Valery Tscheplanowa und Tobias Moretti im Jedermann
Matthias Horn
Interview

Die Buhlschaft zieht Bilanz

Valery Tscheplanowa war die große Überraschung, als sie im Vorjahr als Buhlschaft angekündigt wurde. Nach diesem Festspielsommer ist sie fest in Salzburg verankert. Auch emotional. „Die Buhlschaft ist ein Amt“, schildert sie ihre Erfahrung im Gespräch mit ORF.at. In Salzburg werde man mit dieser Rolle zu einer Institution für alle Lebensfragen. Ob sie im Jubiläumsjahr auf der Bühne des Domplatzes stehen wird, lässt sie offen. Das Stück sei toll, der Katholizismus darin problematisch.

„Eine Buhlschaft wie schon seit 20 Jahren nicht“, hört man dieser Tage hinter vorgehaltener Hand in Salzburg. Mit großem Selbstverständnis hat Tscheplanowa die Rolle an der Seite von Jedermann Tobias Moretti eingenommen. Und sich beim Flanieren durch Salzburg mehr als damit abgefunden, dass man mit dieser Rolle eine öffentliche Institution ist. Vergangenes Jahr rackerte sie noch in der fordernden Produktion von Ulrich Rasche zu den „Persern“ des Aischylos. Heuer ist sie an so vielen Abenden der Erlösung vor dem Domplatz nah. Dennoch findet sie im Gespräch auch Verbindendes zwischen beiden Arbeiten.

ORF.at: Frau Tscheplanowa, Ihre erste Jedermann-Saison ist noch nicht ganz zu Ende. Gibt es für Sie dennoch ein Gefühl für eine Bilanz?

Valery Tscheplanowa: Ja, ich habe hier in diesem Sommer in Salzburg gelernt, dass die Buhlschaft mehr ist als eine Rolle. Die Buhlschaft, sie ist ein Amt. Und wenn man die Buhlschaft spielt, werden einem plötzlich die unterschiedlichsten Fragen zu allen Lebenslagen von den Menschen hier gestellt …

ORF.at: … heißt das, dass Rolle und Person auch verschwimmen?

Tscheplanowa: Nein, das heißt es nicht. Das ist schon klar getrennt, ich werde immer als Valery Tscheplanowa gefragt. Und das berührt mich auch. Und ist in der Dichte hier eine für mich gänzlich neue Erfahrung. Es ist so, dass die Menschen, der Person, die die Buhlschaft spielt, so ein ganz besonderes Interesse entgegenbringen. Das ist besonders. Und mich fasziniert, dass das mehr ist als eine Tradition.

ORF.at: Kennen Sie das, dass man in einer Stadt dann so gar nicht mehr unsichtbar sein kann, wenn man mal das Bühnensetting verlassen hat?

Tscheplanowa: Ja, das kenne ich schon auch aus meiner Zeit in Frankfurt oder auch München, besonders, wenn man lang mit einer Sache verbunden wird. Aber hier ist es nochmal besonders hier.

ORF.at: Hat das hier auch mit der Breitenwirkung zu tun, dass das durch alle Schichten geht. Frankfurt ist ja im Zentrum auch ein Dorf. Aber man weiß dort genau, wer in diesem Dorf unterwegs ist …

Tscheplanowa: Ja, das stimmt. Und es stimmt, dass die Breitenwirkung hier eine ganz eigene Sache ist.

Valery Tscheplanowa im Jedermann als Buhlschaft
Matthias Horn
„Für mich ist es keine Lösung, an ein Jenseits zu glauben. Wir müssen uns im Diesseits verhalten. Das ist der Auftrag.“

ORF.at: In Ihrer Ausbildung hatte das Puppenspiel eine besondere Bedeutung. Sind das Erfahrungen, die Ihnen beim Jedermann entgegengekommen sind, zumal hier ja lauter Stellvertreter für etwas auf der Bühne stehen?

Tscheplanowa: Das ist eine gute Frage. Das Puppenspiel ist für mich eine zentrale Sache, denn ich baue die Figuren auf. Und das Puppenspiel hilft mir, die Figuren schrittweise zu entwickeln. So verliere ich auch meine Scheu vor ihnen. Und tatsächlich spiele ich sehr oft Figuren, die an sich für etwas stehen, also für ein Prinzip, die schöne Helene etwa oder zuletzt das Gretchen im „Faust“. Diese Figuren brauchen einen Schimmer, aber auch einen Anker in der Welt.

„Jedermann“ und Salzburg

Am 22. August 1920 wurde der „Jedermann“ zum ersten Mal in Salzburg in der Regie von Max Reinhardt aufgeführt. Die Uraufführung im Zirkus Schumann von Max Reinhardt fand bereits 1911 in Berlin statt.

ORF.at: Der Allegorie-Begriff, auf den sie hier anspielen, ist ja im „Jedermann“ zentral. Im Vorjahr waren Sie ja mit den „Persern“ mit einem sehr markanten Stück vertreten, wo Sie die Funktion einer Seherin hatten, im „Jedermann“ sieht und erkennt die Buhlschaft ja auch viel früher als der Jedermann. Gibt es etwas, das diese beiden sehr konträren Arbeit über die mehr als 2000 Jahre, die sie trennt, verbindet?

