Szenenbild im Wasser in Ingolstadt
SF/Matthias Horn
„Ingolstadt“

Die Antwort auf den „Jedermann“

Wenn beim Katholizismus in Salzburg der „Jedermann“ Einkehr und Läuterung als Perspektive vorstellt, dann gibt es heuer beim Theater auch ein Antwortangebot auf diese Sicht. Sie heißt „Ingolstadt“. In Ingolstadt ist man zu Ingolstadt verdammt. Und bei der Ingolstädterin Marieluise Fleißer heißt das: Der Katholizismus ringt alle nieder. Starregisseur Ivo van Hove bearbeitet gleich zwei Fleißer-Stücke und gestaltet auf der Perner Insel einen Abend, der alle bis zur Erschöpfung in ein Wasserbad taucht.

Das Theaterwerk von Fleißer ist so hochgeschätzt wie selten gespielt. Ohne Fleißer im Rücken, bekannte Franz-Xaver Kroetz, wäre sein Durchbruch in den 1970ern schwierig gewesen. Legendär Fleißer als Vorbild für Rainer Werner Faßbinder, der 1969 seine „Katzlmacher“ der Autorin widmete und ihren Klassiker aus den 1920er Jahren, „Pioniere in Ingolstadt“, zum überzeugenden, weil gerade auch von den Charakterbesetzungen stimmigen Film machte.

Schonungslos zeigt Fleißer, wie sich gerade Erziehungs- und Normierungsstrukturen in ihre Charaktere, nicht zuletzt ihre Sprache und die von den Menschen angewandte Logik eingraben. Wenig Wunder, dass Elfriede Jelinek Fleißer zur wichtigsten Dramatikerin des 20. Jahrhunderts erklärt. Bei Fleißer ist nüchtern vorgeprägt, was Jelinek auf die Spitze treibt. Den ebenfalls vom Katholizismus geprägten Flamen van Hove fasziniert an Fleißer, wie er sagte, die Bestimmung der Charaktere durch das soziale Umfeld.
Nichts sei bei Fleißer Psychologie – und auch deshalb habe er den Auftrag angenommen, gemeinsam mit dem Burgtheater und den Schauspielern der Burg dieses Werk in Angriff zu nehmen, weil es „nicht vom Ende her gedacht“ sei.

Lilith Hässle als Berta
SF / Matthias Horn
Lilith Häßle als Berta. „Was hat gefehlt?“, fragt ihr Liebhaber zum Ende. „Liebe“, sagt sie.

Alle belauern sich

Alle belauern sich bei Fleißer – und alle sind in Ingolstadt gefangen in einer Welt, in der eine Religion die Werte bis ins Letzte in die Menschen eingebrannt hat und damit auch in die Denkstruktur, ja die Bedeutung der Sprachanwendung vorgibt. Eigene Entscheidungsmacht gibt es in Ingolstadt nicht, weil man sie schlicht nicht kennt.

Van Hove verschmilzt mit seinem Team die zwei Ingolstadt-Dramen, „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Pioniere in Ingolstadt“ (beide aus den 1920er Jahren), zu einem, das er – vielleicht auch vermarktungstechnisch klug – nur „Ingolstadt“ nennt. Man ist neugierig – und erinnert sich, dass van Hove ja gerade im Feld der Bearbeitungen ein Meister ist.

Eine Verdoppelung, die wenig bringt

Nun mag man einwenden, dass bei einer wegen des Coronavirus um eine halbe Woche verschobenen Premiere samt vielen Umbesetzungen bis zur letzten Minute nicht alles in ultimativer Perfektion sitzen muss. Doch das Problem liegt an diesem Abend woanders: Die Verdoppelung der Stücke, und damit der breite Aufmarsch von Personal, bringt weder dem Stück noch der Botschaft etwas. Van Hove etabliert von Beginn an eine Szenerie, die Peter Bogdanovichs „Last Picture Show“ entnommen sein könnte: Es ist ein bisschen Zirkus, ein bisschen Nowhere-Land und letztlich eine Welt, in der es viele Sehnsüchte gibt – aber wenig Ausbruch aus der Enge. Und noch weniger Antworten abseits von Schablonen.

