Hauptverband der Sozialversicherungsträger
ORF.at/Christian Öser
Kassenreform

Sparpotenzial erhitzt weiter die Gemüter

Der Streit über das Sparpotenzial bei der Reform der Krankenkassen sorgt anhaltend für erhitzte Gemüter. Die SPÖ hielt am Montag eine „dreiste Lüge“ oder einen Verstoß gegen das Bundeshaushaltsrecht für möglich. Vonseiten der Chefs der Gebietskrankenkassen hagelte es Kritik.

Die Chefin der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK), Ingrid Reischl, sprach von einer „absurden“ Summe. Reischl bezweifelte, dass es die von der ÖVP-FPÖ-Regierung versprochene „Milliarde“ Euro für die Versicherten geben werde. „Das kann sich nicht ausgehen“, zeigte sie sich im Ö1-Morgenjournal überzeugt.

„Milliarde“ vs. 350 Mio. Euro bis 2026

Konkret geht es um das Versprechen der Regierung, mit der Kassenfusion bis 2023 eine Milliarde Euro einsparen zu können. Im Begutachtungsentwurf sieht man dagegen bis zu diesem Jahr nur ein Potenzial von rund 33 Mio. Euro. Bis 2026 sollen dann durch Synergien im Back-Office-Bereich und Personalreduktion in Summe 350 Mio. eingespart werden – Audio dazu in oe1.ORF.at.

Dass sich die Milliarde nicht ausgehen könne, lässt sich laut Reischl einfach vorrechnen: „Wir geben im Jahr 90 Mio. Euro für die Verwaltung aus. Wenn ich jetzt alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kündigen würde, dann würde ich 90 Mio. Euro sparen, aber es wird ja weiterhin Mitarbeiter brauchen, vor allem, wenn es um so eine riesige Fusion geht.“

„Das werden die Versicherten spüren“

Es werde den Patientinnen und Patienten eine Milliarde versprochen, gleichzeitig seien im Gesetzesentwurf mehr Belastungen für die neue Krankenversicherung enthalten. Theoretisch müsse man somit fast zwei Mrd. Euro einsparen. Reischl nannte dazu ein Beispiel: „Die Privatspitäler bekommen von der Krankenversicherung eine Pauschalzahlung. Diese Pauschalzahlung wird exorbitant erhöht. Die Privatspitäler sollen noch einmal 14,7 Mio. Euro jährlich bekommen zu den normalen Erhöhungen.“

Ingrid Reischl, Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse
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Ingrid Reischl, Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse

Der neuen Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) stünden somit, so Reischl, weniger Mittel zur Verfügung. Gleichzeitig müsse diese die Unfallbehandlung übernehmen und damit die Beitragssenkung, die den Arbeitgebern versprochen worden sei. Das Geld, das dem System entzogen wird, werde fehlen: „Das werden die Versicherten spüren.“ Wenn man Posten nicht nachbesetzt, werde man das merken, warnte Reischl. Wenn man etwa in den Außenstellen weniger Menschen hat, dann werde es dort zu längeren Wartezeiten kommen.

Zuletzt habe man auch in den Wahlarztbereich investiert, damit die Menschen nicht so lange auf ihre Wahlarztrechnungen warten müssten: „Wenn ich hier nicht mehr nachbesetzen kann, werden die Menschen länger auf ihr Geld warten.“ Auch in anderen Abteilungen drohen laut Reischl Auswirkungen: Es werde etwa länger dauern, bis das Kinderbetreuungsgeld kommt. Auch auf das Krankengeld würden die Menschen länger warten müssen, sagte sie.

Steirische GKK: „Enteignung der Arbeitnehmer“

Für den Obmann der Steiermärkischen GKK, Josef Harb, ist der von der Regierung vorgelegte Entwurf „demokratiepolitisch höchst bedenklich“ und gehe in Richtung des Bestimmens weniger Arbeitgebervertreter und -innen über viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.

