Es sollte eine Partitur für eine bessere Welt sein, in der wieder Respekt und Toleranz einziehen. Mit radikalen Mitteln erweiterte der Venezianer Luigi Nono im Pakt mit dem Künstler Emilio Vedova und dem Theaterleiter Bruno Maderna die Vorstellung davon, was in einem klassischen Theater möglich sei. Alles, was man bis dahin als Geschehen von der Bühne erlebt hatte, so Nonos Überzeugung, müsse drastisch erweitert werden: Die Bühne sollte überall sein und das Publikum mitten drinnen auch in einem Veränderungsprozess sitzen, damit so etwas wie eine kollektive Erfahrung möglich werde.
„Luigi Nono“, sagt Festspielintendant Markus Hinterhäuser, „hat seine Kunst als Möglichkeit verstanden, weit über das Erwartbare hinauszugehen, die Welt zu sehen, sie zu erklären und ein Stück weit zu verändern.“ Früh, etwa im Rahmen des „Zeitfluss“-Festivals, das Hinterhäuser gemeinsam mit Tomas Zierhofer-Kin verantwortete, wollte man Nonos Kunstauffassung in Österreich „propagieren“, wie es heißt. Man schrieb damals die frühen 1990er Jahre, der „Eiserne Vorhang“ war gefallen, und ein Stück weit schien sich die Gesellschaft in jene Richtung zu ändern, von der gewisse Intellektuelle geträumt hatten. Nonos bahnbrechendes Werk lag da freilich schon mehr als dreißig Jahre zurück, ja, es erzählte eigentlich eine Geschichte, die man vielleicht in den 1990ern so gar nicht hören wollte, waren doch gerade andere Fragen des Systemumbaus gefragt.

Eine moderne Passionsgeschichte
Nono gestaltet in seinem Werk „Intolleranza 1960“ eine Art moderne Passionsgeschichte. Sie erzählt von einem ausländischen Bergarbeiter, der sich wieder nach einer menschlichen Würde für sein Leben sehnt und die Fesseln eines menschenverachtenden Systems abstreifen wollte. Das Werk platzte in eine Zeit des Aufstiegs, aber auch der Verdrängung. Im Nachkriegsitalien bildeten sich wie auch in anderen Ländern verkrustete Machtstrukturen. Das Paradigma galt dem Fortschritt, und die Fronten zwischen konservativ und progressiv schienen festgefahren. Viele Künstler der Zeit, die Italien verändern wollten, standen der Kommunistischen Partei Italiens nahe, die schon von ihrem intellektuellen Profil deutlich attraktiver schien als vergleichbare Bewegungen anderer Länder, etwa wenn man nach Frankreich blickte.
Italienische Besonderheiten
Künstler wie Nono und auch Pier Paolo Pasolini verbanden das Narrativ einer Befreiung des Menschen von kapitalistischen Systemzwängen gerne mit Erzählungen, die sie aus ihrer Herkunft kannten, und diese Narrative sind in Italien bis zur Welt eines Romeo Castellucci stark mit einer mythischen Lesart der katholischen Tradition verbanden.

Nono war gleichsam als Schüler und Weiterdenker der Konzepte eines Arnold Schönberg auf die radikale Veränderung der Kunstform Musik unter Hereinnahme anderer Erzählmittel aus. Er bezog moderne Medien der Reproduktion und Verstärkung mit in sein Schaffen ein und schuf so etwas wie eine vielschichtige ‚Partitur‘. Das Kunsterleben sollte mehr als ein eindimensionales Senden hin zum Publikum sein. Alle waren in einem gemeinsamen Erlebensraum eingebettet – das Theater für sich so etwas wie ein kleines ‚globales Dorf‘ (ein Begriff, der ebenfalls aus dieser Zeit stammt).
„Ein wagemutiges Experiment“
„Die Uraufführung am 13. April 1961 im Teatro La Fenice hatte den Charakter eines wagemutigen Experiments, denn das Werk stand in Form und Inhalt quer zu allen traditionellen Vorstellungen von Musiktheater“, erinnert der Musikwissenschaftler Max Nyffeler anlässlich der nun in Salzburg anstehenden Premiere in der Regie des Belgiers Jan Lauwers und unter der musikalischen Leitung des Nono-Experten Ingo Metzmacher.
Die Darstellung von körperlicher und institutioneller Gewalt gegen den Menschen, die Erweiterung des Bühnenraums durch Lichtprojektionen und Lautsprecherklänge, dazu noch eine Musik der Unruhe und des Protests hätten dazu gedient, so der Musikhistoriker, eine klare Haltung beim Publikum zum Thema zu provozieren.