Das ist der Kern der Konfrontationen, die dieses Stück prägen, etwa die zwischen der schwanger gewordenen Olga (Marie-Luise Stockinger) und dem Mutter-Sohn Roelle (Jan Bülow), der sich den ganzen Abend für die enge Gesellschaft als das ideale Oper anbieten wird. Ein bisschen erinnert Roelle an den Zorro (für alle, die sich noch erinnern können) aus der „Lindenstraße“, nur dass hier statt Punk der Beichtstuhl steht. Hans-Werner Geissendörfer bietet sich ja ebenso als Adept in der Fleißer-Schule an, auch wenn seine Marie-Luise Marjan alias Mutter Beimar heißt.

Dagna Litzenberger Vinet (Alma), Marie-Luise Stockinger (Olga), Ensemble
SF/Matthias Horn
„Ingolstadt“, Peter Bogdanovics „Last Picture Show“ in einem Dauerwasserbad

„Die Richtigen trifft es nie“

„Die Richtigen trifft es nie. Alle sind hinter ihren Vorschriften verschanzt“, heißt einer der treffenden Sätze des Abends. Und es gibt viele großartige Erkenntnisse und Einsichten, die man in der ersten Stunde mitnehmen kann. Etwa, wie Menschen ausbrechen wollen, aber in eben den engen Korsetten von Sprache und Scheinmoral gefangen sind. Und wo viel Scheinmoral, da viel Aggression. Aggression entlädt sich an diesem Abend einerseits stets sexuell. Andererseits in der Lust, auf der Straße in der Gruppe über andere Gericht zu halten.

Das Problem besteht leider darin, dass van Hove die Erkenntniskraft der Fleißer-Texte im Wasserbad einschläfert. Er hätte sich ein paar gute Ausstiegsframings vorgelegt (etwa das Glaubensbekenntnis zu Beginn und Pater Noster im zweiten Teil) – allein, sie werden nicht genutzt. Statt dessen strebt alles der Erschöpfung und einem hilflosen Sexual- und Gewaltakt entgegen. Man wäre mit einem eineinhalbstündigen Stück gut bedient gewesen – zumal auch deshalb, weil alle Themen schon nach einer halben Stunde gesetzt und keine dramatischen Steigerungen zu erwarten waren. Und auch weil die Charaktere, die nun einmal ein Stück dieser Bauart bevölkern, gefehlt haben.

Es war eine große Ensembleleistung – und bedenkt man die widrigen Umstände im Vorfeld, dann sind sehr viele für das Zustandekommen dieses Abends verantwortlich. Blickt man darauf, dass das Stück ab Herbst auch auf der Burg laufen wird, dann ist das für die Prominenz der Regie eine Spur zu wenig.

Ein Sittenbild

Zu guter Letzt bekommt man am Premierenabend ein Stück der heimischen Theatermisere geliefert. Im Innenhof der Perner Insel steht die Schauspielchefin der Festspiele, Bettina Hering, die auch für die Führung der Burg gehandelt wird, auf einer Stiege und lobt das Team. Im Eck sieht man den momentanen Burg-Chef Martin Kusej das Treiben (vielleicht) beobachten.

Hering denkt in vielem germanistisch, der Burg-Chef pragmatisch. Eigentlich bieten die Festspiele gerade Lösungsvorschläge für die träge Theatersituation in Wien, nämlich den Mut, neue Ansätze zu liefern. Der von der Kritik teils verschmähte „Reigen“ war ein Beispiel dafür, neue Lösungen vorzuschlagen (auch wenn es wenig mit Schnitzler zu tun hatte). Was aber fehlt, ist Theater, das diskursiv so eingreift, dass es wieder Formen von Relevanz beanspruchen kann, anstatt Redundanz vorzuführen.