Ex-US-Außenminister Henry Kissinger
AP/Richard Drew
1923–2023

Henry Kissinger ist tot

Vom bayrischen Fürth ins Zentrum der Weltpolitik: Die Laufbahn Henry Kissingers sucht ihresgleichen. Bis ins hohe Alter war Kissinger aktiv, die Politik konnte er nie ganz lassen. Für seine Anhänger war er der geniale Diplomat, seine vielen Gegner hielten ihn für einen skrupellosen Machttaktiker. Am Mittwoch verstarb Kissinger im Alter von hundert Jahren in seinem Zuhause im US-Bundesstaat Connecticut.

„Hass und Verehrung, Ablehnung und Ehrfurcht, dazwischen liegt nicht allzu viel neutrales Territorium“, schrieb Kissingers Biograf Walter Isaacson. Kissinger bleibt auch nach seinem Tod eine der umstrittensten Figuren der US-Politik. Als Außenminister wurde er zum Inbegriff eines Realpolitikers. Ihn trieben Einflusswahrung und der Ausgleich der weltweiten Machtbalance an. Als Diplomat wurde er in den 1970er Jahren auch zum Medienstar.

Das Meisterstück des Republikaners war die US-Annäherung an China. Verhasst blieb seine Rolle während des Pinochet-Putsches in Chile und bei der Bombardierung der Zivilbevölkerung in Kambodscha und Vietnam. „Gelegentlich schien er geradezu schmerzhaft amoralisch“, so Isaacson über den Friedensnobelpreisträger.

Henry Kissinger ist tot

Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger ist tot. Der Deutschamerikaner starb am Mittwoch im Alter von hundert Jahren in seinem Zuhause im US-Bundesstaat Connecticut, wie eine Sprecherin der Kommunikationsagentur Edelman, die dessen Beratungsfirma Kissinger Associates vertritt, am späten Abend (Ortszeit) bestätigte.

Kissingers Geschichte begann im mittelfränkischen Fürth: Am 27. Mai 1923 wurde er als Heinz Alfred Kissinger in eine jüdische Familie hineingeboren. Im Jahr 1938 floh die Familie in die USA. Im Holocaust wurden dreizehn Verwandte Kissingers ermordet.

Einstieg in die Politik

Der weitere Aufstieg war rasant, die fremde Sprache lernte der Teenager schnell. Nach Schule und Militärzeit, die ihn auch zurück nach Deutschland brachte, studierte Kissinger in Harvard. Seine Dissertation wurde später unter dem Titel „A World Restored: Metternich, Castlereagh and the Problems of Peace 1812 – 1822“ veröffentlicht und wurde ein Standardwerk. Später lehrte er in Harvard und knüpfte Kontakte – auch ins Weiße Haus. Er wurde Berater des New Yorker Gouverneurs Nelson Rockefeller, 1969 berief Richard Nixon ihn zum Sicherheitsberater, später zum Außenminister (1973 – 1977). In Sachen Außenpolitik war er der einflussreichste Politiker in Washington.

Henry Kissinger bei seiner Angelobung als US-Außenminister am 22. September 1973 neben Präsident Richard Nixon
AP
Zusammen zum Sieg: Kissinger bei seiner Angelobung als Außenminister mit US-Präsident Nixon

In geheimer Mission reiste Kissinger nach Peking, ebnete den Weg für einen Besuch Nixons und die Normalisierung der Beziehung. Für beide Länder war das geradezu ein revolutionärer Akt. Kissinger wurde der gefeierte Architekt der amerikanisch-chinesischen Annäherung.

Auch in Sachen Vietnam war Kissinger geheim unterwegs: Er traf sich mit dem Nordvietnamesen Le Duc Tho und bereitete Friedensgespräche vor, die 1973 zu einem Friedensvertrag führten. Den Siegeslauf der vietnamesischen Aufständischen und der Nordvietnamesen konnte das Abkommen nicht stoppen: Zwei Jahre später eroberten die Kommunisten Saigon. Kissinger hatte verloren – erhielt aber dennoch für den Vertrag den Friedensnobelpreis.

