Elena Stikhina und Pavel Cernoch in „Medee“
Salzburger Festspiele / Thomas Aurin
„Medee“

Showdown an der Tankstelle

Ein Brautmodengeschäft, ein Stripclub und eine Tankstelle: In Simon Stones Bearbeitung von Luigi Cherubinis Oper „Medee“ erinnert nicht viel an deren Wurzeln in der Antike. Stone verlegt den 2.500 Jahre alten Stoff auch thematisch ins Heute: Die gewagte Umdeutung von griechischer Tragödie zu modernem Hollywood-Drama wurde bei der Premiere am Dienstag im Großen Festspielhaus in Salzburg kräftig bejubelt.

Wie ernst es Stone mit dem zeitgenössischen Anstrich meint, wird gleich in den ersten Minuten offensichtlich. Mit einem Video wird das Publikum in die Handlung eingeführt, geradezu klischeehaft wird klargemacht, dass Jason, Vater von Medees zwei Söhnen, eine Neue hat: Per SMS schreibt er seiner bisherigen großen Liebe, dass er länger in der Arbeit bleiben muss – nur um sich wenig später mit der jüngeren Dirce zu treffen.

Was nach dem Anfang eines Hollywood-Beziehungsdramas klingt, ist jene Art von Freiheit, die sich Stone in seiner Bearbeitung der 1797 uraufgeführten Oper nimmt. Cherubinis „Medee“ basiert auf Pierre Corneilles gleichnamigem Stück, das wiederum entfernt auf Euripides’ ursprünglicher Tragödie aufsetzt. Die grundlegende Geschichte ist immer noch zeitgemäß: Erst opfert Medea für ihre Liebe zu Jason ihre eigene Familie, schließlich wird sie jedoch selbst hintergangen. Deshalb schwört sie Rache: Neben Jasons neuer Geliebter tötet sie schließlich ihre eigenen Kinder.

2.500 Jahre alt, immer noch aktuell

Cherubinis Oper galt als „Opera comique“, die neben musikalischen Nummern auch rein gesprochene Dialoge beinhaltet. Bei Stone überlebten diese Passagen nicht – und auch mehrere Textzeilen wurden aus dem Libretto einfach gestrichen, was der Cherubini-Oper jedoch nicht schadet.

Thematisch arbeitet der australisch-schweizerische Regisseur aktuelle Tangenten ein: So wird seine Medee (Elena Stikhina) nach Georgien (dem früheren Kolchis) ins Exil geschickt, während Jason (Pavel Cernoch) seine Hochzeit mit Dirce (Rosa Feola) plant. Beim Versuch, erneut einzureisen, wird sie auf dem Flughafen festgehalten, weil sie auf einer Watchlist steht. Mit voller Härte verweigert Creon (Vitalij Kowaljow) in seiner Rolle als Minister den dauerhaften Aufenthalt.

Szene aus „Medee“
Salzburger Festspiele / Thomas Aurin
Kein Familienglück: Medee (Elena Stikhina) sucht den Kontakt zu ihrem ehemaligen Geliebten Jason (Pavel Cernoch)

Ohne plump zu werden, arbeitet sich Stone damit an das Thema des „Fremdseins“ heran. Denn es ist nicht allein eine Anspielung auf die Tagespolitik – egal auf welchem Kontinent –, sondern auch wesentlich für die Charakterisierung der Medee, für die der Heimatbegriff letztlich Mitschuld an ihrem tragischen Ende trägt.

Medea auf der Sprachbox

Wenn der Originaltext nicht ausreicht, um die zeitliche Anpassung zu vollziehen oder gegebenenfalls Charakterzüge deutlicher herauszuarbeiten, setzt Stone auf Sprachnachrichten, die Medee ihrem Jason aufs Handy schickt. Einmal erzählt sie ihm darin, dass sie seinen Namen gegoogelt habe, um von seiner Hochzeit zu erfahren, ein anderes Mal, dass sie auch ohne Kinder glücklich gewesen wäre.

Vom Stripclub ins Internetcafe

In erster Linie modernisiert Stone Cherubinis „Medee“ aber gemeinsam mit Bühnenbildner Bob Cousins. Die Detailverliebtheit macht Stones Nähe zum Film ersichtlich. Im Brautmodengeschäft werden Selfies geschossen, der Junggesellenabschied führt Jason in einen Stripclub, der nicht nur von rotem Licht durchflutet ist, sondern in dem auch an der Stange getanzt wird.

