte der Fantasie der Erzählerin sind, bleibt ebenfalls vage.

Es ist ein Text, der von Stimmungen und schönen Formulierungen lebt, wie in diesen zentralen Sätzen: „Niemand hat mir versprochen, dass ich glücklich sein werde. Warum strebe ich danach?“

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„Ich-Werdungs-Text“

Die Jury war diesem letzten Text nicht wohl gesonnen. Wilke nannte ihn einen „Text wie ein schlaffer Händedruck“. Kastberger ortete „Befindlichkeitsprosa, die irgendwo anfängt und nirgends aufhört“. Schwens-Harrant fand das Museum, in dem „keine Beziehung zwischen Texten und den Bildern“ hergestellt werde, einen dramaturgischen Schnitzer.

Reaktionen der Jury zu Meral Kureyshi

Wiederstein verteidigte seine Einladung: Der „Coming-of-Age-Text“ bedinge, dass die Erzählung zum „Alter der Erzählerin passen“. An der Kippe von Vergangenheit und Zukunft stehe die junge Frau, es sei ein „Ich-Werdungs-Text“. Die drei Männer seien keine realen Figuren, sondern „drei Ideale“. Gemeinsam mit Westermanns, Senkels und Ramadans Texten war es einer der in der Jury am einhelligsten abgelehnten Texte der drei Lesetage.

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Als eindeutige Favoritinnen gingen nach drei Lesetagen Helga Schubert und Freudenthaler in die Schlussdiskussion und Preisvergabe am Sonntag.