Ausschnitt aus Nonos Partitur
Luigi Nono, Intolleranza 1960, Autographe Partitur, Teil I, Coro iniziale, S. 2/3 · Archivio Luigi Nono, Venezia · © Eredi Luigi Nono, Venezia
Luigi Nono

Eine Partitur und der Druck der Faschisten

60 Jahre ist es her, da erlebte das Teatro La Fenice in Venedig ein Ereignis, das ebenso einschneidend war wie der erste „Wozzeck“. Der bekennende Kommunist und radikale Erneuerer der Musik Luigi Nono präsentierte sein Angebot an eine Gesellschaft, in der wieder Respekt voreinander einziehen sollte. Seine Oper „Intolleranza 1960“ wurde zur Vorhersage. Damals mobilisierten die Neo-Faschisten dagegen und ließen die Macht der Polizei hochleben. Heute scheint das Werk, das bald in Salzburg zu sehen sein wird, aktueller denn je.

Es sollte eine Partitur für eine bessere Welt sein, in der wieder Respekt und Toleranz einziehen. Mit radikalen Mitteln erweiterte der Venezianer Luigi Nono im Pakt mit dem Künstler Emilio Vedova und dem Theaterleiter Bruno Maderna die Vorstellung davon, was in einem klassischen Theater möglich sei. Alles, was man bis dahin als Geschehen von der Bühne erlebt hatte, so Nonos Überzeugung, müsse drastisch erweitert werden: Die Bühne sollte überall sein und das Publikum mitten drinnen auch in einem Veränderungsprozess sitzen, damit so etwas wie eine kollektive Erfahrung möglich werde.

„Luigi Nono“, sagt Festspielintendant Markus Hinterhäuser, „hat seine Kunst als Möglichkeit verstanden, weit über das Erwartbare hinauszugehen, die Welt zu sehen, sie zu erklären und ein Stück weit zu verändern.“ Früh, etwa im Rahmen des „Zeitfluss“-Festivals, das Hinterhäuser gemeinsam mit Tomas Zierhofer-Kin verantwortete, wollte man Nonos Kunstauffassung in Österreich „propagieren“, wie es heißt. Man schrieb damals die frühen 1990er Jahre, der „Eiserne Vorhang“ war gefallen, und ein Stück weit schien sich die Gesellschaft in jene Richtung zu ändern, von der gewisse Intellektuelle geträumt hatten. Nonos bahnbrechendes Werk lag da freilich schon mehr als dreißig Jahre zurück, ja, es erzählte eigentlich eine Geschichte, die man vielleicht in den 1990ern so gar nicht hören wollte, waren doch gerade andere Fragen des Systemumbaus gefragt.

Notizen von Luigi Nonno zu dieser Oper
SF/Marco Borelli
Luigi Nonos Skizzen für eine andere Welt. Zu sehen gerade in den Foyers der Salzburger Festspielbezirks.

Eine moderne Passionsgeschichte

Nono gestaltet in seinem Werk „Intolleranza 1960“ eine Art moderne Passionsgeschichte. Sie erzählt von einem ausländischen Bergarbeiter, der sich wieder nach einer menschlichen Würde für sein Leben sehnt und die Fesseln eines menschenverachtenden Systems abstreifen wollte. Das Werk platzte in eine Zeit des Aufstiegs, aber auch der Verdrängung. Im Nachkriegsitalien bildeten sich wie auch in anderen Ländern verkrustete Machtstrukturen. Das Paradigma galt dem Fortschritt, und die Fronten zwischen konservativ und progressiv schienen festgefahren. Viele Künstler der Zeit, die Italien verändern wollten, standen der Kommunistischen Partei Italiens nahe, die schon von ihrem intellektuellen Profil deutlich attraktiver schien als vergleichbare Bewegungen anderer Länder, etwa wenn man nach Frankreich blickte.

Italienische Besonderheiten

Künstler wie Nono und auch Pier Paolo Pasolini verbanden das Narrativ einer Befreiung des Menschen von kapitalistischen Systemzwängen gerne mit Erzählungen, die sie aus ihrer Herkunft kannten, und diese Narrative sind in Italien bis zur Welt eines Romeo Castellucci stark mit einer mythischen Lesart der katholischen Tradition verbanden.

Schwarz-Weiß-Bild von Luigi Nono
Kruse, Ingrid von / SZ-Photo / picturedesk.com
Kann Kunst die Gesellschaft verändern? Luigi Nono meinte ja, operierte dabei aber an der Grenze aller Erwartbarkeit.

Nono war gleichsam als Schüler und Weiterdenker der Konzepte eines Arnold Schönberg auf die radikale Veränderung der Kunstform Musik unter Hereinnahme anderer Erzählmittel aus. Er bezog moderne Medien der Reproduktion und Verstärkung mit in sein Schaffen ein und schuf so etwas wie eine vielschichtige ‚Partitur‘. Das Kunsterleben sollte mehr als ein eindimensionales Senden hin zum Publikum sein. Alle waren in einem gemeinsamen Erlebensraum eingebettet – das Theater für sich so etwas wie ein kleines ‚globales Dorf‘ (ein Begriff, der ebenfalls aus dieser Zeit stammt).

„Ein wagemutiges Experiment“

„Die Uraufführung am 13. April 1961 im Teatro La Fenice hatte den Charakter eines wagemutigen Experiments, denn das Werk stand in Form und Inhalt quer zu allen traditionellen Vorstellungen von Musiktheater“, erinnert der Musikwissenschaftler Max Nyffeler anlässlich der nun in Salzburg anstehenden Premiere in der Regie des Belgiers Jan Lauwers und unter der musikalischen Leitung des Nono-Experten Ingo Metzmacher.

