Autor Philipp Weiss
pressefotoLACKINGER/Helmut Lackinger
Philipp Weiss

Romandebüt als Mammutprojekt

Der Österreicher Philipp Weiss hat für sein Debüt alles in die Waagschale geworfen: sechs Jahre seines Lebens, einen alle Grenzen sprengenden, sich um das Ich und die Welt drehenden Plot und, mit 36, ein „erstes Resümee“. Herausgekommen ist der wohl ungewöhnlichste Roman dieses Bücherherbstes; ein Mammutprojekt als echte Schatzkiste, die vor Ideen, Wissen und Fantasie nur so funkelt.

Was für ein Roman: „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ – das sind mehr als 1.000 Seiten in fünf Bänden mit einem Bündel von polyphonen Erzählsträngen, die von Europa nach Japan führen, vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, von der Pariser Commune zur Fukushima-Katastrophe, von den Erschütterungen der Natur über die Unfälle der Technik, die Umwälzungen der Politik bis hin zu den Wirrnissen der Liebe.

Es ist ein vielschichtiger, weit verzweigter Roman über den Fortschritt, die Welt und den Störfaktor Mensch, der nicht nur seinem Lebensraum, sondern auch sich selbst grundlegend zusetzt – und ein Roman, der obendrein seitenweise Wissenschafts- und Technikgeschichte vermittelt.

Erschütterungen des Ichs und der Welt

Er habe sich, wie Weiss im ORF.at-Interview erzählt, „dem Anspruch der Romantiker verpflichtet gefühlt, nach Entgrenzung zu suchen“ und „der „Fragmentiertheit unserer Gegenwart gerecht zu werden“ – weil, so Weiss, „die Wirklichkeit heute nicht mehr als Kammerspiel fassbar und nicht in kleinen Zusammenhängen verstehbar ist“.

Illustrationen aus dem Buch „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ von Philipp Weiss
Suhrkamp Verlag (Montage)
Philipp Weiss’ fünfter Band ist ein Manga-Comic, zeichnerisch umgesetzt von der Wiener Künstlerin Raffaela Schöbitz

Das Resultat: fünf Bände von fünf verschiedenen fiktionalen Autorinnen und Autoren. Die Voraussetzung: „ein Furor und ein gewisser Wahnsinn“, wie Weiss ganz ironiefrei zugibt. Sechs Jahre hat er die Bände parallel zueinander entwickelt und dabei, während er vor allem zurückgezogen auf dem Landsitz seiner Familie lebte, ein „stark zusammengeschrumpftes“, obsessiv dem Schreiben gewidmetes Leben geführt.

Ein Wagnis auch für den Verlag

Weiss, 1982 in Wien geboren, ist kein gänzlich Unbekannter: Er hat bisher zwei Bücher beim Passagen Verlag und der Edition Atelier herausgegeben, vor allem aber als Theaterautor, als Hausautor 2013/14 am Wiener Schauspielhaus, reüssiert. 2009 trat er beim Bachmann-Preis auf, wo er den von ihm vorgetragenen Text auch verspeiste – und auf wenig Wohlwollen der Klagenfurter Preisrichter stieß. Anders jetzt bei diesem Roman: Die Jury des Jürgen-Ponto-Preises lobte das expansive erzählerische Vorhaben als „literarisches Wagnis“.

Es ist tatsächlich ein einzigartiges Projekt: nicht nur in seinem Anspruch, seiner Wissensfülle und den ganz unterschiedlichen Erzählformen – eine Enzyklopädie, eine Erzählung, eine Art Notizheft, die „Transkription“ einer Audioaufnahme und einen japanischen Comic. Beispiellos ist auch das Wagnis, das der renommierte Suhrkamp Verlag da eingegangen ist.