„Das ist nichts anderes als eine Verstaatlichung des Gesundheitssystems, das ist in Wahrheit eine Enteignung der Arbeitnehmer“, so Harb. Grundsätzlich habe er nichts gegen Reformen: „Veränderungsprozesse sind nicht schlecht, aber auch nicht per se gut“, sagte er. Die Stärkung der Stellung der Arbeitgeberseite durch den Entwurf stelle sich für ihn so dar: „Die Chefs erklären den Mitarbeitern, welche Form der Gesundheitsversicherung für sie ausreichend ist.“

Es sei nichts anderes als eine Verstaatlichung des Gesundheitssystems, um eine politische Agenda umzusetzen. „Oder glaubt irgendwer, dass plötzlich Milch und Honig fließen, wenn ein paar Funktionäre wegreformiert sind? Um meinen Hintern geht es mir nicht, es sind die Vorgänge an sich, die sind demokratiepolitisch höchst bedenklich“, sagte Harb.

GKK Salzburg sieht Machtübernahme

Mit scharfen Worten kritisierte auch die Salzburger Gebietskrankenkasse den Entwurf: „Die Industrie darf sich endlich über mehr Einfluss und Kostensenkungen freuen, die privaten Krankenversicherungen reiben sich schon die Hände“, heißt es in einer Aussendung der GKK Salzburg. Der Regierung sei es nie darum gegangen, „ein eigentlich funktionierendes System zu verbessern und weiterzuentwickeln“.

Letztlich gehe es „um die Übernahme der Macht, damit die Regierungsparteien endlich in ihrem Sinne und im Sinne ihrer Unterstützer Handlungsfreiheit haben“, so des Salzburger Kassenobmann Andreas Huss. Künftig treffe die Wirtschaft die Entscheidungen, wie das Geld der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingesetzt werde. „Dass dieser Eingriff in die Selbstverwaltung verfassungsrechtlich nicht halten wird, darüber sind Verfassungsrechtler weitgehend einig“, heißt es in der Stellungnahme.

Sorgen macht sich die GKK Salzburg auch um lokale Vertragspartner, weil Aufträge nicht mehr an Ort und Stelle vergeben werden könnten. „Gelder der Salzburger in Millionenhöhe fließen aus dem Bundesland ab, und Großkonzerne bringen sich als neue Zulieferer bereits in Stellung.“ In Salzburg geht es laut GKK um rund 30 Mio. Euro an direkten Ausgaben an lokale Vertragspartner. „Mittelfristig wird diese Reform die Salzburger Wirtschaft mit voller Wucht treffen.“

Geldabfluss befürchtet

Auch der Obmann der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse, Albert Maringer, befürchtet nach der ersten Durchsicht des Begutachtungsentwurfs negative Auswirkungen: „Entmündigung und Enteignung ist schon der richtige Ausdruck“, bekräftigte er seine bisherige Kritik. Dass das Geld der Oberösterreicher im Land bleibe, bezweifelte Maringer: „Das steht so nicht drinnen.“

Zur Diskrepanz zwischen den im Begutachtungsentwurf angeführten Einsparungssummen meinte er nur: „Wir (die OÖGKK, Anm.) haben ein Leistungsvolumen von 2,3 Mrd. Euro und geben 150.000 Euro für die laufende Selbstverwaltung aus“, bei Letzterer könne man also nicht viel sparen. „Und dann wird erzählt, es gibt eine Funktionärsmilliarde, die nun zu einer Versichertenmilliarde wird.“

Darabos ortet mutwillige Systemzerstörung

Auch im Burgenland regte sich Kritik: „Ein gut funktionierendes System wird mutwillig zerstört“, kritisierte Gesundheits- und Soziallandesrat Norbert Darabos (SPÖ) in einer schriftlichen Stellungnahme. Mit den sozialdemokratischen Gesundheitslandesräten sei seitens der Bundesregierung nicht geredet worden.

„Die sogenannte Sozialversicherungsreform bringt vor allem einen Gewinner: die Wirtschaft. Im Gegenzug bedeuten die Maßnahmen der Regierung eine klare Schwächung der Arbeitnehmer und gehen zulasten der Versicherten“, kritisierte Darabos. „Wie die Regierung Kurz eine Milliarde Euro sparen will, ohne bei den Leistungen der Patienten zu kürzen“, sei schleierhaft. Es drohten Selbstbehalte und eine Privatisierung des Gesundheitssystems.

