Touristinnen machen ein Selfie
Reuters/Christian Hartmann
Massen in Bewegung

Touristen ersehnt, zugleich verwünscht

An immer mehr Orten wehren sich Bewohnerinnen und Bewohner gegen wachsende Besuchermassen und deren Folgen: Schwinden des Wohnraums durch Airbnb, steigende Mieten, Lärm, Müll, Zerstörung der örtlichen Identität. Doch auf die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr wollen Wirtschaft und Politik nicht verzichten.

„Venedig will mit Ampeln Zugang zum Markusplatz regeln“, „Florenz bespritzt Kirchenstiegen mit Wasser gegen Touristen“, „Amsterdam verschärft Regeln für Airbnb weiter“, „Massentourismus auf Mallorca – Umweltschützer protestieren“, „Erneut gewalttätige Aktion von Tourismusgegnern in Barcelona“: All diese Agenturmeldungen stammen aus der zweiten Hälfte des Vorjahres. Dass die UNO 2017 zum „Jahr des nachhaltigen Tourismus für Entwicklung“ erklärt hatte, dürfte wenig Nachhall erzeugt haben.

Touristen
Reuters/Stefano Rellandini
In Venedig kommen rund 600 Reisende auf einen Einwohner beziehungsweise eine Einwohnerin

Gedränge wird größer

Der „Overtourism“, also der überbordende Tourismus, ist in den vergangenen zwei, drei Jahren „kulminiert“, sagte Eva Brucker, Leiterin des Studiengangs Innovation & Management im Tourismus an der FH Salzburg, im Gespräch mit ORF.at. Das sei auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Zum einen sei es die stetig steigende Zahl der Reisenden: Im vergangenen Jahr wurden dem World Travel Monitor 2017/18 zufolge weltweit 1,15 Milliarden Auslandsreisen gezählt, ein Plus von 6,5 Prozent beziehungsweise 81 Millionen Reisen im Vergleich zu 2016.

Dubrovnik
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Dubrovnik verzeichnete im Vorjahr 538 Ankünfte von Kreuzfahrtschiffen, die über 742.000 Passagiere mit sich brachten

Maßgeblich dazu beigetragen hat der Boom der Billigflieger und vor allem der Kreuzfahrten, deren Tausende Passagiere sich für wenige Stunden durch die Zentren von Venedig, Barcelona und Dubrovnik schieben. Von diesen profitieren die Städte kaum – All-inclusive-Verpflegung gibt es schließlich zumeist an Bord des Schiffes. Verschärft wird die Bedrängung der Einheimischen noch durch Angebote wie Airbnb und andere Vermittler privater Unterkünfte, die Mietpreise in die Höhe treiben.

Überfüllung wird wahr-, aber hingenommen

Auch neun Prozent der Reisenden gaben in einer Umfrage für den World Travel Monitor an, Überfüllung habe ihnen im vergangenen Jahr ihren Urlaub verdrossen. 15 Prozent hatten zwar das Gefühl, die besuchte Destination sei überrannt, ließen sich davon aber nicht stören. Vor allem in Spanien wurden die Kapazitätsgrenzen im Vorjahr allerdings vielerorts überschritten, sagte Tourismusexpertin Brucker. Grund war vor allem, dass viele Urlauberinnen und Urlauber nach Anschlägen und politischen Unruhen die Türkei und Ägypten mieden und stattdessen am westlichen Mittelmeer Erholung suchten.

Bei Strand- und Badeurlauben, so Brucker, sei das Problem aber weniger gravierend. An den klassischen Destinationen sei schließlich alles auf Massentourismus ausgelegt, Reisende würden – anders als in Städten – keine Einheimischen verdrängen, sondern hielten sich vorwiegend in ihren Hotels und Resorts auf.

Städte reagieren nach und nach

Beim Städtetourismus seien „Besucherlenkung“, „regionale und saisonale Entzerrung“ und „langfristige Planung“ das Gebot der Stunde, sagte Brucker. Barcelona etwa arbeitet mit seiner Regionalvertretung an einem Marketingplan, wie Touristinnen und Touristen auch ins Umland gebracht werden können – helfen sollen die Bewerbung neuer Routen und der Ausbau von öffentlichen Verbindungen.

Immer mehr Städte setzen auf digitale Dienste: Dubrovnik will mit Jahresende eine App anbieten, die anzeigt, wenn die Altstadt zu voll ist, und den Weg zu anderen Sehenswürdigkeiten außerhalb der Stadtmauern weist. In Amsterdam hat sich ein ähnliches Tool bereits bewährt. Zudem dürfen hier keine Souvenirgeschäfte mehr in der Innenstadt eröffnet werden, Kreuzfahrtschiffe und Touristenbusse wurden ebenso aus dieser verbannt.

Touristen in Amsterdam
Reuters/Yves Herman
Amsterdam nimmt eine Vordenkerrolle bei der Lenkung von Besucherströmen ein

In Venedig sind laufend neue Vorschläge im Gespräch, wie man der Touristenmassen Herr werden könnte: ein elektronisches Buchungssystem für Besuche auf dem Markusplatz etwa, Zugangslimits oder Eintrittsgelder für selbigen. Riesige Kreuzfahrtschiffe sollen künftig nicht mehr direkt vor der historischen Altstadt fahren, sondern eine andere Route in der Lagune nehmen und in Marghera am Festland anlegen – das neue Terminal dort soll allerdings erst in drei oder vier Jahren fertiggestellt sein.