Vedova und die Zuspitzung der Sehkonvention
Optisch auf die Bühne wurde Nonos Oper von seinem Freund, dem venezianischen Künstler Emilio Vedova gebracht, der gerade das Umschlagen der konkreten Figur zur reinen Form in seiner Arbeit zum Thema machte. Sein Bühnenbild reizte auch die bisher gewohnten Sehmuster. Bilder, so versprachen sich Nono und Vedova, sollten Teil des, wie sie es nannten, „handelnden Bewusstseins“ sein – eine Haltung, die noch sehr auf die Überlegungen eines Jean Paul Sartre und Bertolt Brecht zurückgriff.
Vedova selbst sah „Intolleranza 1960“ als eine, wie er selbst schrieb, „Geschichte unserer Zeit“. Eine Erzählung zu finden „und anzuklagen“ sei in einer Zeit der Fragmentierung deutlich schwerer geworden. Bilder, so hoffte der Maler, sollten deutlich aus dem Inneren entstehen – und nicht von einem „der Wirklichkeit ausweichenden Illustratismus“ dienen.
Eine Kunst, die alle Wunden aufriss
Mit der Arbeit schien man nicht den Nerv der Zeit getroffen zu haben, denn man war der Entstehungszeit, die sich ja im Titel niederschlug, voraus. Gerade wollte man die Kriegsgräuel endlich vergessen, da kam eine Kunst daher, die alle Wunden aufriss, um nicht zu einer Wahrheit, aber zu seiner neuen Wahrhaftigkeit im Umgang mit menschlichen Werten zu kommen. Im Publikum saßen auch die Vertreter der äußersten Rechten, die in den Arbeiten Nonos zunächst eine politische Agitation sehen wollten.
„Die Faschisten machen organisierten Skandal“, notiert die deutsche Sängerin Carla Henius, oft als „Muse Nonos“ tituliert, stichwortartig in ihrem Tagebuch und beschreibt danach die Situation im Theater in Venedig am 13. April 1961. Einige der Neo-Faschisten, die ja Flugzettel abwarfen und von den Rängen hinunter agitierten, hätte ausgerechnet die Polizei verhaftet, nachdem man die Polizei mit „Viva la polizia“ habe hochleben lassen: „Sie pfiffen von Anfang an und schmissen auch Stinkbomben. Keiner von uns, die wir inzwischen das Stück doch gut kennen, kapiert, wie man darin eine primitive Verherrlichung des Kommunismus sehen kann.“

Nono 2021
Reaktionen dieser Heftigkeit sind ja bei Aufführungen dieses zum zeitgenössischen Klassiker gewordenen Stücks nicht zu erwarten. Allerdings hat sich die Zeit geändert. Und wenn Vedova für seine Bühnenkonzeption vom schwierigen Zugriff auf die Wirklichkeit spricht, so sind in der Gegenwart die Umstände deutlich klarer geworden.
Wenn die Salzburger Festspiele „Intolleranza 1960“ nun ab 15. August auf die Bühne der Felsenreitschule bringen, dann tun sie das in einer Welt, in der die Utopien eines gesellschaftlichen Wandels nicht mehr automatisch in liberaleren Demokratien münden, die die Vielfalt und damit Menschlichkeit einer Gesellschaft hochhalten. Eher verteidigen sie ihre Werte auch dadurch, dass der Gastarbeiter Nonos erneut in der untersten Hierarchie des Alltags gebraucht wird.
Auch die Frage des Schicksals des Fremden, den es in eine bessere Welt zieht, scheint aktueller denn je. Die Antworten, die er von Teilen des zeitpolitischen Diskurses bekommt, erzählen eigentlich genau von den Reaktionen, die dieses Theaterstück bei seiner Premiere hervorgerufen hat.
Ein Parcours durch die Zeit
Einen Einblick in die Geschichte dieses Stücks ermöglicht eine nun zusammengestellte Ausstellung, die die Mentorin der künstlerischen Handschrift der Festspiele, Margarethe Lasinger, in enger Zusammenarbeit mit dem Galeristen Thaddaeus Ropac in den Foyers der Felsenreitschule zusammengestellt hat. Es sind eindrücklich Zeugnisse zu einer intensiven künstlerischen Zusammenarbeit zwischen Nono und Vedova – vor allem ist es ein Weg durch die Zeit, der zeigt, dass Grundwerte in dieser Gesellschaft nicht selbstverständlich sind, geschweige denn, dass sie von alleine kommen.