Demonstranten in London
APA/AFP/Niklas Halle’n
Großdemo gegen „Brexit“

Hunderttausende fordern zweites Votum

Rund 670.000 Menschen haben nach Veranstalterangaben am Samstag in London gegen den „Brexit“ demonstriert. Im Zuge einer der größten Protestaktionen seit Jahren forderten sie ein zweites Referendum zum EU-Austritt. Londons Bürgermeister Sadiq Khan sprach von einem „historischen Moment“ der Demokratie.

Aufgerufen zu dem Marsch hatte die Wahlkampfgruppe „People’s Vote“, die ein zweites „Brexit“-Referendum durchsetzen will – diese setzt sich aus mehreren Gruppierungen zusammen. Die britische Bevölkerung soll ihrer Meinung nach über ein finales Abkommen abstimmen dürfen.

Weitaus mehr Teilnehmer als erwartet

Der Protestzug führte durch das Zentrum Londons bis zum Parlament. Die Veranstalter hatten vor Beginn der Großdemo rund 100.000 Menschen erwartet, die Zahl wurde aber weit übertroffen. Offizielle Behördenzahlen gab es zunächst nicht – Scotland Yard zufolge ist es nicht möglich, genaue Angaben zur Teilnehmeranzahl zu machen. Es könnte sich Medienberichten zufolge um die größte Demonstration seit 15 Jahren in der Hauptstadt handeln.

Demonstranten in London
Reuters/Simon Dawson
Hunderttausende Demonstrierende marschierten bis zum Parlament

Aus Wales, Südengland und selbst von den über 1.000 Kilometer entfernten Orkney-Inseln vor der Nordküste Schottlands kamen Menschen nach London, um ihrem Ärger über den „Brexit“ Luft zu machen. Familien mit Kindern beteiligten sich ebenso wie EU-freundliche Abgeordnete der regierenden Konservativen. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon von der Scottish National Party (SNP) verkündete via Video-Botschaft, dass Abgeordnete ihrer Partei ein weiteres Referendum im Parlament unterstützen würden.

May schließt weiteres Referendum aus

Die politisch angeschlagene Premierministerin Theresa May hatte allerdings schon zuvor klar gemacht, dass es kein zweites Referendum geben soll. Trotzdem marschierten Hunderttausende Menschen mit EU-Fahnen und Protestschildern auf die Straßen der britischen Hauptstadt – „Stoppt den Tory-‚Brexit‘“, „‚Brexit‘ ist verrückt“ oder auch „Wir wollen unser Land zurück“ war auf einigen Schildern zu lesen.

Demonstranten in London
Reuters/Simon Dawson

Beim Referendum 2016 sei der EU-Austritt als „einfachster Deal in der Geschichte“ verkauft worden, so „People’s Vote“. Inzwischen wisse man aber, welche Kosten der „Brexit“ verursache und welchen Schaden er den Arbeitnehmerrechten zufüge. Kritik wurde auch an der Abwanderung von ausländischen Ärztinnen und Ärzten, dem Pflegepersonal sowie am schwächelnden Pfund geübt.

Knappe Mehrheit stimmte für Austritt

Ein 69-jähriger Demonstrant aus dem Südwesten sagte: „Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich politisch engagiere.“ Auch Prominente aus dem Kulturbereich wie Schauspieler Andy Serkis („Der Herr der Ringe“) tauchten in der Menge auf.

„Brexit“-Demonstrationen in London

Zehntausende Demonstrantinnen und Demonstranten forderten eine zweite Volksabstimmung. Sie wollen, dass über das Austrittsabkommen abgestimmt wird.

An dem Protestzug bei schönstem Wetter nahmen auch zahlreiche Studierend teil, von denen sich viele wegen ihres Alters noch nicht an dem „Brexit“-Referendum 2016 beteiligen durften. Damals hatte eine knappe Mehrheit (52 Prozent) der Britinnen und Briten für den Austritt gestimmt. Großbritannien will Ende März 2019 die EU verlassen.

Zeitgleich mit der Großdemo in London kam es auch zu einem Protestzug der „Brexit“-Befürworter in der englischen Stadt Harrogate. Organisiert und angeführt wurde die „Leave means Leave“-Kampagne vom ehemaligen UKIP-Chef Nigel Farage.

„Brexit“-Verhandlungen in Sackgasse

Die Verhandlungen mit Brüssel stecken jedoch nach wie vor in einer Sackgasse. May steht aufgrund der stockenden Verhandlungen mit der EU auch innerpolitisch unter einem enormen Druck. Selbst Mitglieder ihrer eigenen Partei äußern beinahe täglich neue Bedenken gegen Mays Pläne.

Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich London ohne Abkommen von der EU trennt. Dies würde Folgen für alle Lebensbereiche haben und voraussichtlich zu wirtschaftlichen Einbußen führen. Viele Unternehmen treffen bereits Vorkehrungen.

Demonstranten in London
APA/AFP/Niklas Halle’n

Einer der größten Streitpunkte bei den „Brexit“-Gesprächen ist die Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland . Nach dem geplanten Ausstieg Großbritanniens aus der EU wäre die rund 500 Kilometer lange Grenze durch die irische Insel eine EU-Außengrenze. Irland will aber neue Grenzkontrollen zu Nordirland vermeiden. Sowohl London als auch Brüssel sind besorgt, dass in der fragilen Ex-Bürgerkriegsregion wieder Unruhen aufflammen könnten. Sie konnten sich aber bislang nicht auf eine praktikable Lösung einigen.

Um Zeit für eine dauerhafte Regelung zu gewinnen, brachte die EU nun die Verlängerung der geplanten Übergangsphase nach dem EU-Austritt ins Gespräch. Statt bis Ende 2020 könnte sie ein Jahr länger dauern.