Vitalij Kowaljow in „Medee“
Salzburger Festspiele / Thomas Aurin
Creon (Vitalij Kowaljow) feiert den Junggesellenabschied gemeinsam mit Jason in einem Stripclub

Ein Internetcafe, in dem Medee versucht, den ehemaligen Geliebten zu kontaktieren, wirkt unterdessen deshalb so täuschend echt, weil Statistinnen und Statisten laufend ein- und ausgehen, bei der Wahl der Brautmode darf der Bleikristallluster im Verkaufsraum nicht fehlen. Und als einer von Medees Söhnen „Fortnite“ spielt, wird zumindest vereinzelt im Publikum geflüstert, ob das nicht jenes Spiel sei, in dem „wir jetzt Weltmeister“ sind. Viel aktueller könnte Stone wohl nicht arbeiten.

Splitscreen auf der Bühne

Besonders eindrucksvoll wirkt die Bühne, wenn Stone sie teilt: Für die Szene, in der Medee auf dem Flughafen festgehalten wird, teilt er den Bühnenraum horizontal, die Ankunftshalle ist im „ersten Stock“ aufgebaut, darunter ist das Wohnzimmer, in dem sich Medees Vertraute Neris (Alisa Kolosova) aufhält. Besonderer Clou: Mittels Kamera wird das Geschehen von oben auf den Fernseher darunter übertragen – inklusive Laufband, auf dem „Minister verhindert Einreise“ zu lesen ist.

Innerer Konflikt auch musikalisch spürbar

Mit all den technischen Kunstgriffen, mit denen Stone arbeitet, könnte leicht von der Leistung des Ensembles abgelenkt werden – was jedoch am Premierenabend nicht nötig ist: Vor allem Sopranistin Stikhina macht das Schicksal der Medee auch auf musikalischer Ebene fühlbar. Schmerz und Stärke, all die Gefühlswendungen, der innere Konflikt, der die Rolle der antiken Medea definiert, werden von ihr gesanglich mitgeprägt. Die an sich gute musikalische Leistung von Tenor Cernoch und Sopranistin Feola in ihrer Darstellung des Paares Jason und Dirce gerät wegen Stikhinas Einsatz letztlich etwas in den Hintergrund, was auch der Schlussapplaus widerspiegelte.

Elena Stikhina in „Medee“
Salzburger Festspiele / Thomas Aurin
Ein Internetcafe ist für Medee der einzige Weg, mit ihren Kindern in Kontakt zu bleiben

Hinzu kommt die Musik der Wiener Philharmoniker unter Leitung von Thomas Hengelbrock, die für den musikalischen Spannungsbogen sorgen. Sosehr Stone am Text arbeitete, um vor allem seine Medee besser herauszuarbeiten, so gut funktioniert Cherubinis ursprüngliche Musik, die – richtige Leidenschaft, wie an diesem Abend, vorausgesetzt – zusätzlich die komplizierte Situation der Protagonistin hervorhebt.

Medee, nachdem sie erst Creon und dann Dirce umgebracht hat, flüchtet mit ihren Kindern per Auto – ein Zwischenstopp bei einer Tankstelle markiert das unmittelbar bevorstehende Ende, das umstrittene Kernstück des „Medea“-Stoffs, in dem sie ihre eigenen Kinder tötet. Vor den Augen ihres ehemals Geliebten wird die Tankstelle zum (verhältnismäßig wenig eindrucksvollen) Flammenmeer, ehe der Vorhang nach rund zweieinhalb Stunden, inklusive Pause, zum letzten Mal fällt.

Hinweis

„Medee“ wird im Rahmen der Salzburger Festspiele noch am 4., 7., 10., 16. und 19. August im Großen Festspielhaus aufgeführt. Ö1 sendet eine Aufzeichnung der Oper am 10. August um 19.30 Uhr.

Großer Jubel für Stones neue „Medea“-Variante

Es war nicht das erste Mal, dass sich Stone an eine „Medea“-Variante wagte: Schon im Vorjahr feierte eine Bühnenversion am Burgtheater deutschsprachige Premiere. Auch damals wollte er den Stoff in die Gegenwart holen, setzte dabei auf Minimalismus, die Bühne dominiert von viel Weiß, Schwarz und Rot. „Medee“ ist optisch das genaue Gegenteil, detailreich, durch die oftmalige Anwesenheit der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor manchmal gar überladen. Auch der grundlegende Ansatz der Aktualisierung war diesmal ein gänzlich anderer – und zeigt damit wohl Stones vielfältiges Talent.

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Schlussapplaus vor der Tankstelle #medee #salzburgerfestspiele

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Am Premierenabend wurde das auch entsprechend gewürdigt, für den Regisseur gab es lauten Jubel. Noch mehr Applaus gab es nur für Stikhina, die im Gegenzug vor dem Publikum niederkniete. Trotz radikaler Modernisierung gelang es dem in den vergangenen Jahren zum Starregisseur avancierten Stone, den Eindruck zu vermitteln, dass die Oper auf seine Bilder zugeschnitten ist – und nicht er seine Bilder erst auf Cherubinis Oper zuschneiden musste. „Medee“ machte Stone somit letztlich auch ein gutes Stück zu „seiner“ Oper.