Ein Schüler beantwortet auf einem Zettel Fragen
ORF.at/Romana Beer
Interview

„Den Hass bekommen Kinder mit“

Geschichts- und Politikdidaktiker Philipp Mittnik über Ängste von Lehrerinnen und Lehrern, wenn es um politische Bildung geht, den „ausgeprägten Gerechtigkeitssinn“ von Kindern und „den Hass, der in unserer Gesellschaft wieder so vorherrschend ist“.

ORF.at: Politische Bildung ist ja laut Lehrplan der Volksschule Teil des Sachunterrichts. Wie sehr sind Inhalte der politischen Bildung im Lehrplan verankert?

Philipp Mittnik: Man hört oft, der Lehrplan müsse zeitgemäß gemacht werden. Das ist völliger Unsinn – der Sachunterrichtslehrplan ist sehr gut. Es gibt darin viele Anknüpfungspunkte zu Demokratie, Gleichbehandlung und Gesprächskultur. Der Lehrplan ist aber ein ganz schwaches Lenkungsinstrument für Lehrerinnen und Lehrer. Das viel stärkere Lenkungsinstrument sind die Schulbücher, und die geben in diesem Bereich wenig her. Beim Thema Zweiter Weltkrieg und Nationalsozialismus steht zum Beispiel in einem Schulbuch nur etwas über „die dunkle Zeit“. Dass es eine Mitverantwortung und eine historische Verantwortung gibt, wird völlig ausgespart.

Man muss bestehende Bilder auch verwerfen können, wenn es nötig ist. Das betrifft auch den aktuellen politischen Diskurs. In Diskussionen, gerade auf Facebook, kommt man mit Fakten und Empathie ja oft gar nicht mehr an. Hier früh genug anzusetzen halte ich für sehr wichtig. Gerade im frühen Kindesalter gibt es einen ganz ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, da geht es ganz viel um Fairness und Zusammenhalten.

Philipp Mittnik
Philipp Mittnik
Philipp Mittnik ist Geschichts- und Politikdidaktiker und leitet das Zentrum für Politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Wien

ORF.at: Ich habe mich vor unserem Gespräch bei Kindern aus verschiedenen Volksschulen erkundigt, was sie im Sachunterricht machen. Die Antworten waren meist Themen wie die Jahreszeiten, Bräuche und die Namenspatronen der Bundesländer. Kann es sein, dass die Diskrepanz zwischen Lehrplan und Unterricht sehr groß ist?

Mittnik: Ja. Es gibt im Sachunterricht Richtlinien, die ganz klar in Richtung kritischer Zugang zur Geschichte gehen. Aber nur die wenigsten dürften so unterrichten. Wenn wir bei Fortbildungen diskutieren, was möglich wäre und wie der Lehrplan zu lesen ist, ist die erste Antwort immer: Das steht aber nicht im Buch drinnen. Es gibt eine ganz enge Bindung zu den Schulbüchern, aber nicht zum Lehrplan, der ganz viel hergeben würde. Man muss dazusagen, dass der Sachunterrichtslehrplan wahnsinnig umfangreich ist. Das ist auch ein Problem, weil viele Lehrerinnen und Lehrer sich dann nur ein paar Versatzstücke herausnehmen. Eine junge Kollegin macht gerade ein Demokratieprojekt an ihrer Schule, aus tieferem inneren Antrieb. Das würden die wenigsten tun.

ORF.at: Woher kommt diese enge Bindung zum Lehrbuch?

Mittnik: Einerseits ist es Bequemlichkeit, andererseits wird die Wichtigkeit des Sachunterrichts von vielen Kolleginnen und Kollegen nicht erkannt. Sie werden dazu auch nicht allzu gut ausgebildet. Und es geht auch um Sicherheit. Ganz viele haben große Angst, etwas falsch zu machen. Wenn man fragt, warum wird nicht mehr politische Bildung unterrichtet, sind die Antworten, „Ich habe Angst, meine Schüler zu manipulieren“, „Ich habe Angst vor der Kritik der Eltern“ – lauter Ängste. Wenn es einen Berufsstand in Österreich gibt, der keine allzu große Angst vor Jobverlust haben müsste, ist es der der Volksschullehrerin. Man soll natürlich niemanden vor den Kopf stoßen, aber man könnte auch einmal mutigere Themen aufgreifen. Wobei Demokratieerziehung ja nicht einmal mutig ist. Das sollte Basis sein.

ORF.at: Wenn Sie sich vom Bildungsministerium etwas in Bezug auf politische Bildung in der Volksschule wünschen könnten, was wäre das?

Mittnik: Eine Forderung, die viele vertreten, ist die Einführung eines eigenen Faches wie Gesellschaftskunde zusätzlich zum Sachunterricht. Das wird nicht passieren, da braucht man sich nichts vormachen. Was ich mir wünsche, ist, dass gesellschaftliches Lernen und politische Bildung durch ministerielle Erlässe seinen Weg in die Schulbücher findet. Das ist nicht besonders aufregend und modern, aber ich glaube, das ist das einzig Realistische.

ORF.at: Das Zentrum für Politische Bildung hat eine Materialiensammlung zu politischer Bildung in der Volksschule herausgegeben. Wird dieses Angebot an Schulen genutzt?

Mittnik: Wir hoffen, dass die Materialien im Unterricht verwendet werden. Hintergrund der Publikation war, dass wir gesehen haben, dass es in der politischen Bildung einen großen Bedarf und ganz wenig Angebot gibt. Es gibt hauptsächlich Unterrichtsmaterialien im staatsbürgerlichen Sinn: Was ist das Parlament, wie kommt es zu einem Gesetz. Das ist für ein Kind völlig uninteressant. Wir haben versucht, Beispiele aus der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu basteln.