Henry Kissinger (Sicherheitsberater von US-Präsident Richard Nixon) und Le Duc Tho (Mitglied von Hanois Politbüro) bei am 13. Juni 1973 nach Friedensverhandlungen in Paris
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Erfolg 1973: Kissinger als Nixons Sicherheitsberater und Le Duc Tho

Tatsächlich gab es nicht einmal einen echten Waffenstillstand. Der Krieg ging noch zwei Jahre weiter. Le Duc Tho, der ebenfalls mit dem Nobelpreis bedacht werden sollte, nahm die Auszeichnung – im Gegensatz zu Kissinger – nicht an. Die Kritik lautete, der Abschluss des Friedensabkommens sei nichts als ein PR-Event gewesen.

Zahlreiche diplomatische Auslandsreisen

Ins Rampenlicht rückte Kissinger ebenfalls, als er 1973/74 das Ende des Jom-Kippur-Krieges im Nahen Osten aushandelte. Immer wieder reiste er zwischen Israel, Ägypten und Syrien hin und her; das Wort „Pendeldiplomatie“ wurde geboren. Kissinger gilt als einer der geistigen Väter der „Roadmap“, der Übereinkunft zwischen dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiegebiete, Jassir Arafat, und Ministerpräsident Jizchak Rabin.

V.l.: Henry Kissinger, US-Präsident Richard Nixon und der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky in Schloss Kleßheim in Salzburg 1972
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1972 war Kissinger zusammen mit Nixon bei Kreisky zu Besuch in Salzburg

Gleich mehrmals war er zu Besuch in Österreich – 1972 und 1974 wurde er zusammen mit Nixon etwa vom damaligen Kanzler Bruno Kreisky jeweils in Salzburg empfangen. Mit der Amtsübernahme von Präsident Jimmy Carter 1977 schied auch Kissinger aus der US-Regierung aus. Er unterstützte Ronald Reagan im Wahlkampf 1980 und wurde nach dessen Sieg auch wieder Berater. Seit 1982 führte Kissinger sein eigenes Beratungsunternehmen, die Kissinger Associates.

Zudem unterstützte er die Kandidatur von John McCain (2000) und stand auch weiterhin unter anderem US-Präsidenten beratend zur Seite. „Ich bin dankbar für diesen Dienst und Rat, aber am dankbarsten bin ich für seine Freundschaft“, sagte der frühere US-Präsident George W. Bush, der wie viele andere Kissingers Verdienste würdigte.

Kritischer Blick auf Trump

Sein Blick auf Präsident Donald Trump war kritisch: Kissinger hob im Gegensatz zu Trump die transatlantischen Beziehungen hervor. Diese Partnerschaft sei unerlässlich, sagte er noch im Jänner 2017. Nach Ende seiner Politkarriere veröffentlichte Kissinger seine Memoiren „Years of Upheaval“. 2014 erschien „Weltordnung“, 2022 „Staatskunst: Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert“.

Henry Kissinger mit seiner zweiten Ehefrau Nancy vor einem Staatsdinner am 25. September 2015 im Weißen Haus
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Kissinger mit seiner zweiten Frau Nancy Maginnes. Die Heirat fand 1974 statt.

Kissinger hinterließ seine Spuren in der Weltgeschichte, im Guten wie im Schlechten. Sein großer Einfluss auf die Schaltstellen der Macht zog enorme Kritik nach sich – darunter seine Rolle beim Putsch in Chile 1973. Um die Regierung des Sozialisten Salvador Allende zu destabilisieren und einen Putsch herbeizuführen, unternahm der US-Auslandsgeheimdienst CIA große Operationen. Die Verschwörergruppe war auch von der CIA mit Waffen versorgt worden. Die Vorfälle führten auch zu etlichen gerichtlichen Vorladungen. Kissinger kam ihnen nie nach. Auch für die geheime Bombardierung Kambodschas im Vietnam-Krieg wurde Kissinger von seinen Kritikern verantwortlich gemacht.

Im Juli zu Gast bei Xi Jingping

Dennoch blieb Kissinger – als Zeitzeuge und Gestalter zugleich – bis zuletzt gern gehörter Kommentator des Weltgeschehens und wurde etwa erst im Juli 2023 in Peking vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping empfangen. Ohnehin Dauergast war Kissinger im Weißen Haus: Bereits bevor er vom 1968 zum US-Präsidenten gewählten Richard Nixon als Nationaler Sicherheitsberater ins Weiße Haus geholt und wenig später Außenminister wurde, stand Kissinger Nixons Vorgänger John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson beratend zur Seite.

