Ausrine Stundyte im Blaubart
SF/Monika Rittershaus
Das Programm 2022

Weltenbrand und Weltgericht

Dass im Jahr 2022 ein Krieg mitten in Europa tobt, ist in der Programmierung der heurigen Salzburger Festspiele nicht vorhersehbar gewesen. Dass man aber genau Kunstwerke ausgesucht hat, die auf Krisensituationen und Krisenzeiten reagieren, könnte für Salzburg zum Auftrag werden. Weltenbrand, die Aussicht auf ein Gericht zu dem, was dem Menschen widerfährt – und auch der Auftrag zur Versöhnung, diese Elemente liegen heuer in einem Programm vor, das so anspruchsvoll wie schon lange nicht mehr ist.

„Ich sehe es als meinen Auftrag, außergewöhnliche Begegnungen zu ermöglichen.“ Mit diesem Satz umriss der Intendant der Salzburger Festspiele, Markus Hinterhäuser, jüngst im Ö1-„Klassiktreffpunkt“ seine Programmatik als Festspielleiter. Einmal mehr hat er den Mut, außergewöhnliche Paarungen auf die Bühnen Salzburgs zu setzen. Und geht auch in der Beurteilung, wer im Schatten des Ukraine-Kriegs auftreten „soll“ oder „darf“ den Weg einer, wie er es nennt, differenzierten Einzelbetrachtung. So ist für ihn weiter der in Russland arbeitende Grieche Teodor Currentzis gesetzt – wenngleich dieser 2022 mit dem Gustav-Mahler-Jugendorchester bei „Ouverture spirituelle“ und der Eröffnungsinszenierung werkt.

Wenn es so etwas wie eine Handschrift Hinterhäusers gibt, dann wird sie gerade heuer so sichtbar wie bisher nie. Herausfordernde Stücke, herausfordernde Paarungen – und ein Programm, das sich alles andere als marktschreierisch gibt, das sind die Konturen der Salzburger Festspiele 2022. Und es ist nicht nur das Programm beim Musiktheater, das aufhorchen lässt – auch das Schauspiel zeigt heuer neben dem obligatorischen „Jedermann“ große Namen, Mut in der Programmierung. Und mit „Verrückt nach Trost“ auch wieder eine Uraufführung, die tatsächlich an der Sprache des Gegenwartstheaters arbeitet.

Fotostrecke mit 4 Bildern

Szenebild aus dem Barbier von Sevilla
SF/Monika Rittershaus
Comeback von den Pfingstfestspielen. Caecilia Bartoli im „Barbiere di Sevilla“
Szenenbild im Wasser in Ingolstadt
SF/Matthias Horn
Keine Angst vor Drastik – Ivo van Hoes Bearbeitung von Marieluise Fleißer
Szenenbild aus „Verrückt nach Trost“
SF/Armin Smailovic
Uraufführung in Salzburg: „Verrückt nach Trost“ mit Ursina Lardi und Devid Striesow
Szenenbild Iphigenia
SF/Krafft Angerer
„Kommt doch mal mit euren Narrativen klar“ – das schlummernde Potenzial unter dem Iphigenie-Stoff im Finale des Schauspielprogramms

Mit Dante in die Gegenwart

„Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate“, „lasst jede Hoffnung, ihr, die ihr eintretet“ – diese Inschrift am Eingang zur Hölle im 3. Gesang von Dantes „Göttlicher Komödie“ steht wie eine Klammer zu den drei zentralen Produktionen im Bereich des Musiktheaters. Romeo Castelluccis Umsetzung von Bela Bartoks „Herzog Blaubarts Burg“ (1918), gekoppelt mit dem im Salzburg bei den Festspielen uraufgeführten Carl-Orff-Stück „De Temporum fine Comoedia“ ist an Dantes Werk ebenso orientiert wie Giaccomi Puccinis später, seltsam schöner Operndreiteiler „Il Trittico“ (1914-18, Regie: Christoph Loy, musikalische Leitung: Franz Welser-Möst) und die Umsetzung von Leos Janaceks „Kata Kabanova“ (1921) durch Barry Kosky in der Felsenreitschule und unter der Leitung des jungen, hochbegabten tschechischen Dirigenten Jakub Hrusa.

