An Aloise Corbaz führt kein Weg vorbei. Die Schweizerin (1886–1964) „ist die bedeutendste Art-Brut-Künstlerin, die es je gegeben hat“, sagt die Wiener Sammlerin Hannah Rieger. Die frühere Bankerin und nunmehrige Beraterin hat im vergangenen Vierteljahrhundert 500 Werke der Art Brut zusammengetragen, „mit dem strategischen Fokus auf Künstlerinnen“, wie sie sagt. Gut ein Fünftel davon sind in der Ausstellung „Frauen in der Art Brut?“ zu sehen, die noch bis Februar im Privatmuseum Art et Marge in der belgischen Hauptstadt läuft.
Corbaz’ „General Guisan sous le bouquet final“ ist das erste Werk, das Besucherinnen und Besucher zu Gesicht bekommen, wenn sie die Ausstellungsräume betreten. Die bunte Komposition sticht ins Auge: Eine Frau mit feuerroten Haaren küsst darauf einen Mann in Paradeuniform. Corbaz malte es irgendwann in den 1950er oder 1960er Jahren in einer Schweizer Klinik. Die Frau im Bild ist die Künstlerin selbst – der Mann eine der berühmtesten Persönlichkeiten in der Geschichte der Schweiz.
Corbaz verbrachte weite Strecken ihres Lebens in Nervenheilanstalten. Grund für ihre Einweisung war ihre Faszination für den deutschen Kaiser Wilhelm II., die sich zu Liebe und weiter zu Obsession steigerte. Liebesszenen prägten Corbaz’ Werk, nicht nur mit Kaisern und Königen, sondern auch mit hochrangigen Militärs. Bei dem Mann im ausgestellten Bild handelt es sich um General Henri Guisan, der die Verteidigung der Schweiz gegen Nazi-Deutschland organisierte.
Raus aus der Psychiatrie
Unverfälschte Kunst jenseits aller Konventionen, Strömungen und Trends, entstand in der Psychiatrie: Corbaz’ Werk erfüllt alle Kriterien, die gemeinhin mit der Art Brut in Verbindung gebracht werden. In dieser Form gebe es die Art Brut heute allerdings nicht mehr, sagt Rieger.
Nicht zuletzt deshalb, weil die Psychiatrie sich stark verändert hat – von geschlossenen Anstalten hin zu offenen Strukturen, die nach und nach ebenfalls aufgelöst wurden. Die frühere Landesnervenheilanstalt Gugging in Niederösterreich sei hierfür ein gutes Beispiel. Zeitgenössische Art Brut finde man heutzutage „in Ateliers und in familiären Strukturen bei Einzelgängerinnen“, sagt Rieger.
Dieser Wandel sorgte auch dafür, dass Werke von Art-Brut-Künstlerinnen mehr Beachtung finden. Die psychiatrische Abteilung in Gugging etwa, an der Künstler wie Johann Hausner und Oswald Tschirtner ihre berühmten Arbeiten schufen, war lange eine reine Männerabteilung. Die einzige derzeit in Gugging lebende Künstlerin ist Laila Bachtiar. Ihr Werk ist zentraler Bestandteil in Riegers Sammlung und in Auszügen auch in Brüssel zu sehen.
Kunst von Geisterhand
„Künstlerinnen der Art Brut waren in einem Genre, das überhaupt ein Feld vom Rand ist, noch mehr an den Rand gedrängt“, sagt Rieger. Die in der Schau gezeigten Werke stammen indes nicht nur von Frauen, auch Frauendarstellungen und Kunst mit „Frauenbezug“ von Männern kommen vor. 22 Künstlerinnen stehen 19 Künstler gegenüber, elf davon aus Gugging.
Die Motive können – wie im Fall von Hauser – Frauenkörper sein. Oder Kunst in Briefform, zu sehen beim deutschen Künstler Harald Stoffers. Im Zentrum seines Werkes stehen Briefe an seine Mutter. „Es sind Schriften, und doch ist es wie eine Komposition“, sagt Rieger.
Einen inhaltlichen Schwerpunkt haben die beiden Kuratorinnen Coline de Reymaeker und Tatiana Veress indes der „mediumistischen Kunst“ gewidmet. Die Künstlerinnen „betrachten ihre Kunst nicht als ihre, sondern sehen sich als Medium für Geister, die mit der diesseitigen Welt in Kontakt treten“, erklärt Rieger. Ein Beispiel ist die Künstlerin Nina Karasek, die vermeinte, von Künstlern wie Rembrandt geführt zu werden. Zur Riege der „Mediumistinnen“ zählte auch die Chinesin Guo Fengyi. Charakteristisch für sie sind die rote Tinte und die Verwendung von Reispapier.
Weitere Schätze warten
Die Künstlerinnen der Art Brut werden kommenden Februar auch im Zentrum einer von Rieger mitkuratierten Schau im Wiener Kunstforum stehen. Bei den Vorbereitungen zur Ausstellung habe sie eine Ahnung davon bekommen, wie viel unentdeckte Schätze der Kunstgattung es noch zu heben gibt.
Ausstellungshinweis
„Frauen in der Art Brut?“, Art-et-Marge-Museum Brüssel, bis 10. Februar, dienstags bis sonntags 11.00 bis 18.00 Uhr
„Am Anfang hatten wir noch die Fantasie, es wird zu wenige Künstlerinnen geben. Das ist absolut nicht der Fall. Es gibt weltweit eine große Fülle“, sagt sie. Und so treffe zu, was der Maler Arnulf Rainer, der Österreichs wahrscheinlich größte Art-Brut-Sammlung besitzt, einmal gesagt habe: „Art Brut hat es immer gegeben. Es ist nur nicht gesehen worden.“