Valery Tscheplanowa und Tobias Moretti in „Jedermann“
Salzburger Festspiele / Matthias Horn
Premiere in Salzburg

Jedermann stirbt stürmisch

Zum 697. Mal ist am Samstagabend „Jedermann“ im Rahmen der Salzburger Festspiele aufgeführt worden. Im dritten Jahr für Regisseur Michael Sturminger konnte dabei die Premiere erstmals auf dem Domplatz gefeiert werden. Eine neue, singende Buhlschaft im Hosenanzug und das Brüderpaar Moretti/Bloeb sorgten für frischen Wind vor der imposanten Kulisse – ebenso wie das Wetter selbst, das zum Schluss kräftig mitmischte.

Das Besondere am Theater ist, dass es vergänglich ist, ein „transitorisches Ereignis“, wie es in jeder Einführung in die Theaterwissenschaft heißt: Keine Aufführung ist wie die andere – auch nicht, wenn dasselbe Stück am selben Ort vom selben Regisseur inszeniert wird. Und ganz besonders nicht, wenn es „Jedermann“ ist, jenes Drama über die Vergänglichkeit, ohne das die Salzburger Festspiele nicht denkbar wären, das seit 99 Jahren aufgeführt wird, aber jedes Mal eben doch ein bisschen anders ist.

„Nachgeschärft“ sollte der „Jedermann“ im dritten Jahr unter Sturmingers Ägide in Salzburg werden – acht Rollen wurden dafür neu besetzt, die der Regisseur nunmehr als „Wunschensemble“ bezeichnet. Was Sturminger wohl nicht selbst bestimmte, aber gelegen kam: Um kurz nach 21.00 Uhr, als die Glocken des Doms den Beginn einläuteten, war der Himmel praktisch wolkenlos – das von Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt für den Domplatz konzipierte Stück hatte unter Sturminger nicht nur das Wunschensemble, sondern auch endlich den passenden Platz für die Premiere gefunden.

Brüderpaar mit Chemie

Gleich nachdem der unverändert überzeugende Peter Lohmeyer als Tod und Spielansager ankündigt, dass das Leben von Jedermann sich dem Ende zuneigt, kommt es zum ersten Aufeinandertreffen von Tobias Morettis Jedermann mit dem von Neuzugang Gregor Bloeb gespielten Gesell. Dass Bloeb Morettis Bruder ist, wird zwar nie direkt erwähnt, sorgt aber für spürbare Chemie zwischen den beiden.

Tobias Moretti und Gregor Bloeb in „Jedermann“
Salzburger Festspiele / Matthias Horn
Der Jedermann und sein Gesell: Tobias Moretti mit seinem Bruder Gregor Bloeb

Morettis Jedermann kommt heuer ohne Schnurrbart aus und wirkt auch charakterlich verändert, geerdeter und streckenweise auch aggressiver, eben wortwörtlich „nachgeschärft“. Das hängt sicher auch von den neuen Konstellationen ab – so spielt etwa Bloeb den Gesell gewitzt und oft überzeichnet, eine Art, die beim Premierenpublikum gut ankommt.

Buhlschaft hat die Hosen an

Die andere neue Konstellation – und sicher mit am meisten Spannung erwartet – ist jene des Protagonisten mit seiner Buhlschaft, die dieses Jahr von Valery Tscheplanowa gespielt wird. Und tatsächlich: Die Neubesetzung ist sicher die größte Änderung in Sturmingers „Jedermann“, was nicht nur an ihrem Outfit liegt.

Valery Tscheplanowa als „Buhlschaft“
APA/BARBARA GINDL
Mit einem Hosenanzug wird die Buhlschaft dem Publikum vorgestellt

Als der Vorhang für Tscheplanowa gelüftet wird, geht erst einmal ein Raunen durch das Publikum. Der halbtransparente Hosenanzug für ihren ersten Auftritt ist gleichzeitig Blickfang und Symbol für strotzendes Selbstbewusstsein, das sich auch durch ihr gesamtes Spiel zieht. Unterstrichen wird der Charakter der neuen Buhlschaft durch eine Gesangseinlage gleich bei ihrem ersten Auftritt. All jene, die im 21. Jahrhundert noch immer ernsthaft mangelnde Erotik bei einer Frauenrolle beanstanden, konnten bereits in diesem Moment erleichtert aufatmen.

Alle Augen auf der Buhlschaft

Und trotz des relativ kleinen Parts, den die Buhlschaft im „Jedermann“ spielt, wird ihr wohl vor und hinter der Bühne die meiste Aufmerksamkeit gewidmet. Für ihren zweiten Auftritt erscheint sie in einem roten Abendkleid, das in 400 Arbeitsstunden angefertigt wurde.

