Aleida und Jan Assmann bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
APA/AFP/Arne Dedert
Friedenspreis an Assmanns

Forscherpaar nimmt Europa in die Pflicht

Aleida und Jan Assmann haben heute in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegengenommen. Das Ehepaar wurde für seine Forschungen zur Erinnerungskultur von Gesellschaften – vom alten Ägypten bis zur Gegenwart – ausgezeichnet. Dass die Kulturwissenschaft für die beiden nicht an der Universitätstür endet, machten sie bei ihrer Dankesrede am Sonntag einmal mehr deutlich.

In der Kulturwissenschaft führt kaum ein Weg am Ehepaar Assmann vor. Die 71-jährige Wissenschaftlerin und ihr um neun Jahre älterer Mann haben sich weit über ihr Heimatland Deutschland hinaus einen Namen gemacht. Aleida Assmann ist emeritierte Professorin für Anglistik an der Uni Konstanz, Doktorin der Ägyptologie und renommierte Literaturwissenschaftlerin. Jan Assmann hatte fast vier Jahrzehnte den Lehrstuhl für Ägyptologie an der Universität Heidelberg inne, wo er sich auch als Kulturwissenschaftler einen Namen machte. Gemeinsam entwickelten sie die Theorie des kulturellen Gedächtnisses.

Die Asmanns, die heute in Berlin leben, gehören international zu den bekanntesten Personen der deutschsprachigen Geisteswissenschaft – gerade auch weil ihre Forschung immer wieder Anknüpfungspunkte an die Gegenwart suchte. Sie hätten ein Werk geschaffen, „das für die zeitgenössischen Debatten und im Besonderen für ein friedliches Zusammenleben auf der Welt von großer Bedeutung ist“, begründete der Stiftungsrat die Vergabe des Friedenspreises an die beiden.

Zentrale Integrationsfrage nicht ob, sondern wie

Bei der Preisverleihung am Sonntag bespielte das Ehepaar in seiner Dankesrede einmal mehr das gesellschaftspolitische Parkett. Die Wissenschaftlerin und der Wissenschaftler forderten von Europa eine globale Solidarität im Umgang mit ökonomischen und natürlichen Ressourcen – „damit es eine Zukunft nachfolgender Generationen überhaupt noch geben kann“. Europa müsse sich auch mit den Menschen solidarisieren, die durch Kriege, Not und Gewalt zur Flucht gezwungen seien.

Jan und Aleida Assmann erhalten den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels von Heinrich Riethmüller
Reuters/Ralph Orlowski

„Es kann nicht angehen, dass es eine neoliberale Freiheit für die Bewegung von Kapital, Gütern und Rohstoffen gibt, während Migranten an Grenzen festhängen und wir die Menschen, ihr Leid und ihre Zukunft vergessen“. Die zentrale Frage sei nicht, „ob wir die Integration schaffen oder nicht, sondern wie wir sie schaffen“. Das Preisgeld von 25.000 Euro wollen die Assmanns denn auch an drei Initiativen spenden, die mit geflüchteten Menschen arbeiten. Zwei davon sind in Deutschland, eine in Kenia.

Nation „kein heiliger Gral“

Das Ehepaar wies darauf hin, dass Kulturen schon immer durchlässig gewesen seien. Es sei die Aufgabe eines kulturellen wie eines nationalen Gedächtnisses, "sich wiedererkennbar zu halten. Man könne aber heute nicht mehr nahtlos „an alte Fantasien von Stolz und Größe der Nation“ anknüpfen. Das Gedächtnis sei auch ein Spiegel der Selbsterkenntnis, der Reue und Veränderung.

Die Nation sei „kein heiliger Gral“, der vor Befleckung und Entweihung zu retten sei, „sondern ein Verbund von Menschen, die sich auch an beschämende Episoden ihrer Geschichte erinnern und Verantwortung übernehmen für die ungeheuren Verbrechen, die in ihrem Namen begangen wurden“. Identität entstehe nicht durch Leugnen, Ignorieren oder Vergessen. Es brauche „ein Erinnern, das Zurechnungsfähigkeit und Verantwortung ermöglicht und einen Wandel der Werte und des nationalen Selbstbildes stützt“.

„Nicht jede Gegenstimme verdient Respekt“

Bestimmt fiel das Urteil der Assmanns im Hinblick auf die zurzeit erneut debattierten Grenzen der Meinungsfreiheit aus. In der Demokratie brauche es einen Grundkonsens wie die Werte der Verfassung und die Gewaltenteilung. „Nicht jede Gegenstimme verdient Respekt“, so das Ehepaar. Wer die Meinungsfreiheit untergraben wolle, habe keinen Respekt verdient.

„In der Demokratie kann man das Denken nicht delegieren und den Experten, Performern oder Demagogen überlassen“, stellten die beiden vor knapp 1.000 Gästen bei der feierlichen Verleihung fest. Pöbeleien wie vor einigen Wochen in Chemnitz legten die Demokratie lahm. Diese lebe nicht vom Streit, sondern vom Argument.

„Zweifache Energie“ fürs Denken

Die Laudatio hielt der Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht, ein persönlicher Freund der Assmanns. Bei dem Ehepaar sei die Leidenschaft füreinander nicht zu routinierter Partnerschaft oder Arbeitsteilung verkommen, hob er hervor. „Sie lieben sich, weil sie – auch in ihren intellektuellen Stärken und Gesten – so sehr verschieden sind, und dieses Ganz-anders-Sein ist für sie auch im Alter ein Feuer geblieben, das dem Denken zweifache Energie gibt“, sagte Gumbrecht.

Die Auszeichnung wird seit 1950 traditionell zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse vergeben. Die Assmanns sind das zweite Ehepaar, das den renommierten Kulturpreis erhält. 1970 bekamen die beiden schwedischen Friedensforscher Alva und Gunnar Myrdal die Auszeichnung.