Frau mit Umzugsboxen verlässt das Lehman Brothers Hauptquartier in New York
AP/Louis Lanzano
10 Jahre Lehman-Pleite

Kollaps mit langem Nachhall

Am 15. September 2008 erklärte die US-Investmentbank Lehman Brothers ihre Insolvenz. Damit brach ein Tsunami über die Finanzwelt herein, die schwerste Weltwirtschaftskrise seit dem Börsencrash des Jahres 1929 folgte. Der Nachhall ist noch heute zu spüren.

Die Krise werde die Generation, die sie erlebt habe, für immer prägen, sagte Christine Lagarde, die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), dieser Tage. Die von den Steuerzahlern getragenen hohen Kosten der Misere, die Wut über die Rettung von Banken und ungestraft davongekommene Banker, die explodierende Arbeitslosigkeit und rigide staatliche Sparvorgaben seien die Ingredienzien für den jetzigen Status quo: zunehmende Globalisierungsskepsis, Anstieg des nationalistisches Denkens, Vertrauensverlust gegenüber Regierungen und anderen Institutionen.

Auslöser des damaligen Kollaps war der fragile US-Immobilienmarkt: Jahrelang hatten Hypothekenbanken schlecht besicherte Wohndarlehen vergeben. Es bildete sich eine riesige Spekulationsblase, Milliarden wurden nicht mehr zurückgezahlt, die Banken gerieten in Zahlungsschwierigkeiten und einige brachen zusammen. Der Kollaps markierte den Höhepunkt einer Krise, die sich zwar abgezeichnet hatte, deren Ausmaß aber die wenigsten erahnt hatten.