Valery Tscheplanowa und Tobias Moretti in „Jedermann“
Salzburger Festspiele / Matthias Horn
Jedermann ist dieses Jahr impulsiver, das zeigt sich auch im Kontakt mit der Buhlschaft

Was für das Stück jedoch viel wesentlicher ist: Ihr Zusammenspiel mit Moretti. Und das funktioniert am Premierenabend einfach sehr gut, die Szenen, in denen sie sich nahe sind, wirken durchgehend authentisch. Auch dann, wenn es nicht um Zuneigung geht: An einer Stelle packt Moretti Tscheplanowa fest an den Haaren, ein Moment an dem man zusammenzuckt, weil er so von Aggressivität aufgeladen ist.

Teufel trifft „Rocky Horror Show“

Auch die anderen Neubesetzungen lassen vermuten, dass Sturminger tatsächlich bei seinem bevorzugten Ensemble gelandet ist: Der dicke (Björn Meyer) und der dünne Vetter (Tino Hillebrand) etwa in ihren 70er-Jahre-Anzügen (Kostüm: Renate Martin), die mit dem eigenen „Jedermann“-Versmaß gut zurechtkommen und für zahlreiche Lacher sorgen. Oder der Glaube (Falk Rockstroh), der heuer als Figur mit erhobenerem Zeigefinger auftritt.

Gregor Bloeb als Teufel in „Jedermann“
Salzburger Festspiele / Matthias Horn
Bloeb spielt einen wilden Teufel, im Hintergrund Falk Rockstroh als neuer Glaube, und Mavie Hörbiger als Werke

Bloeb, in seiner zweiten Rolle als Teufel, setzt seinem Gesell noch eins drauf und spielt die Rolle fast, als entstamme sie der „Rocky Horror Show“ – flauschiges Kostüm mit Schwanz, der von der Hinter- auf die Vorderseite wechseln kann, inklusive. Unverändert glitzernd ist unterdessen Christoph Franken als Mammon, der wohl eine in jeder Hinsicht goldene Rolle gelandet hat. Auch Mavie Hörbiger als Werke überzeugt erneut.

Hinweis

„Jedermann“ wird im Rahmen der Salzburger Festspiele noch 13-mal bis zum 28. August aufgeführt. ORF2 zeigt am Montag um 22.30 Uhr in „kulturMontag“ einen Beitrag über die Neuen im „Jedermann“ – mehr dazu in tv.ORF.at.

Wetter mischt mit

Bleibt noch der Überraschungsgast des Abends: Denn während kurz vor Sonnenuntergang der Himmel kaum bewölkt war, dürfte sich die Wolkendecke später verdichtet haben. Als der Domplatz tiefrot erstrahlt – auch ohne die Symbolik dahinter zu bewerten sicher der spektakulärste Anblick des Abends (Bühne: Andreas Donhauser) – wird langsam der Wind spürbar, der kurz vor Schluss deutlich auffrischt.

Damit bekommt der sich nähernde Tod des Jedermann eine unfreiwillige Windmaschine spendiert. Das nahende Ende wird dadurch auch spürbar, während dramatischer Wind durch das Haar von Darstellerinnen und Darstellern bläst – ganz so, als hätte der Wind nur auf seinen Einsatz gewartet. Dann legt er richtig los: Ein Notenständer des Orchesters fällt plötzlich runter, der Vorhang – eine Neuerung der Sturminger-Inszenierung – muss von Bühnenarbeitern per Hand festgehalten werden.

Regen zum Schlussapplaus

Dann kommt einmal mehr die Kürze von Sturmingers „Jedermann“ zur Wirkung: Mit den ersten Regentropfen steigt Jedermann die Stiegen hinauf, um sich dem Gericht Gottes zu stellen (einmal mehr spielt das Christentum dabei eine untergeordnete Rolle) – erst dann wird das Tröpfeln zu Regen. Und obwohl einige Zuschauerinnen und Zuschauer nach der rund eindreiviertel Stunden dauernden Aufführung fluchtartig den Domplatz verlassen, trübt das den Schlussapplaus kaum. Stürmisch fällt dieser vor allem für Moretti und Bloeb aus, etwas verhaltener wirkte er für Tscheplanowa, die der Buhlschaft jedoch wirklich ihren eigenen Stempel aufdrücken konnte.

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Schlussapplaus im Regen. #salzburgerfestspiele #jedermann

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Neubearbeitung wohl am Ziel angekommen

Regisseur Sturminger, der 2017 kurzfristig damit beauftragt wurde, den „Jedermann“ komplett neu zu bearbeiten, dürfte 2019 endgültig mit seiner Inszenierung dort angelangt sein, wo er wohl hinwollte. Dass zum Auftakt des dritten Jahres, jetzt mit dem „Wunschensemble“, auch noch das Wetter bei der Dramaturgie mithilft, ist letztlich ein seltener, aber erfreulicher Theatermoment – der eben genauso vergänglich ist, wie Jedermann selbst.