Island im Winter, Markusplatz in der Nacht

Ein weiteres Konzept, das schon mancherorts umgesetzt werde, sei die saisonale Entzerrung, sagte Brucker. Island etwa, das in den vergangenen Jahren einen enormen Besucheransturm verzeichnete, trachtet danach, auch im Winter Urlauberinnen und Urlauber anzuziehen, und bewirbt seine heißen Quellen und Geysire. New York City wartet mit Sonderangeboten zu Restaurant- und Broadway-Besuchen auf, die Reisende dazu bringen sollen, nicht erst in den wärmeren Monaten anzureisen. Die Rigi-Bahnen auf das Bergmassiv in der Schweiz bieten Nachlässe bei Schlechtwetter, um die Touristenströme nicht allein an Sonnentagen stemmen zu müssen. Andere Destinationen setzen auf tagesabhängige Preise – wer sich außerhalb der Stoßzeiten um Tickets bemüht, erhält diese günstiger.

All diese Ansätze spiegeln denselben schwierigen Spagat wider: Viele dieser Orte hängen vom Tourismus ab, in Venedig etwa bringt er 80 bis 90 Prozent der Wirtschaftsleistung ein. In Barcelona sind laut Umfragen vier Fünftel der Einheimischen der Meinung, die Stadt profitiere sehr von dem Besucherstrom. Andererseits verkommen die meistbesuchten Städte immer mehr zur Kulisse ohne Authentizität, die Ansässigen verlieren ihr vertrautes Umfeld. 30 bis 35 Millionen Besucherinnen und Besucher kommen pro Jahr nach Venedig, ihnen stehen lediglich rund 55.000 Einwohnerinnen und Einwohner gegenüber – das ergibt ein Verhältnis von rund 600 Reisenden auf einen Einwohner beziehungsweise eine Einwohnerin.

In Hallstatt hielten die Drohnen Einzug

Alexander Scheutz, seit Februar 2009 Bürgermeister der Salzkammergut-Gemeinde Hallstatt, kennt das Dilemma bestens: Pro Jahr kommen bis zu 800.000 Tagesgäste in den Ort mit 800 Einwohnerinnen und Einwohner. 134.500 Nächtigungen zählte man 2017, zehn Jahre zuvor war es lediglich die Hälfte. Entschieden dazu beigetragen hat, dass Hallstatts Zentrum in der südchinesischen Provinz Guangdong detailgetrau nachgebaut wurde – zur Eröffnung im Jahr 2012 reiste Scheutz persönlich an. Die Besucherzahlen, hauptsächlich aus dem asiatischen Raum, stiegen in den folgenden Jahren stetig an.

Ortsansicht von Hallstatt
ORF.at/Roland Winkler
Das oberösterreichische Hallstatt wurde in China nachgebaut – asiatische Touristen ließen nicht lange auf sich warten

In Hallstatt seien beide Seiten der Medaille spürbar, sagte Scheutz im Gespräch mit ORF.at. Einerseits sei der boomende Tourismus ein Jobmotor, Garant für Wirtschaftswachstum – erstmals seit 14 Jahren rechne die Marktgemeinde heuer wieder mit einem ausgeglichenen Haushalt – und intakte Infrastruktur. Zwei Banken gäbe es im Ort, zudem Gasthäuser, Hotels, die ganzjährig geöffnet halten, sowie eine Höhere Technische Bundeslehranstalt.

Neues Verkehrskonzept soll entlasten

Andererseits ersticke Hallstatt im Verkehr, denn topografisch sei nur eine Straße als Zufahrt zum Ort möglich, so Scheutz. Die Folge: Stau, Lärm und verparkte Hauseinfahrten, auch wenn in den vergangenen Jahren viele zusätzliche Parkplätze geschaffen wurden. Der Bürgermeister lässt nun vom deutschen Tourismusconsulter Kohl & Partner ein Verkehrskonzept entwickeln, die Bewohnerinnen und Bewohner sollen bei der Planung eng eingebunden werden. Diese sind in der jetzigen Situation ohnehin leidgeprüft: Reisende lassen zum Filmen und Fotografieren zunehmend Drohnen im Ort und damit auch vor den Fenstern der Wohnhäuser schweben, sie betreten Privatgrundstücke und Kirchen inmitten von Gottesdiensten.

Die Grenze der Belastbarkeit scheint vielerorts erreicht, das Ringen um Lösungen steht erst am Anfang. Die nächstliegende Lösung – Preiserhöhungen – hat für Tourismusexpertin Brucker an klassischen Destinationen nicht allzu viel Potenzial. Sofern diese nicht ausreichend kommuniziert und die Gründe dafür offen dargelegt würden, ernte man nur nachhaltige Verärgerung.

Land des Glücks geht anderen Weg

Im vermeintlich glücklichsten Land der Welt, dem Königreich Bhutan, entzieht man sich solchen Kalkulationen: 250 US-Dollar, Unterkunft und Verpflegung inkludiert, kostet in der Hochsaison der Aufenthalt pro Tag – das ist rund ein Zehntel des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens pro Jahr. Bereist man den kleinen Himalaya-Staat in der Nebensaison, sind immer noch 200 Dollar täglich zu zahlen. Billigtourismus wird in einem der ärmsten Länder der Welt damit de facto unmöglich gemacht.