In der Publikation gibt es zu jedem Beispiel eine Informationsseite für Lehrerinnen und Lehrer und kopierfähige Vorlagen. Weil wir aus verschiedenen Studien wissen, dass Lehrerinnen und Lehrer große Zweifel haben, politische Bildung zu unterrichten, haben wir keine klassischen politischen Themen gewählt, sondern Themen wie Tierschutz, Ökologie und Armut.

ORF.at: Brisante Themen wurden also ausgelassen?

Mittnik: Zentral für das Wesen der politischen Bildung ist, dass man Interessenkonflikte präsentiert. Wenn Kinder früh lernen, unterschiedliche Interessen gegenüberzustellen und Dinge abzuwägen, dann können sie das später auch bei sehr viel komplizierteren Themen. Wir wollen nicht belastende, schwere Themen in die Volksschule bringen. Was wir aber schon wollen, ist, dass Schülerinnen und Schüler sehen, dass es immer unterschiedliche Standpunkte gibt und dass es einen Grund gibt, warum diese Standpunkte vertreten werden.

Heute würde ich wahrscheinlich auch das sogenannte Flüchtlingsthema in die Broschüre aufnehmen. Wenn wir mit dem Thema Weltwirtschaftsforum kommen, ist das zwar spannend, aber damit fängt kein Neunjähriger etwas an. Aber den Hass, der in unserer Gesellschaft wieder so vorherrschend ist, bekommen Kinder mit. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen.

ORF.at: Kann man das Thema Flucht im Unterricht behandeln, ohne dass Kinder mit Fluchthintergrund das Gefühl bekommen, da wird jetzt von den anderen Kindern und der Lehrerin über und nicht mit uns gesprochen?

Mittnik: Das ist tatsächlich ein schwieriges Thema. Ich glaube, was man nicht tun sollte, ist, die Kinder aufzufordern, von ihrer Fluchtgeschichte zu erzählen. Das kann sehr schnell völlig aus dem Ruder laufen. Wir wissen ja von vielen Geschichten, wie diese Menschen zu uns gekommen sind. Es gibt ganz viele Volksschullehrerinnen, die sagen, Flüchtlingskinder sind oft eineinhalb Jahre ruhig in einer Klasse gesessen, und plötzlich fangen sie an zu erzählen. Das heißt, wenn das Bedürfnis kommt, fangen diese Kinder zu reden kann.

Ich glaube nicht, dass man ein Kind in den Fokus stellen sollte, und zwar weil man es persönlich überfordern würde. Was man, glaube ich, schon tun kann, ist, über Ängste zu sprechen, über diese sogenannten besorgten Bürger, die glauben, über andere Menschen richten zu können. Und ich glaube, dass das sehr wohl Kindern in dem Alter insbesondere für die Stärkung des Selbstbewusstseins helfen würde. Ich würde nicht auf einen psychologischen Prozess eingehen. Dafür sind Lehrer nicht ausgebildet. Was wir aber schon tun können, ist Empathie erzeugen. Und das ist auch das Ziel der politischen Bildung in der Volksschule. Schülerinnen und Schüler sollen mitfühlend gegenüber Themen agieren.

Wir sehen das bei Themen, die mit Tieren zu tun haben: Wenn da ein kleines Hunderl ist, gehen alle Kinder hin und sagen, das ist aber süß. Wenn ein Bub, der in totaler Armut lebt, in einer dunklen Wohnung sitzt, weil die Familie kein Geld für Strom hat, dann weiß man das nicht, aber ich glaube, dass auch das Empathie erzeugt. Und ich glaube, dass es völlig unerheblich ist, ob man das Flüchtlingskind hernimmt oder das arme Kind einer alleinerziehenden Mutter aus Wien-Favoriten. Die haben beide die gleichen Ängste, und ich glaube, dass diese Ängste aufgegriffen werden müssen und dass wir im Sachunterricht nicht nur über den Igel und den Wald sprechen sollten. Die Demokratieerziehung muss bei den Acht- bis Zehnjährigen beginnen, davon bin ich überzeugt.

ORF.at: Sie haben einen Artikel publiziert, der trägt den Titel „Politische Bildung in der Volksschule – Sind die Kinder denn nicht noch viel zu jung?“. Hören Sie diese Frage tatsächlich oft von Lehrerinnen und Lehrern?

Mittnik: Ganz massiv. Das kommt immer wieder.

ORF.at: Was entgegnen Sie?

Mittnik: Volksschulkinder sind nicht zu jung, um nachdenken zu können. Sie bringen ihnen ja auch bei, dass man die Umwelt nicht verschmutzt. Darüber würde eine Volksschullehrerin nie nachdenken. Das Lernen, dass man keine Papierln in die Natur schmeißt, ist noch keine politische Bildung. Politische Bildung ist, wenn man zum Beispiel auch darüber spricht, wie viele Mistkübel in Städten aufgestellt sind und dass diese Geld kosten. Dass die Kinder verstehen, dass die Stadt investieren muss, wenn wir wollen, dass die Stadt sauber ist, und dass dieses Geld dann nicht für andere Projekte verwendet werden kann. Erst wenn man politische Hintergedanken hineinbringt, reden wir von politischer Bildung.

Die Vorstellung, mit Kindern nicht über politische Themen zu sprechen, ist absurd. Trotzdem ist vielen nicht bewusst, dass man so früh beginnen sollte. Politische Bildung führt in Österreich ein Schattendasein, man könnte auch sagen, sie ist in einem erbärmlichen Zustand. Das hat ganz viel damit zu tun, wie viele Stunden in der LehrerInnenausbildung investiert werden.