Verlassene Häuser in Florida
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Schon ab 2007 konnten immer mehr Hausbesitzer ihre Darlehen wegen steigender Zinsen nicht mehr abzahlen. Die Hypothekenbanken bündelten die faulen Kredite aber weiter zu Wertpapieren und verschacherten sie als Geldanlage. Doch Investoren, die auf weiter steil steigende Immobilienpreise gesetzt hatten, zogen sich zurück.
Lehman Brothers Hauptquartier in New York
Reuters/Brendan McDermid
Die Immobilienpreise gerieten ins Wanken, Kreditfirmen gingen reihum pleite. Auch Lehman Brothers, die viertgrößte Investmentbank des Landes, verlor bis Mitte 2008 binnen weniger Monate sieben Milliarden Dollar. Der machtverliebte Bankchef Richard Fuld suchte verzweifelt einen Käufer – und hoffte auf Hilfe der Regierung.
Fannie Mae Hauptquartier
Reuters/Jason Reed
Das Weiße Haus war zuvor schon dem kleineren Konkurrenten Bear Stearns beigesprungen und hatte im März mit einem Kredit von 29 Milliarden Dollar für dessen Übernahme durch JPMorgan Chase gesorgt. Und es hatte Anfang September die Hypothekengiganten Fannie Mae und Freddie Mac übernommen und unter Zwangsverwaltung gestellt.
Mitarbeiter der Lehman Brothers im Büro
Reuters/Kevin Coombs
Doch Lehman war derart angeschlagen und hatte so wenige Sicherheiten, dass die Regierung von Präsident George W. Bush nicht mehr einspringen wollte. Ohne Aussicht auf staatliche Hilfe lehnten sowohl das britische Geldhaus Barclays als auch die Bank of America eine Übernahme ab. Gespräche mit der staatlichen Korea Development Bank waren zuvor gescheitert.
Börsenmakler in London
Reuters/Suzanne Plunkett
158 Jahre nach seiner Gründung meldete Lehman am Montag, dem 15. September 2008, Insolvenz an, zusammengebrochen unter einer Schuldenlast von 630 Milliarden. Der Grundsatz „too big to fail“ wurde kurzfristig über Bord geworfen – tags darauf bewahrte die US-Regierung den Versicherungsriesen AIG mit Milliardenspritzen vor der Pleite.
Börsendisplay in Toronto
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Die Kurse an den Weltbörsen rasselten in den Keller. Die Wall Street verzeichnete den stärksten Einbruch seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001, die Leitbörsen in Fernost und Europa zogen nach.
Ein Mitarbeiter der Lehman Brothers Holdings Inc. mit einer Box
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25.000 Lehman-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen verloren binnen weniger Tage ihren Job, viele davon auch große Teile ihrer Ersparnisse, weil sie zu einem substanziellen Teil in Aktien des eigenen Hauses bezahlt wurden. Bilder von Bankern, die mit ihren Kartons die Firmenzentrale in New York verließen, gingen um die Welt.
Börsenmakler in der Börse in Bombay
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Der Lehman-Kollaps zerstörte das Vertrauen der Banken untereinander, niemand wusste, welche Giftpapiere der andere noch im Keller hatte. Das Interbankengeschäft, der kurzfristige Verleih von Geld zwischen den Instituten, kam zum Erliegen. Zwei Wochen nach dem Fall der Bank war die Liquidität im globalen Finanzsystem praktisch ausgetrocknet.
Ehemaliger US-Präsident George W. Bush, Notenbankchef Ben Bernanke, Finanzminister Henry Paulson und Chef der Börsenaufsicht SEC, Christopher Cox
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Die Spitzen der US-Finanzwelt kamen in diesen Tagen bei einem Krisentreffen im Weißen Haus zusammen. Präsident George W. Bush schürte mit Notenbankchef Ben Bernanke, Finanzminister Henry Paulson und dem Chef der Börsenaufsicht SEC, Christopher Cox, ein 700 Milliarden Dollar schweres Rettungspaket für die Finanzbranche.
Herstellung von US-Banknoten
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Um Deflation und Depression wie in den 1930er Jahren zu verhindern, drehten Notenbanken weltweit den Geldhahn weiter auf denn je zuvor. Die Ausleihungen der EZB stiegen innerhalb weniger Tage von 1.450 auf rund 2.100 Mrd. Euro, jene des US-Pendants Fed gar von rund 820 auf 2.200 Mrd. Dollar.
Die Federal Reserve Bank in Washington, USA
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In einer konzertierten Aktion senkten im Oktober Notenbanken weltweit ihre Leitzinsen, darunter die Fed, die EZB, die Bank of England und die Schweizerische Nationalbank. Es folgten viele weitere Zinssenkungen, die die Leitzinsen nahe oder an die Nulllinie brachten – wo sie jahrelang, in Europa bis heute, verharrten.
Trading specialists work at the New York Stock Exchange, September 15, 2008. Wall Street had its worst day since markets reopened after the September 11 attacks on Monday as fears about the U.S. financial system’s stability surged after Lehman Brothers filed for bankruptcy and insurer AIG struggled for survival. The day followed one of Wall Street’s most agonizing weekends ever, which saw the demise of Lehman Brothers and forced Merrill Lynch to accept a takeover by Bank of America Corp. REUTERS/Chip East  (UNITED STATES) – GM1E49G0DC701
Reuters/Chip East
Das verloren gegangene Vertrauen in die Geldmärkte konnte dennoch nicht rasch wiederhergestellt werden. Die Börsen stürzten weiter ab, immer mehr Banken und Versicherungen gingen pleite oder mussten vom Staat aufgefangen werden. Die Krise hatte längst auch Europa erreicht.
Hypo Group Alpe Adria in Klagenfurt
ORF.at/Zita Klimek
In Österreich war die Constantia Privatbank das erste Opfer – sie wurde ebenso von Großbanken und Notenbank aufgefangen wie kurz darauf die Kommunalkredit. Die Kärntner Hypo Alpe-Adria stand Ende 2009 aufgrund eines ruinösen Expansionskurses vor dem Ende – es folgten die teuerste Bankenrettung der Zweiten Republik und jahrelange Aufarbeitung.
Polizistinnen mit einer kollabierten Frau in Hongkong
Reuters/Bobby Yip
„Wir haben das nicht kommen sehen“, hieß es damals von vielen Seiten. Auch kleine Anleger weltweit traf die Pleite hart. Die größte Bank Südostasiens etwa, die DBS-Bank, hatte Derivate mit einem Anteil an Lehman-Schuldtiteln unter anderem an Pensionisten und Pensionistinnen verkauft, ohne allerdings das Risiko deutlich zu machen.
Tausende Arbeitssuchende in Hefei, China
Reuters/Jianan Yu
Der Lehman-Kollaps zog schwere Fiskalverwerfungen nach sich und entwickelte sich zu einer Weltwirtschaftskrise mit rückläufigem Welthandel, schrumpfenden Bruttoinlandsprodukten, Rezession, hohen Staatsschulden und allerorts steigender Arbeitslosigkeit. So verloren etwa 20 Millionen chinesische Wanderarbeiter binnen kurzer Zeit ihren Job.
Display mit Nachrichten zu Lehman Brothers am New Yorker Times Square
Reuters/Joshua Lott
Das Finanzsystem stand wie in den 1930er Jahren vor dem Kollaps. Dank der globalen Koordination und der Intervention von Notenbanken und Regierungen konnte diesmal aber das Schlimmste verhindert werden. Zumindest der weltweite Handel und damit die Grundversorgung der Menschen mit lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen blieben intakt.
Ein Sheriff vor einem leer stehenden Haus
Reuters/Lucy Nicholson
Für die unzähligen Krisenverlierer war das ein schwacher Trost, Tausende verloren damals ihre Bleibe. Der durchschnittliche US-Amerikaner büßte aufgrund der Krise 70.000 US-Dollar (60.439 Euro) an Lebenseinkommen ein, errechnete der Internationale Währungsfonds (IWF).
New Yorker Hedgefonds-Manager Steve Eisman
APA/AFP/Hector Retamal
Auf der anderen Seite fand sich etwa der New Yorker Hedgefonds-Manager Steve Eisman wieder. Er sah früh das Desaster kommen und wettete inmitten der Boomzeit auf sinkende Preise in der Immobilienbranche – sein Gewinn belief sich auf etwa eine Milliarde Dollar. Nachgezeichnet wurde seine Geschichte im oscarprämierten Film „The Big Short“.
Aufsteigender Kurs an der New Yorker Börse
AP/Richard Drew
Wiederholen würde er eine ähnlich große Wette heute nicht, sagte er der „Financial Times“: „Zum ersten Mal in meiner beruflichen Karriere, die mittlerweile 30 Jahre währt, halte ich das Finanzsystem für sicher.“ Dieses werde nun stark reguliert und genau kontrolliert. Pessimistischer äußerte sich die IWF-Chefin: „Das System ist sicherer, aber nicht sicher genug.“