„Vorsichtiger Optimismus“ in Tirol

Auch in Vorarlberg gibt es Unsicherheit über die Gebietskrankenkassen-Gelder – mehr dazu in vorarlberg.ORF.at. Im Nachbarbundesland Tirol sieht man aufseiten des Landes die Reform positiver: Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg (ÖVP) zeigte sich „vorsichtig optimistisch“, wie er meinte. „Wesentliche Positionen“ seien aber noch nicht umgesetzt, so Tilg.

Die Beitragseinnahmen der Tiroler Arbeitnehmer und Arbeitgeber würden in Tirol bleiben, das sei ein „wesentlicher Verhandlungserfolg der ÖVP-Länder“, nannte Tilg einen Grund für seinen Optimismus. Als Beispiele für noch nicht umgesetzte Positionen nannte der Landesrat die Vorgangsweise bei der operativen Bestellung des Landesstellenleiters und die Aufteilung der finanziellen Mittel aus dem Innovationsfonds auf die jeweiligen Landesstellen der ÖGK.

„Sinnvolle Zentralisierung findet nicht statt“

Für die NÖGKK bedeutet die Reform den „Verlust der Budget-, Personal- und Vertragshoheit“, sagte Generaldirektor Jan Pazourek. Bei den Landesstellen würden kaum relevante Kompetenzen bleiben. „Für Versicherte drohen eine Reihe von Verschlechterungen“, warnte Pazourek. „Wir sind vom Entwurf sehr enttäuscht“, sagte der Generaldirektor.

Er zeigte sich „geschockt“ über das Ausmaß, mit dem das Aufgabenportfolio der Landesstellen „ausgeräumt“ werden solle. „Sinnvolle Zentralisierung findet nicht statt“, meinte Pazourek. Der Dachverband werde geschwächt. „Es droht ein Auseinanderklaffen von drei unterschiedlichen Krankenversicherungssystemen“, warnte er.

Kärntner GKK befürchtet finanzielle Einbußen

Aus Sicht der Kärntner Gebietskrankenkasse könnte die Reform massive finanzielle Einbußen mit sich bringen. GKK-Direktor Johann Lintner erklärte, dass vor allem der Wegfall der Ausgleichszahlungen für das südlichste Bundesland ohne Kompensation sehr schmerzhaft wäre. Es sei geplant, dass die Beitragseinnahmen im jeweiligen Bundesland bleiben, diese würden aber nur etwa 70 Prozent des Budgets ausmachen.

„Wir haben den zweithöchsten Anteil aller Bundesländer an Pensionisten und den höchsten Anteil an Ausgleichszulagenbeziehern.“ Diese strukturellen Unterschiede, welche die Kasse nicht ändern könne, seien bisher durch den Ausgleichsfonds abgefedert worden. Derzeit gebe es einen „Topf“ für Strukturmaßnahmen, aus dem Kärnten 84 Mio. Euro erhalte. Nach den Plänen der Regierung müsste man künftig ein Viertel bis 30 Prozent des Budgets mit der ÖGK verhandeln, und das womöglich jedes Jahr aufs Neue. Lintner: „Das könnte natürlich Auswirkungen auf die Versicherten haben.“

SPÖ: Regierung lügt oder verletzt Haushaltsrecht

Die unterschiedlichen Angaben von Begutachtungsentwurf und Regierung zu erwarteten Einsparungen riefen auch die SPÖ auf den Plan. Entweder es werde „dreist“ gelogen oder gegen das Bundeshaushaltsrecht verstoßen, so Budgetsprecher Jan Krainer in einer schriftlichen Stellungnahme. Krainer verwies auf die entsprechenden Bestimmungen im Bundeshaushaltsrecht. Für Entwürfe von Rechtsvorschriften seien auch die finanziellen Auswirkungen auf die Haushalte der Sozialversicherungsträger darzustellen, wenn diese davon betroffen sind, heiß es dort.

Sozialministerium: Nur Zahlen des Bundes

Im Sozialministerium erklärte man die Differenz am Wochenende damit, dass man im Begutachtungsverfahren nur Zahlen des Bundes angeben könne. Für die Selbstverwaltung könne man keine Angaben machen. Auch die Klubchefs der Regierungsparteien ÖVP und FPÖ argumentierten auf diese Weise.