Liebevoll gestaltet

Hält man den Schuber mit den fünf Bänden das erste Mal in der Hand, ist man gleich einmal beeindruckt, wie liebevoll das Projekt gestaltet wurde: Die Bücher sind ganz unterschiedlich aufgemacht und enthalten unzählige Abbildungen und collageartig hineinkompilierte Texte. Obendrauf gibt es mit Band fünf einen raffiniert in Szene gesetzten, die Grenzen des Genres auslotenden Manga, gezeichnet von der Wiener Künstlerin Raffaela Schöbitz. Für bibliophile Leserinnen und Leser mag allein schon das ein Grund sein, sich dieses – mit knapp 50 Euro nicht ganz billige Buch – unbedingt zuzulegen.

 Philipp Weiss’ Debütreoman „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“
Suhrkamp Verlag
Philipp Weiss: Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen. Suhrkamp Verlag, 1.064 Seiten, 49,40 Euro.

Fünf Bände in einem

Worum es in den fünf Bänden geht, ist – es liegt in der Natur der Sache – nicht ganz so leicht zusammenzufassen. In Band eins begegnet uns Paulette, eine im 19. Jahrhundert geborene Pariserin, die gegen die Enge der Bourgeoisie aufbegehrt, die Pariser Commune erlebt und schließlich nach Japan reist. Der zweite Band erzählt in der Gegenwart vom androgynen Künstler Jona Jonas, der auf der Suche nach seiner Geliebten nach Tokio fährt und dort Zeitzeuge der Katastrophe von Fukushima wird.

Band drei, der essayistische und experimentellste, bildet die psychische und intellektuelle Krise der Klimaforscherin Chantal Blanchard ab. Band vier erzählt die Atomkatastrophe als „Transkription“ der Tonbandaufnahme eines neunjährigen Kindes, Band fünf ist wiederum eine Art Science-Fiction-Dystopie mit einer Prothesen tragenden Japanerin als Protagonistin.

Wettkampf um die Technikdomäne

Weiss hat die Geschichten dieser Bände aufs Engste miteinander verwoben, sowohl in Form eines sich durchziehenden Beziehungsgeflechts – Klimaforscherin Chantal verfolgt wie besessen die Spuren ihrer Ururgroßmutter Paulette, Jona ist wiederum der ehemalige Geliebte von Chantal – als auch in einem thematischen Netz, das über die Bände gelegt ist: Die geheime Klammer bildet das hochtechnisierte Japan, das, wie Weiss sagt, „das westliche Weltbild auf seine eigene Weise inkorporiert und überboten hat“.

Und da ist noch ein Leitmotiv: der Kontrollverlust im Inneren wie im Äußeren, vom Störfall von Fukushima bis hin zur Liebe. Weiss’ Figuren sind Suchende, sich Sehnende und Aufbrechende – jedenfalls solche, deren Welten innen wie außen erschüttert werden.

Illustrationen aus dem Buch „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ von Philipp Weiss
Suhrkamp Verlag (Montage)
Fünf Bände, fünf Handlungsstränge, die eng miteinander verwoben sind

Lachen auf der Titanic

Das titelgebende Lachen am „Weltenrand“ ist, mit Weiss gesprochen, „das Lachen derjenigen, die auf der sinkenden Titanic weitertanzen. Je düsterer die Umstände, umso heiterer und schriller scheint es zuzugehen.“ Der Gestus des Romans ist aber kein moralischer: Das Großprojekt ist eine polyphone, nach Schönheit und Poesie suchende Bestandsaufnahme der Gegenwart, die aber, wie es an einer Stelle heißt, um die „brandgefährliche Kleingeistigkeit der sogenannten Klimaskeptiker“ und „die Zerbrechlichkeit dieses riesenhaften Artifiziums Erde“ weiß.

Bleibt zu guter Letzt die Frage, warum die Jurys des Österreichischen und des Deutschen Buchpreises dieses Monumentalwerk nicht berücksichtigt haben. Hat sie etwa gar der Umfang abgeschreckt? Weiss hätte da eine Empfehlung, wie man es angehen könnte: „Man kann kreuz und quer lesen, parallel oder auch nur einen der Bände herausnehmen, mittendrin aufschlagen und sich hineinziehen lassen.“ Ein vergnügliches Unterfangen, das vorbehaltlos empfohlen werden kann.