Die Darstellung von körperlicher und institutioneller Gewalt gegen den Menschen, die Erweiterung des Bühnenraums durch Lichtprojektionen und Lautsprecherklänge, dazu noch eine Musik der Unruhe und des Protests hätten dazu gedient, so der Musikhistoriker, eine klare Haltung beim Publikum zum Thema zu provozieren.

Ausstellung mit Exponaten zur Geschichte dieser Oper
SF/Marco Borelli
Deklamation und Gegenproteste: Einblick in eine intensive Geschichte der Auseinandersetzung mit einem Werk im Foyer zur Felsenreitschule. Links die Arbeiten Emilio Vedovas, die der Galerist Thaddaeus Ropac mit in die Schau einbringen konnte.

Vedova und die Zuspitzung der Sehkonvention

Optisch auf die Bühne wurde Nonos Oper von seinem Freund, dem venezianischen Künstler Emilio Vedova gebracht, der gerade das Umschlagen der konkreten Figur zur reinen Form in seiner Arbeit zum Thema machte. Sein Bühnenbild reizte auch die bisher gewohnten Sehmuster. Bilder, so versprachen sich Nono und Vedova, sollten Teil des, wie sie es nannten, „handelnden Bewusstseins“ sein – eine Haltung, die noch sehr auf die Überlegungen eines Jean Paul Sartre und Bertolt Brecht zurückgriff.

Vedova selbst sah „Intolleranza 1960“ als eine, wie er selbst schrieb, „Geschichte unserer Zeit“. Eine Erzählung zu finden „und anzuklagen“ sei in einer Zeit der Fragmentierung deutlich schwerer geworden. Bilder, so hoffte der Maler, sollten deutlich aus dem Inneren entstehen – und nicht von einem „der Wirklichkeit ausweichenden Illustratismus“ dienen.

Eine Kunst, die alle Wunden aufriss

Mit der Arbeit schien man nicht den Nerv der Zeit getroffen zu haben, denn man war der Entstehungszeit, die sich ja im Titel niederschlug, voraus. Gerade wollte man die Kriegsgräuel endlich vergessen, da kam eine Kunst daher, die alle Wunden aufriss, um nicht zu einer Wahrheit, aber zu seiner neuen Wahrhaftigkeit im Umgang mit menschlichen Werten zu kommen. Im Publikum saßen auch die Vertreter der äußersten Rechten, die in den Arbeiten Nonos zunächst eine politische Agitation sehen wollten.

„Die Faschisten machen organisierten Skandal“, notiert die deutsche Sängerin Carla Henius, oft als „Muse Nonos“ tituliert, stichwortartig in ihrem Tagebuch und beschreibt danach die Situation im Theater in Venedig am 13. April 1961. Einige der Neo-Faschisten, die ja Flugzettel abwarfen und von den Rängen hinunter agitierten, hätte ausgerechnet die Polizei verhaftet, nachdem man die Polizei mit „Viva la polizia“ habe hochleben lassen: „Sie pfiffen von Anfang an und schmissen auch Stinkbomben. Keiner von uns, die wir inzwischen das Stück doch gut kennen, kapiert, wie man darin eine primitive Verherrlichung des Kommunismus sehen kann.“

Blick in den Karl-Böhm-Saal mit Projektionen der Uraufführung
SF/Marco Borelli
Deklamation und harter Widerstand. Luigi Nonos Parolen am Fels des Mönchsbergs.

Nono 2021

Reaktionen dieser Heftigkeit sind ja bei Aufführungen dieses zum zeitgenössischen Klassiker gewordenen Stücks nicht zu erwarten. Allerdings hat sich die Zeit geändert. Und wenn Vedova für seine Bühnenkonzeption vom schwierigen Zugriff auf die Wirklichkeit spricht, so sind in der Gegenwart die Umstände deutlich klarer geworden.

Wenn die Salzburger Festspiele „Intolleranza 1960“ nun ab 15. August auf die Bühne der Felsenreitschule bringen, dann tun sie das in einer Welt, in der die Utopien eines gesellschaftlichen Wandels nicht mehr automatisch in liberaleren Demokratien münden, die die Vielfalt und damit Menschlichkeit einer Gesellschaft hochhalten. Eher verteidigen sie ihre Werte auch dadurch, dass der Gastarbeiter Nonos erneut in der untersten Hierarchie des Alltags gebraucht wird.

Auch die Frage des Schicksals des Fremden, den es in eine bessere Welt zieht, scheint aktueller denn je. Die Antworten, die er von Teilen des zeitpolitischen Diskurses bekommt, erzählen eigentlich genau von den Reaktionen, die dieses Theaterstück bei seiner Premiere hervorgerufen hat.

Ein Parcours durch die Zeit

Einen Einblick in die Geschichte dieses Stücks ermöglicht eine nun zusammengestellte Ausstellung, die die Mentorin der künstlerischen Handschrift der Festspiele, Margarethe Lasinger, in enger Zusammenarbeit mit dem Galeristen Thaddaeus Ropac in den Foyers der Felsenreitschule zusammengestellt hat. Es sind eindrücklich Zeugnisse zu einer intensiven künstlerischen Zusammenarbeit zwischen Nono und Vedova – vor allem ist es ein Weg durch die Zeit, der zeigt, dass Grundwerte in dieser Gesellschaft nicht selbstverständlich sind, geschweige denn, dass sie von alleine kommen.