Von einem Werk, das „zwischen den Göttern Wagner und Verdi, Berg und Strawinsky“ steht, sprach Regisseur Kosky im Vorfeld von seiner Janacek-Oper. Doch diese Zuschreibung passt wohl auch auf Bartoks „Blaubart“ und noch mehr auf Puccinis „Trittico“. Alle Kunstwerke reagieren auf die fundamentalen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, sie tun das mit unterschiedlichen Lösungen, manchmal, wie im Fall von Puccini, mit Rückgriff und Halteversuchen an tradierten Formen – doch alle mit einem Versuch, künstlerische Lösungen für innere Dramen zu finden.

Zitat aus Dantes Göttlicher Komödie
BG
„Mitten auf dem Weg durch das Leben befand ich mich in einem dunklen Wald, sodass der gerade Weg verschlossen blieb“ – in einem prominenten Salzburger Hotel wird man seit Jahren an einem überraschenden Ort an Dante erinnert

„Große Kunst stellt die richtigen Fragen“

„Es gibt eine Qualität in großen Kunstwerken“, sagt Hinterhäuser, „wo derart zentrale Fragen verhandelt werden, die so viel fundamentaler sind als diese trostlose Tagespolitik. Die Fragestellungen großer Kunst macht Beziehungen zu laufenden gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen möglich. Hier werden die zentralen Fragen zur menschlichen Existenz gestellt, keine Antworten gegeben, aber anders aufgeworfen als in dieser trostlosen, schrecklichen Tagespolitik.“ Er sei sich jedenfalls sicher, dass die Kunst „ganz andere Gedankenräume“ öffnen könne.

Bei Orff etwa, so erinnert Hinterhäuser, würde die Frage der Existenz des Bösen in der Welt mit zwei widerstreitenden Positionen verhandelt: „Der Chor der Sibyllen sagt bei Orff, dass es wegen der Existenz des Bösen ein Weltgericht gebe, während der Chor der Anachoreten behauptet, dass das Böse mit zur Schöpfung gehört.“ Dass am Ende Lucifer als Träger des Lichts vor den Herrn tritt und die Frage nach der Unterwerfung unter ein Gesetz verlange, hält der Festspielchef für die Pointe des Stücks, das sich über das Ende mit dem so konträr gebauten Bartok-„Blaubart“-Stück koppeln werde.

Eine zweite Chance für Neshats „Aida“

Im Bereich der Wiederaufnahmen wird in Salzburg Lydia Steiers „Erzähl“-Version von Mozarts „Zauberflöte“ im Haus für Mozart wieder aufgenommen – diesmal unter dem Dirigat von Joana Malwitz. Shirin Neshats „Aida“ bekommt zudem fünf Jahre nach ihrer ersten Premiere eine Art zweite Chance. Er habe die große iranisch-amerikanische Bildpoetin bei ihrer ersten Opernarbeit ein Stück weit auch überfordert und sie nicht ganz vorbereitet in die Welt der Oper gelassen. „Als ich sie gefragt habe, ob sie ihre ‚Aida‘ nochmals neu überarbeiten wolle, war sie sofort begeistert“, so Hinterhäuser, der sich ohnedies überzeugt sieht, dass Wiederaufnahmen eigentlich immer eine Verbesserung des Stoffes brächten.

Im Bereich der konzertanten Aufführungen wird Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ (1979) eine einmalige Aufführung erleben. Und auch Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“ (1835) wird zum Schluss im Großen Festspielhaus in einer konzertanten Aufführung einmalig zu erleben sein.

Dichtes Theaterprogramm

Dass sich der Bereich des Theaters beinahe nahtlos an die Konzeptionen und Vorgaben des Musiktheaters annähert und ähnlich zeitkritische Stücke auf die Bühne von Landestheater, Perner-Insel, Szene Salzburg bzw. Mozarteum bringt, ist alles andere als selbstverständlich, wie man aus den letzten Jahren weiß. Arthur Schnitzlers „Reigen“ wird in einer Neufassung von zehn Autorinnen und Autoren, die die Dialoge des Stückes neu ausgerichtet haben, in der Regie von Yana Ross zu erleben sein. Mitgeschrieben haben dabei etwa die Finnin Sofi Oksanen oder der Schweizer Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss.