Er selbst bezeichnete es im Vorjahr als eine große Ehre, von jedem amtierenden US-Präsidenten seit Nixon – mit Ausnahme von Amtsinhaber Joe Biden – offiziell zu Gesprächen und Diskussionen über Außenpolitik ins Weiße Haus geladen worden zu sein. Dazu kamen weitere offizielle und etliche inoffizielle Treffen – gleich mehrmals traf sich Kissinger etwa mit Bidens Vorgängern Barack Obama und Trump.

US-Sicherheitsberater Henry Kissinger und Chinas Präsident Xi Jinping
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Im Juli sorgte Kissinger mit seinem Besuch bei Xi Jinping in Peking für Aufsehen

„Mit dem Ableben von Henry Kissinger hat Amerika eine seiner verlässlichsten und markantesten Stimmen der Außenpolitik verloren“, zeigte sich Ex-US-Präsident Bush überzeugt.

Von der Leyen: Prägte Politik des 20. Jahrhunderts

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte, die diplomatischen Fähigkeiten Kissingers hätten die Politik des 20. Jahrhunderts geprägt. „Sein Einfluss und sein Vermächtnis werden bis weit ins 21. Jahrhundert hinein nachwirken.“ Kissinger war „ein Stratege mit einem Blick für das kleinste Detail“, so EU-Ratspräsident Charles Michel, der Kissinger zudem als liebenswürdigen Menschen und brillanten Kopf würdigte.

„Er hat die US-Außenpolitik erlebt und geprägt wie kaum ein anderer“, sagte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) in einer Aussendung. „Eine große Persönlichkeit, ein kluger Denker und Diplomat hat diese Welt für immer verlassen. Ruhe in Frieden, Henry Kissinger!“

„Welt verliert besonderen Diplomaten“

„Die Welt verliert einen besonderen Diplomaten“, so der deutsche Kanzler Olaf Scholz: „Henry Kissinger prägte die amerikanische Außenpolitik wie nur wenige andere.“ Der britische Außenminister David Cameron nannte Kissinger einen „großen Staatsmann“. Selbst mit 100 Jahren sei seine Weisheit auffallend gewesen.

Israels Präsident Jizchak Herzog bezeichnete Kissinger als einen „der größten Diplomaten“. Herzog erinnerte auf X daran, dass Kissinger ein jüdischer Teenager war, „der vor den Nazis floh, und sich zu einem Giganten entwickelte, der die Weltpolitik mit seinen eigenen Händen und seinem Verstand gestaltete. Die gesamte Völkerfamilie ist bis heute gesegnet durch die Früchte der historischen Prozesse, die er anführte, darunter die Schaffung der Grundlagen für das Friedensabkommen zwischen Israel und Ägypten.“

„Lieber alter Freund des chinesischen Volks“

Auch Chinas Präsident Xi verabschiedete sich in einer am Donnerstag mit einer vom chinesischen Außenministerium übermittelten Beileidsbekundung von Kissinger und würdigte diesen als einen „lieben alten Freund des chinesischen Volkes“. Kissinger habe „einen großen Beitrag zu Frieden und Stabilität in der Region geleistet, unter anderem durch die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und China“, teilte Japans Premier Fumido Kishida mit.

Eine Beileidsbekundung kommt auch von Russlands Präsident Wladimir Putin, der Kissinger Kreml-Angaben zufolge als einen weisen und weitsichtigen Staatsmann würdigte.

Gedenkfeier in New York angekündigt

Kissinger war auch privat umtriebig: Zeit seines Lebens wurde ihm nachgesagt, eine Affäre mit Gina Lollobrigida gehabt zu haben. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt zwei erwachsene Kinder aus erster Ehe, David und Elizabeth. Der „angesehene amerikanische Gelehrte und Staatsmann“ Kissinger sei in seinem Haus im US-Bundesstaat Connecticut gestorben, teilte seine Beratungsfirma in der Nacht auf Donnerstag mit. Kissinger werde bei einer privaten Feier im Familienkreis beigesetzt, hieß es. Eine Gedenkfeier solle zu einem späteren Zeitpunkt in New York stattfinden.