Tscheplanowa: Ja, das stimmt sicher. In beiden Stücken geht es um Figuren, die stark überzeichnet sind. Und bei der Buhlschaft ist es ja auch so, dass sie zuerst sehr überzeichnet ist, bevor sie dann landen kann.

ORF.at: Beim „Jedermann“ kommen Erkenntnis und Umkehr von oben, bei Aischylos stellen sich Erkenntnis und Katharsis ja von unten, auch aus diesem Moment der Erschöpfung in diesem Schicksalsstrom ein. Ist das wiederum der markanteste Unterschied zwischen diesen zwei quasi Salzburger Arbeiten von Ihnen?

Tscheplanowa: Ja, das stimmt sicher. Bei Aischylos ist es am Ende der Mensch, der in der Verantwortung steht. Aischylos lässt das Prinzip der Verantwortung unter den Menschen. Das ist zentral. Die Götter sind zwar schuld, aber wir müssen es richten. Bei Hofmannsthal geht die Verantwortung vom Hiesigen ins Jenseitige.

ORF.at: Wie geht es Ihnen gerade mit dem katholischen Erlösungshintergrund bei Hofmannsthal?

Tscheplanowa: Das beunruhigt mich. Ich schätze das Stück und ich schätze die Struktur des Stücks. Ich ringe jedes Mal mit diesem „Christ, was ficht dich an?“ Und dass am Ende der Glaube so dasteht, wie er hier nun mal dasteht. Und für mich ist es keine Lösung, an ein Jenseits zu glauben. Wir müssen uns im Diesseits verhalten. Das ist der Auftrag. Was mir aber gefällt ist, dass der Glaube auffordert, sich zu seinen Werken zu bekennen.

ORF.at: Gleichzeitig haben ja der „Jedermann“ und der katholische Glauben etwas Unheimliches. Liegt in diesem Unheimlichen eine Anziehungskraft, eine Faszination?

Tscheplanowa: Da, wo es um das Unheimliche geht und um das Dunkle, muss man das sehen, was verdeckt wird. Und es wird etwas verdeckt, um es einer höheren Instanz zu übergeben, die es vielleicht gibt oder nicht gibt. Und da frag ich mich, warum soll ich mich an so eine Instanz ausliefern, die dann auch gewisse Rechte über mich hat. Auch diese Frage, dass da ein anderer Mensch steht, der mir wiederum den Segen gibt zur Liebe, die ich zu einem bestimmten Menschen empfinde.

Dieses Unheimliche, diese Macht, die ich hier jemandem einräume, das ist für mich nicht das Unheimliche, sondern das Nichtdurchdachte, des Ausgesparte. Ich bin keine Freundin des Nichtangeschauten. Ich mag den religiösen Pomp und die Symbole, aber ich mag da gerne das Licht anmachen. Am meisten hat mich deshalb auch die erste Aufführung des „Jedermann“ begeistert, die wir am Nachmittag im Licht gespielt haben, da entsteht eine neue Direktheit zu diesem bisschen Endlichkeit mit dem Publikum. Und die Tugenden sehen im grellen Sonnenlicht gleich ganz anders aus.

Valry Tscheplanowa im Gespräch mit Gerald Heidegger
U. Kalchmair
Die Frage nach einem Dacapo als Buhlschaft beantwortet Tscheplanowa im Sommer 2019 mit einem Lächeln.

ORF.at: Heißt das, dass wir Sie im kommenden Jahr wieder auf der Bühne sehen?

Tscheplanowa: (lacht) Ich hoffe. Es ist ein wunderbares Theater. Aber es ist auch ein sehr katholisches Spiel, und ich habe hier bei der Szene, wo ich mich vom Jedermann verabschiede, noch ein paar Worte hinzugefügt, denn ich denke, wir müssen schon an diesen religiösen Reliquien arbeiten. Wir haben ein Riesenproblem mit Religion. Wir schauen gerne zum Islam und fragen, was ist da los? Aber was ist im Katholizismus los? Hier geht es um eine Dunkelheit, die wir so nicht mehr akzeptieren können. Ich habe mal den „Jedermann“ mit Weihnachten verglichen und frage mich: Wenn wir Weihnachten feiern, glauben wir an die Dinge, um die es hier geht, Maria und all die Themen? Man kann ja Weihnachten so oder so feiern, aber es kann nicht nur um die Geschenke gehen. Und ich glaube, wir sind weltweit aufgefordert, das Thema Religion gründlich zu durchdenken.

ORF.at: Aber brauchen wir vielleicht ein anderes Konzept statt Religion für unsere Bedürfnisse? Ich denke da etwa an den Begriff der Mysterien. Und wenn ich an die große Literatur etwa des 19. Jahrhunderts aus Ihrer ursprünglichen Heimat Russland denke, dann ist die trotz ähnlicher Bauart für uns im Westen so schwer übersetzbar durch diesen positiven Begriff gegenüber den Mysterien, durch diesen anderen Zugang auf das Unheimliche …

Tscheplanowa: Ja, das sehe ich auch so, aber da komme ich auf die ungeheure Kraft der Natur und unserer gleichzeitigen Ohnmacht ihr gegenüber. Ich brauche zwischen der Natur und mir keine menschliche Instanz, die mir aufträgt, wovor ich mich oder was ich zu fürchten habe.