Teodor Currentzis im Festspielhaus

Dürfen Künstlerinnen und Künstler aus Russland seit dem Krieg in der Ukraine noch in Österreich auftreten? Die Debatte über Anna Netrebkos Haltung zu Putin beispielsweise hat die Berichterstattung der letzten Monate immer wieder stark geprägt. Die Salzburger Festspiele jedenfalls sind gegen einen Boykott und so war der griechisch-russische Dirigent Teodor Currentzis mit seinem Orchester für einen Abend im großen Festspielhaus in Salzburg zu Gast.

„Wie ist man richtig am Leben?“

Ivo van Hoves Bearbeitung der Marieluise-Fleißer-Stücke „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Pioniere in Ingolstadt“ unter dem Obertitel „Ingolstadt“ ist die vielleicht am meisten erwartete Premiere im Bereich des Schauspielprogrammes. Brütende Hitze, Stillstand und Ratlosigkeit liegen über einer katholischen Kleinstadt in Fleißers zeitkritischen Stücken. Man mag darin auch eine Parabel auf Salzburg lesen – wahrscheinlich aber mehr noch auf den Zustand der Welt im Sommer 2022. Gleichgültig lassen, so viel ist sicher, wird dieses Stück das Publikum nicht.

Szenenbild aus „Verrückt nach Trost“
SF/Armin Smailovic
„Wie ist man richtig am Leben?“ Die Schauspielerin Ursina Lardi gemeinsam mit Devid Striesow in „Verrückt nach Trost“.

Bestbesetzung gibt es im Schauspielbereich auch bei der Uraufführung von Thorsten Lensings Stück „Verrückt nach Trost“ mit Sebastian Blomberg, Devid Striesow, Ursina Lardi und Andre Jung. Die Kinder Charlotte und Felix spielen darinnen am Strand ihre toten Eltern, ein Ritual, das die Geschwister seit Jahren prägen. „Es geht weniger um: Wie lebt man richtig, es ist kein moralisches Stück, es geht eher um: Wie ist man richtig am Leben, also wirklich lebendig? Darum ringen die Figuren“, meinte die Schauspielerin Lardi zuletzt in einem großen Interview in den „Salzburger Nachrichten“ dazu.

Ein Jedermann im zweiten Jahr der Liebe

„Zu Haus und in dem Kriege herrscht der Mann, und in der Fremde weiß er sich zu helfen“, heißt es wiederum zeitbezogen und mythologisch zugleich in Ewelina Marciniaks Umsetzung des Iphigenie-Mythos. Euripides, Jean Racine und Johann Wolfgang von Goethe stoßen in dieser Bearbeitung zusammen. Dass Frauenfiguren in der Literatur genug gelitten haben, das hat Marciniak schon 2021 in der Ausdeutung des Jeanne-d’Arc-Stoffes deutlich gemacht. Das Potenzial unter den tradierten Stoffen, das ist auch in „Iphigenia“ das Interesse der polnischen Regisseurin.

Jedermann-Team auf dem Dach der Felsenreitschule
heid/ORF.at
Welttheater, Weltgericht, Dauerbrenner: Der „Jedermann“ ist bei der Besetzung deutlich aufgefrischt – und heuer muss Lars Eidinger zur Frisurenfrage Stellung nehmen

Und wenn es um die Frage des Potenzials geht, dann ist der „Jedermann“ im Jahr zwei des Liebespaares von Jedermann Lars Eidinger und Buhlschaft Verena Altenberger immerhin auch von der Versuchung geprägt, diesem Stück so etwas wie eine neue Deutbarkeit abzuringen. Hat Eidinger den „Jedermann“ sehr als Drama der Innerlichkeit angelegt, so wird Altenberger auf und neben der Bühne nicht müde, die alten Rollenklischees überwinden zu wollen. Im Vorjahr hat dieser „Jedermann“ ganz neue Interessentinnen und Interessenten angezogen, ein Umstand, den sich die Salzburger Festspiele ohnedies mehr auf die Fahnen schreiben wollen.